Der Körper der Christen

Predigt zu 1 Kor 6,12-14.19-20 in der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Hildesheim am 25. Juli 2021 (8. Sonntag nach Trinitatis)


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Von Bärbel Husmann

Liebe Gemeinde,
der Text, um den es heute geht, ist ein Brieftext. Paulus hat ihn an die Gemeinde in Korinth geschrieben. Er hat eine besondere Geschichte mit dieser Gemeinde.

1. [Korinth]

Paulus war um das Jahr 50 von Athen aus nach Korinth gekommen, eine bunte, quirlige Hafenstadt. Florierender Handel und sehr lockere Sitten bestimmten das Leben. Die Bevölkerung war vielschichtig: Kaufleute, Handwerker, Seefahrer, Sklaven, Hafenarbeiter... Eine Vielzahl von Göttern wurde verehrt, Kulte und Religionen existierten nebeneinander. Mittendrin gab es eine jüdische Gemeinde.

Paulus lernt ein jüdisches Paar, die Zeltmacher Aquila und Priszilla, kennen. Er arbeitet in ihrem Betrieb mit und geht am Sabbat in die Synagoge. Er spricht von Jesus als dem Messias und will die Juden von seinem Glauben überzeugen. Viel Erfolg hat er damit nicht, irgendwann verändert er seine Zielgruppe und wendet sich nun auch den gottesfürchtigen Nicht-Juden von Korinth zu.

Das waren Menschen, die sich vom jüdischen Ein-Gott-Glauben und der jüdischen Ethik angezogen fühlten, aber dann doch nicht ganz übertreten mochten. Beschneidung und die genau geregelten Fest-Rituale, in deren Geschichte sie nicht hineinspringen konnten, hielten sie ab. In ihnen findet Paulus einen guten Boden für sein missionarisches Wirken. Jesus Christus ist für diese Korinther eine gute Brücke zu dem einen Gott der Juden.

Die ersten werden noch von Paulus getauft, die christliche Gemeinde wächst. Nach eineinhalb Jahren reist Paulus weiter. Aber die Nachrichten, die seine Mitarbeiter aus Korinth ihm dann schreiben, sind bald nicht mehr so erfreulich: Die Gemeinde spaltet sich in mehrere Gruppierungen. Man streitet: über Moral; über Speisevorschriften; über den richtigen Lebenswandel in einer unchristlichen Umwelt. Manche wähnen sich mit ihrem neuen Glauben über alles erhaben. Von guter Gemeinschaft kann keine Rede mehr sein.

2. [Brieftext]

Paulus schreibt:
„Ich darf alles!“ – Aber das heißt nicht, dass auch alles gut für mich ist.
„Ich darf alles!“ – Aber das bedeutet nicht, dass ich mich von irgendetwas beherrschen lasse.
„Das Essen ist für den Magen da und der Magen für das Essen!“ – Aber Gott wird sowohl dem einen als auch dem anderen ein Ende bereiten.
Denn unser Leib ist nicht für verbotene sexuelle Beziehungen da, sondern für den Herrn. Und der Herr sorgt für den Leib: Gott hat den Herrn vom Tod auferweckt. Durch seine Kraft wird er auch uns auferwecken.
Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist? Der ist in euch, Gott hat ihn euch geschenkt! Nun gehört ihr nicht mehr euch selbst. Gott hat euch freigekauft. Sorgt also dafür, dass euer Leib Gott Ehre erweist!
[BasisBibel]

3. [Erinnerungen]

Mein Leib, dein Leib – ein Tempel des Heiligen Geistes, ein Geschenk Gottes. Sehen Sie das auch so?
Ich erinnere mich an den Motorradunfall eines Mitschülers. Er verlor ein Bein und lag im Krankenhaus. Und klagte über starke Schmerzen in seinem nicht mehr vorhandenen Bein. Phantomschmerz.

Ich erinnere mich an eine Roman-Lektüre.1 Die Geschichte eines kleinen Jungen in der Nachkriegszeit, der bei einer gewalttätigen Mutter aufwächst. Als seine erste Freundin ihn küssen will und sich ihr Gesicht dem seinen nähert, zuckt er zusammen – in Erwartung des ersten Schlages.

Ich erinnere mich an meine Fahrten – von Hamburg aus – zu den Orchesterproben in Lübeck. Vorher holte ich den Trompeter ab. Er wohnte da, wo die Mieten preiswert sind, in der Pampa und in der Nähe eines Etablissements mit roten Lampen. Ich sah im Vorbeifahren die dicken Autos und die Männer, die aus ihnen ausstiegen. Und ich dachte: Niemals werde ich dieses Märchen glauben, dass Prostitution ein ganz normaler Beruf ist.

Ich erinnere mich an eine Schülerin, die ich als Beratungslehrerin betreut habe und die, wenn die Mutter Nachtschicht hatte, im Ehebett schlief oder schlafen musste. So genau konnte sie das nicht unterscheiden.

4. [Gott allein steht über den Dingen]

Mein Leib, dein Leib. Ein Geschenk Gottes, ein Tempel des Heiligen Geistes. Gott ist nicht nur für mein Seelenheil zuständig, er hat auch mit meinem Leib zu tun. Es gibt keinen Bereich meines Lebens, in dem Gott nicht ist. Du kannst nicht Privates von Öffentlichem trennen; und in dem einen Bereich gelten die Gebote und im anderen nicht. Du kannst dich auch nicht zweiteilen: in Körperliches und Seelisches. Oder in Körperliches und Geistiges. In allem, was wir sind, sind wir des Herrn.

Unser Körper hat ein Gedächtnis. Was wir selbst unserem Körper zumuten, was durch andere unserem Körper angetan wird, all das bleibt bei uns. Der alte Adam wird bei der Taufe ersäuft, sagt Luther. Ja. Die Taufe war und ist der Beginn unseres Seins als Christenmenschen. Und als ganze Menschen, mit Seele und Leib sind wir Gottes Kinder.

Es ist keine Frage des Dürfens. „Alles ist mir erlaubt“. „Ich darf alles.“ Diesen Satz der Korinther stellt Paulus nicht in Frage. Er kommt nicht mit Verboten um die Ecke. Aber er macht klar: Es ist nicht so, dass „Ich“ über den Dingen stehe. Gott steht über den Dingen. Es gibt keinen Bereich in diesem neuen Leben, der sich auskoppeln lässt. Was dient zum Guten? Was gewinnt Macht über mich? Der Leib als Tempel des Heiligen Geistes ist ein Raum des Gottesdienstes.

5. [Körpergedächtnis]

„Ich darf alles!“ – Aber das heißt nicht, dass auch alles gut für mich ist.
„Ich darf alles!“ – Aber das bedeutet nicht, dass ich mich von irgendetwas beherrschen lasse.

Die Korinther, Großstadtmenschen, das Leben in einer Hafenstadt wie Hamburg, Reiche und Arme, solche und solche – sie alle in der einen kleinen christlichen Gemeinde. Einige von ihnen sagen diesen Satz: Ich darf alles. Oder, wie Luther übersetzt: Alles ist mir erlaubt. Entscheidend ist mein Kopf. Ob ich hier und da noch was an andere Götter gebe, ist egal. Was und wann ich esse, ist egal. Mit wem ich ins Bett gehe, ist egal. Das ändert ja nichts an meinem Glauben. So mögen sie geredet haben, die christlichen Korinther. Es ist ein entkörperter Glaube, der nur den Kopf für wichtig hält. Es ist ein Selbstbild, in dem Leib und Seele getrennt sind.

Aber Paulus sagt: Nein, so ist es nicht. Du kannst das nicht trennen. Der Körper, dein Leib, das ist Teil deines Ich. Und es ist überhaupt nicht egal, was mit diesem Körper passiert. Denn deinen Leib, den hat Gott geschaffen. Dein Leib, der gehört genauso zum Bereich deines Glaubens wie dein Geist, deine Seele.

Alles ist mir erlaubt. Ich darf alles! Von Paulus folgt kein Nein. Aber es folgen doch zwei Kontrollfragen: Ist das, was ich darf, ist das auch gut für mich? Und: Ist das, was ich darf, nicht etwas, was mich beherrscht? Mache ich mir nicht etwas vor, wenn ich denke: Mit meinem Kopf habe ich das alles im Griff?Es gibt dieses Körpergedächtnis. Es ist manchmal schneller und mächtiger als alles Wissen und Verstehen und Reflektieren. Der Verstand kommt nicht hinterher. Der Phantomschmerz, die gestörte Sexualität, die Hab-Acht-Stellung geschlagener Kinder – dies alles zeigt, dass unser Kopf nicht alles ist. Der Leib hat sein eigenes Gedächtnis.

Im Grunde wissen wir das. Jeder und jede, die einmal schwer krank war, spürt ihre Körperlichkeit sehr genau. Wer im Krieg Hunger erlitten hat, weiß das. Auch eine Geburt lässt sich nicht mit dem Kopf bewerkstelligen, sondern nur mit einem gewissen Vertrauen in den eigenen Körper, der seinen eigenen Gesetzen folgt.

6. [Kontrollfragen]

Der Leib als Tempel des Heiligen Geistes. Was bedeutet das für uns heute?
Wir können das durchbuchstabieren an diesen beiden Fragen des Paulus: Was beherrscht mich? Was dient zum Guten?
Und anwenden auf die Bereiche Essen und Trinken, Sexualität, Sport. Ganz einfach also. Wir sind Geschöpfe Gottes – mit Leib und Seele. Und was den Leib betrifft, so ist er genauso ein Resonanzraum unseres Glaubens wie die Seele. Zwei Fragen reichen: Werde ich von etwas beherrscht? Und: was dient zum Guten?
Amen


Bärbel Husmann