Der Staat ist kein göttlicher Vollstreckungshelfer

Predigt zu Römer 13

© University of Pisa

Von Stephan Schaar

Friede sei mit euch von dem, der da ist und der da war und der da kommt! AMEN.

Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will. Das war einmal, liebe Gemeinde! Aber nein: Wenn es sich um den Willen der Lokomotivführergewerkschaft handelt, dann gilt das auch heute noch. Schon wieder fahren nur sehr wenige Züge, und viele Bahnreisende sind sauer auf die Streikenden.

Dabei ist es ihr gutes Recht, für ihre Belange zu streiten, mehr noch: Durch gesetzliche Vorgaben sind kleine Gewerkschaften geradezu genötigt, sich Gehör zu verschaffen, wenn sie nicht neben den jeweils größeren Interessenvertretungen in der Bedeutungslosigkeit versinken wollen.

Zwar hat man das Recht, sich zur Durchsetzung seiner Interessen zusammenzuschließen, wie man es für richtig hält; aber dann wiederum trifft man auf das Tarifeinheitsgesetz und kommt sehr bald an die Grenzen des Machbaren.

Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, so scheint es, auch im 21. Jahrhundert. Politische Ziele dürfen mit Arbeitskampfmaßnahmen ohnehin nicht verfolgt werden; dafür gibt es ja Wahlen. Ob die was ändern? - Ich bin mehr als skeptisch; aber der 26. September naht...

Man könnte, so bin ich überzeugt, jedes beliebige Politikfeld wählen und würde stets auf dieselbe Systematik stoßen: Beispielsweise steht im Grundgesetz, daß Eigentum verpflichtet; aber wer das Grundrecht auf Wohnung für alle durchzusetzen trachtet und dabei auch das - legale - Mittel einer Verstaatlichung in Betracht zieht, erscheint den politischen Gegnern und einer mächtigen Lobby als Totengräber der freiheitlichen Demokratie.

Ich halte das für Demagogie, es sei denn, man verwechselte das wirtschaftliche System des Kapitalismus mit dem politischen der Demokratie.
Kündigungsschutz - für Arbeitnehmer*innen und Mieter*innen -, Immissionsschutz, Verkehrsregeln und natürlich das Strafgesetzbuch mit seinen vielen Paragraphen: Soweit ich sehe, ist es die Aufgabe des Staates, durch Gesetzgebung und Kontrolle deren Einhaltung dafür zu sorgen, daß die Schwächeren vor den Stärkeren geschützt werden, damit sich nicht - wie in der Tierwelt - immerzu die Großen gegen die Kleinen durchsetzen.

Sie haben trotzdem noch ihre Mittel und Wege, sich Vorteile zu verschaffen, und sie zelebrieren das geradezu, und zwar unter unseren Augen - siehe etwa die Giga-Factory von Tesla -, weil sie ja “Arbeitsplätze schaffen”, auch wenn es die Schöpfung ruiniert und nicht einmal gute, nachhaltige Beschäftigung generiert wird. Das ist ja auch gar nicht die Zielsetzung von Firmenchefs; sondern ihr Auftrag lautet schlicht und brutal, den Gewinn zu maximieren - mitunter auf Teufel komm raus.

Die Kirche hat lange Zeit der Bibel nichts entnommen, das dem entgegenstünde, vielmehr wurde unter Berufung auf “Römer 13" staatliches Handeln auch dann für gottgewollt erklärt, wenn der Staat beim besten Willen nicht als göttlicher Vollstreckungshelfer verstanden werden konnte, sondern zum Werkzeug selbstgefälliger Despoten verkommen war.

Und die “Mildtätigkeit” - im Bereich individueller Verantwortlichkeit angesiedelt - ersetzte jede Forderung nach einer strukturellen Regelung mit der Zielsetzung größtmöglicher Gerechtigkeit in der Gesellschaft - was übrigens nicht bedeutet, daß alle gleich gemacht werden; und das sind wir nun mal auch nicht.

Aber gleiche Rechte und gleiche Würde haben wir alle, wie wir inzwischen gelernt haben -  mittlerweile auch als Kirchen und Christen, die etwas von der Gottebenbildlichkeit vernommen haben, die gehört und gestaunt und schließlich auch begriffen haben, daß diese Erde als ein Ort für alle Kreatur geschaffen wurde, die gelesen und verstanden haben, daß es ein Minimum an Auskommen für jeden und jede geben muß und daher ebenso vielerorts ein “zu wenig” existiert wie auch oftmals ein “zu viel”, das über jedes humane Maß hinausgeht und das wir deshalb nicht einfach hinnehmen dürfen, schon gar nicht als gottgegeben.

“Aber”, mögen Sie einwenden, “da gibt es doch so drastische Beispiele einer ganz anderen Logik als jener dieser Welt - wie zum Beispiel die Geschichte von den Arbeitern im Weinberg.”

Okay - biblisch nicht geschulte Leser*innen wie vermutlich zahlreiche Gewerkschafter*innen  sind vermutlich schwer irritiert oder auch empört, wenn sie diese provokante Erzählung hören, die nicht nur dem Leistungsprinzip widerspricht, sondern obendrein die Letzten zu Ersten macht. Das ist schon nicht mehr Lohngerechtigkeit à la Sozialdemokratie, sondern klingt nach purem Kommunismus!

Nur eben geht es hier lediglich vordergründig um den Tagelohn - der übrigens so niedrig war, daß man damit nicht mehr erwirtschaften konnte als das Überleben einer Familie für einen Tag. Es geht vielmehr darum, daß man sich Gottes Nähe und seine Güte weder verdienen kann noch verdienen muß, sondern geschenkt bekommt.

Damit sind wir bei dem Prinzip “Gnade vor Recht”, das die Heilige Schrift durchzieht und das ich als Kern der evangelischen Botschaft von der Liebe Gottes in Jesus Christus betrachte.

Das wiederum wäre grob mißverstanden, wenn man meinte, es hieße - salopp formuliert: “Schwamm drüber!” Denken wir an die beim Ehebruch ertappte Frau, die man (ohne den männlichen Part) vor Gericht zerrte, d.h. dem Spott und der Verachtung der - männlichen - Dorfgemeinschaft aussetzte, wo ihr gemäß der Überlieferung der sichere Tod drohte, herbeizuführen durch jenen Mann, dessen Rechte verletzt worden waren: ihren Ehemann. Als Jesus diese Logik der Selbstherrlichkeit in Frage stellte und statt des “Geschädigten” denjenigen den ersten Stein zu werfen aufforderte, der ohne Sünde sei - da verkrümelte sich einer nach dem anderen. Doch die fassungslose Frau, die zurückgeblieben war, wurde nicht ohne die Ermahnung weggeschickt, in Zukunft das Sündigen zu unterlassen.

Daß wir Normen haben und - als fehlbare Menschen - daran scheitern, stellt nicht die Sinnhaftigkeit dieser Orientierung in Frage. Du sollst nicht töten, heißt es in den zehn Geboten - und doch kennen und definieren wir eine Fülle von Ausnahmen: Notwehr, Nothilfe, Polizei- und Militäreinsatz, Sterbehilfe, Abtreibungen. Das alles sind Tötungen. Und jede Tötung eines Menschen ist etwas, das dem Willen Gottes widerspricht. Da führt kein Weg dran vorbei. Und doch wissen wir mitunter nicht anders zu handeln.

Wie kommen wir aus diesem Dilemma heraus? Es gibt mehrere Modelle:

Eines sagt, wir dürfen unter keinen Umständen tun, was Gottes Wort verbietet. Sonst ist es aus mit uns - es droht der ewige Tod, die Hölle.
Übrig bleiben die Guten. Die kommen in den Himmel. Diese Ideologie stellt Lohn für Regeltreue in Aussicht, hilft aber überhaupt nicht weiter, wenn man schuldig geworden ist, und überdies stabilisiert sie die herrschenden Verhältnisse. In wessen Interesse mag das wohl sein?

Ein weiteres Modell nimmt Zuflucht bei der Beichte: Wenn wir - als fehlbare Menschen - unweigerlich an den moralischen Forderungen Gottes scheitern, dieser uns aber wohlgesonnen ist, sofern wir bereuen, liegt es auf der Hand, sich dieses Instruments zu bedienen.
Übrig bleiben die Zerknirschten, die zu Umkehr und Neubeginn bereit sind. Problematisch daran ist der Abnutzungseffekt, der Übergang in eine schon beinahe schematische Handlungsweise, die fast wie ein Automatismus wirkt - und damit jede Glaubwürdigkeit einbüßt. Es droht gedankenlose  Sorglosigkeit gegenüber Gottes Willen.

Und dann gibt es noch das evangelische Verständnis von Sünde und Buße, vom Tun dessen, was das Gesetz Gottes verlangt: Nein, das ist keine Bedingung, die zu erfüllen wäre, sondern - lassen Sie es mich so sagen: Gott ist wie ein Vater, der seine Kinder liebt und ihnen - freudig - alles gibt, was sie zum Leben wirklich brauchen. Er erwartet dafür keine “Gegenleistung”; aber er wartet auf unsere Antwort, darauf, daß wir ihm dankbar sind und das auch zeigen. Eines jedoch ist er nicht gewillt zu akzeptieren: Wenn jene, die beschenkt worden sind, auf einmal so tun, als hätten sie ihr Wohlergehen einzig sich selbst zu verdanken. Die dann einander neiden und wegnehmen, was sie von Gott bekommen haben. Die deswegen zanken, streiten, sich bekriegen.

Da ist Gottes Gerechtigkeitsempfinden berührt.

Es ist bei ihm also gerade umgekehrt als bei uns: Gott läßt Gnade vor Recht gehen, damit denen Gerechtigkeit widerfährt, die von sich aus keine Rechte geltend machen können - das sind wir alle. Zugleich aber auch, damit nicht Unrecht vor Recht geht, wie das der Fall ist, wenn gnadenlos Schwächeren ihre Rechte vorenthalten werden. Wir sind - aus Gnade - um Christi willen vor Gott ins Recht gesetzt.

Jetzt sollen wir nichts anderes tun als danken und teilen, damit allen Menschen Gottes Gerechtigkeit widerfährt.

Amen.


Stephan Schaar