Aktuelles
Aus den Landeskirchen >>>
Aus den Gemeinden >>>
Aus dem Reformierten Bund >>>
Kolumne >>>
from... - die reformierte App
Newsletter
Wir auf Facebook
Magnificat anima mea Dominum
Ein Versuch mit Martin Luther, mit Johannes Calvin und mit Johann Sebastian Bach
Eine Lobrede voller Klang
Unter dem Namen „Magnificat“ har dieses biblische Lied Karriere gemacht wie kaum ein anderer Bibeltext. In der Antike gehörte er wohl zu den festen Teilen des Morgengebets, bis Benedict von Nursia ihn im 5. Jahrhundert der Vesper zuordnete. So wurde das Magnificat täglich gebetet – meist in lateinischer Sprache, auch wenn man es nördlich der Alpen immer weniger verstand und wenn die komplizierte Melodik des Gregorianischen Chorals zur Verständlichkeit der Texte wenig beitrug.
Kaum ein anderer Biblischer Psalm ist häufiger vertont worden seit Beginn der christlichen Kirchenmusik bis ins 19. Jahrhundert. – Die ersten mehrstimmigen Kompositionen erscheinen in den 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts, auch Guillaume Dufay gehört zu den frühen Magnificat-Komponisten der frügen Mehrstimmigkeit. Allein Orlando di Lasso hat über 100 Versionen des lateinischen Magnificat komponiert, Giovanni Pierluigi da Palestrina 35. – in allen Psalmtönen, auf alle erdenklichen kompositorischen Modelle. In der Reformationszeit häufen sich die deutschen Magnificat – Kompositionen von Ludwig Senfl. Während das Magnificat kirchenjahreszeitlich im Protestantischen Bereich weitgehend der Weihnachtszeit oder sogar dem Christfest selbst zugeordnet wurde, blieb es in der römisch-katholischen Kirche dem Fest der Heimsuchung Mariae - Visitatio Mariae 2.Juli – vorbehalten. J.S. Bachs erste Weihnachtsmusik in Leipzig ist die Vertonung des lateinischen Magnificat mit Hinzufügung einiger Chorsätze, die in Leipzig schon früher im Zusammenhang mit dem Magnificat aufgeführt wurden.
Von Carl Philipp Emanuel Bach gibt es ebenso ein Magnificat wie von dem jungen Mendelssohn-Bartholdy und unzähligen katholischen und protestantischen Komponisten bis hin zu dem orthodoxen Esten Arvo Pärt. Aber damit nicht genug. Auch in der Hitliste der meistgesungenen Taizé-Lieder steht das Magnificat ganz oben. Und kaum einem Sänger oder einer Sängerin wird aufgefallen sein, das der Text dieses Magnificat von Jaques Berthier nur die ersten vier Worte des biblischen Textes wieder und wieder wiederholt, bis das Magnificat von Laudate omnes gentes mit ebenso vielen Textwiederholungen abgelöst wird.
I. Leipzig, 25. Dezember 1723
Am Weihnachtstag erklingen in Leipzig wieder Pauken und Trompeten, die in der Adventszeit hatten schweigen müssen. Am 1. Weihnachtsfeiertag – am 24. Nachmittags wird lediglich die übliche Vesper gesungen, sind die musikalischen Möglichkeiten für den Director musices Johann Sebastian Bach schier unerschöpflich, auch die ungeheizte Nikolaikirche scheint dem nicht entgegenzustehen. Ein vollständiges Kantatenorchester steht zur Verfügung, also die Stadtpfeifer unter ihrem Solo-Trompeter, würde man heute sagen, Johann Gottfried Reiche, ergänzt um einige andere Musiker.
Seit dem Frühsommer 1723, genauer seit dem 22. Mai, ist Bach in Leipzig. In seinen ersten Kantaten hat er gezeigt, was er kann, welche unterschiedlichen Register er zu spielen in der Lange ist – und das nicht nur auf der Orgel, sondern vor allem mit seinem Chor und den Stadtmusikern. Der 25. Dezember ist noch einmal eine gute Gelegenheit, die vorhandenen Möglichkeiten auszuschöpfen.
Bach bedient sich dazu des Lobliedes der Maria, des Magnificat. Er vertont den lateinischen Text und fügt einzelne Chor- und Solosätze ein, die schon bei seinen Vorgängern von Johann Hermann Schein bis zu Johann Schelle und Johann Kuhnau zur Komposition des Magnificat gehört hatten. Bachs Magnificat ist Festmusik zu Weihnachten, aber zugleich ist es weit davon entfernt, sich in schönen Harmonien zu ergehen und nur das zum Besten zu geben, was die Leute hören wollen. Bach ist im höchsten Maße Exeget, Ausleger der Heiligen Schrift, ein Theologe, der die Bibel liest und der das Gehörte und Gelesene in seiner Sprache zum Klingen und zu Gehör bringt.
Magnificat annima mea Dominum
II. Magnificat – ein jüdisches Lied
Das Magnificat ist ein jüdisches Lied. Es ist die Form und die Sprache der hebräischen Psalmen, die hier durchscheint1. Meine Seele erhebe den Herrn, erinnert sehr an: Lobe den Herrn, meine Seele (Psalm 103). Diese Selbstaufforderung zum Lob angesichts der großen Taten Gottes: das ist jüdische Erinnerungskultur. Martin Luther meint, dass dieses erste Wort megalunh (magnificat) die Gott einzig angemessene Rede des Lobes sei:
Darum sagt sie (Maria) nicht: ich erhebe Gott, sondern: »meine Seele«, als wollte sie sagen: es schwebt mein Leben und alle meine Sinne in Gottes Liebe, Lob und hohen Freuden, daß ich, meiner selbst nicht mächtig, mehr erhoben werde, als mich selbst zu Gottes Lob erhebe; wie denn allen denen geschieht, die im Geist mit göttlicher Süßigkeit erfüllt werden, daß sie mehr fühlen, als sie sagen können. Denn es ist kein Menschenwerk, Gott mit Freuden loben.2
Nicht anders sagt es Johannes Calvin in seiner Auslegung des Magnificat:
Um die Gedanken Marias recht zu verstehen, müssen wir beachten, dass das zweite Satzglied in V.47 (Geist) sachlich dem ersten übergeordnet ist. Denn bevor der Wille des Menschen sich zum Lob Gottes anschickt, muss er die Freude des Geistes kennen , wie Jakobus 5,13 lehrt: „Ist jemand guten Muts. Der singe Psalmen!“3
Die vielen Parallelismen lassen ebenso auf eine hebräische Vorlage schließen wie auch das Fehlen jedweder nachträglich eingetragenen christlichen Anspielung. Deutet im Benedictus immerhin der Hinweis auf das „Kindlein“ einen Bezug aus das Kind „Johannes der Täufer“ an, – gleich ob er ursprünglich ist oder nachträglich eingefügt, so ist im Magnificat mit keiner Silbe ihres Liedes Maria, die Gottesmutter, die Königin des Himmels oder gar die Mittlerin aller Gnaden erwähnt, geschweige denn ist sie als solche erkennbar oder eigens hervorgehoben.
Wo dieses hebräisch-urchristliche Lied, seinen eigentlichen Sitz im Leben hat, ist nicht sicher auszumachen. Sachgemäß dürfte es sein, bei diesem Text von einem Psalm zu sprechen, der aus antik-jüdischem Umfeld stammend in die junge christliche Gemeinde eingewandert, und dort auch ansässig geworden ist, während er in der jüdischen Gemeinde vielleicht gar aus diesem Grund in Vergessenheit geriet.
III. Meine Seele soll den groß machen, der in Wirklichkeit groß ist.
Meine Seele, das bin ich im Hinblick auf mein innerstes: Mein Wollen, mein Gefühl und meine Ausdrucksfähigkeit. Dass im Lob Seele und Leib im Einklang sind, das versteht sich wohl von selbst, aber der Ausgangspunkt ist die Freude an Gott. Wenn die Seele der Mensch im Hinblick auf sein Fühlen und Wollen ist, dann ist der Geist der Mensch im Hinblick auf seine intellektuellen Fähigkeiten. Der synthetische Parallelismus membrorum fügt beide „Aspekte“ des Menschseins zusammen, ohne sie gänzlich miteinander zu identifizieren.
Der Psalm beginnt mit der biographischen Einordnung des Lobes Gottes. Das Lob Gottes ist Reflex auf Gottes Tun. Gottes Handeln in Befreiung und Schöpfung geht dem menschlichen Lob immer vorauf, wobei sich das Handeln Gottes gerade darin erweist, dass es anders ist als das Handeln, das man von Menschen erwarten würde. Der Mensch sieht auf die Hoheit, die Bedeutung, den Reichtum, Gott sieht auf die humilitas (tapeinwsiß), die Niedrigkeit, der erst einmal keine auch noch so verborgene Hoheit anhaftet. Niedrigkeit ist nicht „schön“ und sie ist auch nicht erstrebenwert. Wer der Niedrigkeit Hoheit abgewinnen will, der hat die wirkliche Niedrigkeit noch nicht verstanden, geschweige denn am eigenen Leibe erlebt. Schon Martin Luther und Johannes Calvin sind sich darin einig, dass es hier nicht in erster Linie um spirituelle Demut geht.
Das Wort Niedrigkeit ist hier nicht in dem Sinn von Demut und Bescheidenheit gebraucht, sondern bedeutet soviel wie niedrige oder unangesehene Stellung. Die Meinung ist also: daß ich unbekannt und ungenannt in der Welt war, hat Gott nicht abgehalten, nach seiner Gnade auf mich herabzublicken. So sehen wir, wie Maria sich selbst demütigt und Gott allein erhebt. Ihr Bekenntnis entsprang nicht einer gemachten Demut, sondern war die einfache, ungekünstelte Aussprache ihres Herzens.
Der Gott Israels ist „der Gott der kleinen Leute“, der Menschen, die sich nicht zu fein dazu sind, sich auf Gott zu verlassen, und die auch keine Möglichkeit haben, ihre Heil und ihre Rettung in Äußerlichkeiten zu suchen, und die sich darum einzig auf Gott verlassen können.5
So ist »humilitas« nichts anderes als ein verachtetes, unansehnliches, niedriges Wesen oder Stand, wie es die armen, kranken, hungrigen,
durstigen, gefangenen, leidenden und sterbenden Menschen sind, wie es Hiob in seiner Anfechtung war und David in seiner Verstoßung aus dem Reich, und Christus mit allen Christen in ihren Nöten. Das sind die Tiefen, davon droben gesagt ist, daß Gottes Augen nur in die Tiefe sehen und (der) Menschen Augen nur in die Höhe, das ist, sie sehen nach dem ansehnlichen, glänzenden, prächtigen Wesen und Stand.6
Dass man Demut auch spielen, vortäuschen vorspiegeln kann, weiß Martin Luther und er erzählt ein besonders merkwürdiges Beispiel solcher geheuchelter Demut:
Das reißt auch soweit ein, daß sie die Leute bereden, Mönchskutten im Sterben anzuziehen, geben vor, wer in solchem heiligen Kleid sterbe, der habe Ablaß von Sünden und werde selig; sie fangen an, die Leute nicht allein mit fremden Werken, sondern auch mit fremden Kleidern selig zu machen.7
IV. Maria und die Befreiungstheologie
Verwunderlich ist es nicht, dass dieser neutestamentliche Psalm einer der Referenztexte für die Theologie der Befreiung in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts geworden ist. Es ist in der Tat eine Theologie hier ausgesungen, die nicht von oben aus metaphysischen Höhen ein wenig mitleidig und gnädig in die Tiefe blickt. Es ist das Magnificat das Dokument einer wirklichen Befreiungs-Theologie. Bibeltexte wie das Magnificat auch wie das Benedictus und im Zusammenhang damit natürlich auch die Geschichte von der Geburt im Stall von Bethlehem, stellen die traditionelle Metaphysik geradewegs auf den Kopf. Es geht dabei nicht darum, dass die Bibel auch so etwas wie eine „soziale Dimension“ hat, es geht um die Perspektive biblischer Theologie überhaupt.
Der Gott, von dem Maria erzählt, ist weder zeitlos noch unbegrenzt, weder die Antwort auf alle Fragen und der Urgrund aller Bewegungen, und dennoch ist er der, der den Tod hinter sich gelassen hat. Er ist der heruntergekommene Gott aus dem Stall. Und man wird in künftig nicht anders denken und nicht anders von ihm reden können, als dass man vom Stall redet und vom Kreuz, von der von ihm selbst erfahrenen Gottesferne.
Es sei erinnert an das Weihnachtsgedicht des jüngst verstorbenen Georg Kreisler:
Georg Kreisler:
Weihnachten bringt alles durcheinander
"Ich wasch mich jeden Morgen so um sieben,
[...]
Zu Weihnachten ziehn sich die Völker zurück,
man wird weich und empfindsam und schlapp.
Deutschland erwache! Schaff Weihnachten ab."
[Das vollständige Gedicht online im Georg Kreisler Forum:
http://www.georgkreisler.net/cgi-bin/yabb/YaBB.pl?num=1135419676/22]
V. Von nun an werden mich selig preisen
Dass es im Magnificat nicht darum geht, dass Maria sich selbst ein Gedächtnis bei den künftigen Generationen schafft, das ist von reformatorischer Auslegung immer hervorgehoben. Die Seligpreisung der Armen um Gottes Willen ist ihr Thema. Und Maria ist ihre Zeugin insofern, dass die Seligpreisung der Armen nicht losgelöst von ihrer Person geschehen ist, und ihre Person somit in die Geschichte Gottes einbezogen ist. Maria ist beteiligt mit Herz und Mund und Tat und Leben. Das Heil geschieht nicht in metaphysischer Ewigkeit, sondern es geschieht mitten im Leben, an identifizierbarem Ort unter Beteiligung identifizierbarer Menschen.
Gerade in der Geschichte erweist sich die Treue und die Barmherzigkeit Gottes. Und ich halte es für einen theologischen Fehler und für eine unbiblische, metaphysische Konstruktion, wenn man Gott aus der Geschichte heraushalten möchte, wenn man ihn einordnet in einen individuellen Sinnhorizont, der dann auch mit anderen Sinnhorizonten im Gespräch bleibt. Hier im Lukasevangelium geht es um ein schwangeres Mädchen, das allen Grund zur lauten Klage hätte, das aber sich selbst in der Freundlichkeit Gottes sehen und wiederfinden kann.
Johannes Calvin ist sich mit Martin Luther ganz einig, wenn er schreibt:
Ausdrücklich sei darauf aufmerksam gemacht, dass die Seligkeit Marias in nichts anderem besteht als in der Gabe und Gnade Gottes. Für den Ruhm, den sie zu allen Zeiten haben wird kennt sie keinen anderen Grund als das an ihr geschehene Werk des Herrn. Sie ist weit davon entfernt, in eigener Kraft und Geschäftigkeit solches Lob zu suchen. Dann aber ist uns sofort klar, wie wenig diese Gesinnung Marias mit der Lehre des Papstes und seiner Nachfolger zu tun hat, die sie mit selbst erdachten eitlen Titeln und Namen schmücken, aber die Güte, die sie von Gott empfangen hat für nichts achten. Hochfahrende, ja mehr als übermütige Titel tragen sie zur Genüge zusammen: Himmelskönigin, Stern des Heils, Pforte des Lebens, Süßigkeit, Hoffnung und Heil nennen sie sie. Ja, Satan hat sie zu solcher Unverschämtheit und solchem Wahnsinn hingerissen, dass sie ihr die Herrschaft über Christus antragen. So singen sie denn in einem Lied: Bitte den Vater, befiehl dem Sohn“! Es liegt offen am Tag dass nichts dergleichen von Gott ausgegangen ist. Und die heilige Jungfrau selbst weist das mit einem Wort zurück, in dem sie alle ihre Ehre in Gottes Gaben sucht. Denn wenn sie nur i n dieser Hinsicht gefeiert werden kann, nämlich daß Gott Großes n ihr getan hat, dann bleibt für all die erdichteten Titel, die sich anderswoher eingeschlichen haben, kein Raum mehr. Man denke doch: nichts ist Maria gegenüber frevelhafter, als wenn dem Sohn Gottes entrissen wird, was ihm zusteht, während man sie mit der unheiligen Beute umkleidet. Aber ausgerechnet die Papisten waren es, die uns Ungerechtigkeit gegenüber der Mutter Christi vorwarfen, während wir nur Menschenlügen zurückweisen und Gottes Wohltaten an ihr preisen. Aber was an ihr , wie wir zugestehen, am meisten geehrt werden sollte, das verehren sie als ihre verkehrten Verkehrer. Wir nehmen sie gern als unsere Lehrmeisterin und gehorchen ihrer Lehre und ihrem Beispiel. Das aber setzen jene hintan und verachten es. So verweigern die Papisten ihren Worten den Glauben. Wir aber wollen nicht vergessen, daß beim Loben von Engeln wie von Menschen für uns alle diese eine Regel gilt, daß die Gnade Gottes in ihnen gepriesen werde. Nur was aus dieser Quelle stammt, ist doch des Lobes wert.8
Es bewahrheitet sich in diesen Worten die Regel, daß man unbequeme Menschen am leichtesten loswird, wenn man sie heilig spricht und ihre Bilder vergoldet: dabei ist kein kanonisches Verfahren nötig, wie das Beispiel Dietrich Bonhoeffers zeigt. Bonhoeffer war auch nicht nur der Theologe der „guten Mächte“. Er war der Theologe der „Kirche für andere“, den sein theologisch begründetes Engagement sein Leben gekostet hat.
Dazu auch Martin Luther:
Sie (Maria) verhält sich doch ganz wie vorher, da sie deren keines hatte, fragt auch nicht mehr nach Ehren als vorher, brüstet sich nicht,
erhebt sich nicht, ruft nicht aus, wie sie Gottes Mutter worden sei, fordert keine Ehre, geht hin und schafft im Haus wie vorher, melkt die Kühe, kocht, wäscht Schüsseln, kehrt, tut wie eine Hausmagd oder Hausmutter tun soll in geringen, verachteten Werken, als wären ihr
solch überschwengliche Güter und Gnaden nichts. Sie ist unter anderen Weibern und Nachbarn als nichts Höheres gehalten als vorher; sie hats auch nicht begehrt, ist eine arme Bürgerin unter der geringen Menge geblieben.9
VI. Das Magnificat und die theologische Ästhetik
Für Luther hat diese frühe Auslegung des Magnificat durchaus noch eine gewisse Offenheit der Judenheit gegenüber, rechnet er doch damit, dass die Juden durch die Verkündigung des neu entdeckten Evangeliums, in Scharen ihren Widerstand gegen den Messias Jesus aufgeben werden. Es war eine Hoffnung, die sich nicht erfüllt und den alten Luther hat zum Antijudaisten werden lassen. An dieser Stelle in seiner Auslegung des Magnificat verweist Luther auch auf die ästhetischen Konsequenzen, die ein an der Bibel gewonnenes Marienbild haben kann und haben soll.
Aber die Künstler, die uns die selige Jungfrau so abmalen und darstellen, daß nichts Verachtetes, sondern eitel große, hohe Dinge an ihr zu sehen sind, was tun sie anders, als daß sie uns der Mutter Gottes allein gegenüberstellen und nicht sie Gott gegenüber, womit sie uns furchtsam und verzagt machen und das tröstliche Gnadenbild verhängen, wie man mit den Bildern in der Fastenzeit tut.10
Es bedarf wohl auch eines Maßes, daß man den Namen nicht zu weit treibe, daß man sie eine Königin der Himmel nennt. Zwar ist das wahr, aber dadurch ist sie doch keine Abgöttin, daß sie geben oder helfen könne, wie etliche meinen, die mehr zu ihr als zu Gott rufen und Zuflucht haben. Sie gibt nichts, sondern allein Gott, wie folgt11:
Die Vorstellungswelt des Magnificat ist ganz von der hebräischen Bibel geprägt. Gott übt Gewalt mit seinem Arm – das ist stehende Redeweise Israels seit dem Exodus. Die Zerstreuung der Hoffärtigen, wie Luther sagt (griech: uperfanoi, lat.: superbi). Es sind diejenigen, die ihren Platz nicht gefunden haben, die sich aufblasen, die auf der einen Seite „vom größten Fehler ihres Lebens“ reden und zugleich aber andere dafür verantwortlichen machen, dass sie gestolpert sind: Vorerst gescheitert. Die Superbia hat keinen Blick für die Humilitas – oder sie hat ihn nur dann, wenn sie sich auf Kosten der humiles profilieren kann. Ich denke, dass die grassierende Charity-Manie auch ein Ausdruck von Superbia ist.
VII. Deposuit potentes de sede – der Götzensturz
In seiner Vertonung des Magnificat (1723 – Es-Dur) hat Johann Sebastian Bach die Tenor Arie, die das deposuit potentes singt, ganz spärlich besetzt. In der Sprache der barocken Rollenverteilung Musik gilt der Tenor als Stimme des Evangelisten – so in den Passionen. Und es dürfte nicht unbillig sein, zu vermuten, dass Bach in dieser Arie musikalisch auf Distanz zu dem berichteten Geschehen bleibt. Begleitet wird der Tenor nur von dem tragenden Basso Continuo (Cello/Kontrabass und Cembalo/Orgel) und der unisono Violinstimme. Wie gesagt: sparsamste Mittel, die aber in dem großen Spannungsbogen von einer Oktave abwärts den Sturz der potentes gleichsam vor Augen malen. Man hätte sich auch Pauken und Trompeten vorstellen können – ein apokalyptisches Donnerwetter. Der Exeget Bach bleibt zurückhaltend. Der Sturz der Mächtigen bleibt Gottes Sache – nicht die Unsere.
Deposuit potentes des sede
Et exaltavit humiles
VIII. Heilsgewissheit – nicht Heilssicherheit: Die Fuge
Die Erfüllung der Verheißung, von der Maria singt, von Abraham und seinem Samen kommt bei Bach – wie könnte es anders sein – als eine Fuge daher. Die Fuge ist das Abbild der göttlichen Weltordnung. Gewiß: zu Bachzeit ist man geneigt, das Weltbild als ein Ineinandergreifen von Zahnrädern zu verstehen – das Uhrwerk ist das Modell der Konstruktion der Welt – und der Fuge haftet ja auch etwas uhrwerkhaftes an: eine strenge Disziplin in dem gestaffelten Einsatz der Stimmen, eine ebenso strenge rhythmische Gestaltung für die der Basso Continuo steht. Aber interessant ist schon, dass Bach die Fuge mit den Verheißungen Gottes in Verbindung bringt und nicht mit ewigen Naturwahrheiten. Die Verheißung wird bei Bach zur Gewißheit – nicht zu einer securitas salutis, wohl aber zu einer certitudo, die den Horizont für Gottes neuerliches Handeln in und an der Welt öffnet und weitet:
Sicut locutus est per Prophetas
Abraham et semini eius in Saecula.
IX. Nicht nur Johann Sebastian Bach
Wie gesagt: es gibt unzählige Magnificat-Vertonungen. Besonders schön ist diejenige von Carl Philipp Emanuel Bach, der sich – entgegen seines sonstigen „aufgeklärten“ Stils in seiner Komposition sehr an den Vater anlehnt. Und als besonders schön empfinde ich auch das Magnificat des jungen Felix Mendelssohn Bartholdy, in dem – in aller Gebrochenheit – mitten im Raum der bürgerlichen Konzertkultur – eine jüdische und zugleich protestantische Stimme zu Gehör kommt. Und in dieser Stimme klingt auch Johan Sebastians Auslegung dieses biblischen Textes nach.
Magnificat anima mea Dominum
Et exaltavis spiritus meum
BWV 243a Magnificat in Es-Dur
1. Coro Tromba I-III, Tamburi, Oboe I/II, Violino I/II, Viola, Fagotto, Continuo |
Magnificat anima mea Dominum. |
2. Aria S.II Violino I/II, Viola, Continuo |
Et exsultavit spiritus meus in Deo salutari meo. |
2a. Coro | Vom Himmel hoch, da komm ich her, Ich bring euch gute neue Mär; Der guten Mär bring ich so viel, Davon ich sing'n und sagen will. |
3. Aria S.I Oboe I, Continuo |
Quia respexit humilitatem ancillae suae; ecce enim ex hoc beatam me dicent |
4. Coro Oboe I/II, Violino I/II, |
Omnes generationes. |
5. Aria B Continuo |
Quia fecit mihi magna qui potens est, et sanctum nomen eius. |
5a. Coro Continuo |
Freut euch und jubiliert; Zu Bethlehem gefunden wird Das herzeliebe Jesulein, Das soll euer Freud und Wonne sein. |
6. Aria (Duetto) A T Violino I/II, Viola, Continuo |
Et misericordia a progenie in progenies timentibus eum. |
7. Coro Tromba I-III, Tamburi, Oboe I/II, Violino I/II, Viola, Fagotto, Continuo |
Fecit potentiam in brachio suo, dispersit superbos mente cordis sui. |
7a. Coro Violino I, Oboe I col Soprano I, Oboe II col Soprano II, Violino II coll' Alto, Viola col Tenore, Continuo |
Gloria in excelsis Deo! Et in terra pax hominibus, bona voluntas! |
8. Aria T Violino I/II, Viola, Continuo |
Deposuit potentes de sede et exaltavit humiles. |
9. Aria A Flauto dolce I/II, Continuo |
Esurientes implevit bonis et divites dimisit inanes. |
9a. Aria (Duetto) S.I B Continuo |
Virga Jesse floruit, Emmanuel noster apparuit; Induit carnem hominis, Fit puer delectabilis; Alleluja. |
10. Aria (Terzetto) S.I S.II A Tromba, Violino I/II, Viola |
Suscepit Israel puerum suum recordatus misericordiae suae. |
11. Coro Continuo |
Sicut locutus est ad Patres nostros, Abraham et semini eius in saecula. |
12. Coro Tromba I-III, Tamburi, Oboe I/II, Violino I/II, Viola, Fagotto, Continuo |
Gloria Patri, gloria Filio, gloria et Spiritui Sancto! Sicut erat in principio et nunc et semper et in saecula saeculorum. Amen |
---
1. Vgl. Michel Wolter, Das Lukasevangelium, HNT 5, Tübingen 2008, S.100.. „Lukas erweist sich damit einmal mehr als ein Historiker, der sein Handwerk vorzüglich beherrscht, denn er läßt seine Erzählfigur, eine jüdische Jungfrau aus Galiläa, eben genau so reden, wie es Lukian v. Samosata verlangt: „der Person und der Lage möglichst angemessen“ (Hist.Conscr. 58; vgl auch Thukydides 1,22,1; s. Johnson 43). Kein Mensch erwartet von ihr (Maria, M.F.) dass sie über Armut und Reichtum genauso denkt wie Lukas. Integraler Bestandteil der literarischen Fiktion ist dementsprechend auch, dass das Magnificat von jeglichen christologischen Bezügen frei ist, denn Maria ist weder ein Engel wie Gabriel, noch ist sie vom heiligen Geist erfüllt wie Elisabeth (V.41) und dann später Zacharias (V.67). Lukas lässt sie vielmehr eine Deutung des erzählten Geschehens im Lichte der Erwählungsgeschichte Israels liefern, und er lässt sie dies mit den Worten tun, mit denen Israel schon immer das heilvolle Eingreifen zugunsten seines Volkes gepriesen hat.
2. [Martin Luther: Das Magnificat verdeutscht und ausgelegt (1521). Martin Luther: Gesammelte Werke, S. 3521 (vgl. Luther-W Bd. 5, S. 279
3. Johannes Calvin Evangelienharmonie I, ders. Auslegung der Heiligen Schrift Neukirchen Vluyn 1966, S.42
4. Johannes Calvin aaO. S.43.
5. Julius Schniewind, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 2, 12. Auflage, Göttingen 1968, S.41, Mit den Armen (Mt.5,3) sind Menschen gemeint, „deren äußere Lage sie dazu treibt, dass sie alles von Gott erwarten müssen, und deren innere Haltung so ist, dass sie wirklich alles von Gott erwarten.
6. Martin Luther: Das Magnificat verdeutscht und ausgelegt (1521). Martin Luther: Gesammelte Werke, S. 3542 (vgl. Luther-W Bd. 5, S. 292
7. Martin Luther: Das Magnificat verdeutscht und ausgelegt (1521). Martin Luther: Gesammelte Werke, S. 3552 (vgl. Luther-W Bd. 5, S. 298-299
8. Johannes Calvin aaO. S.43f
9. Martin Luther: aaO, S.309.
10. Ebd. S.303
11. Ebd. S.307
---
Ephorenkonvent am Montag, dem 19. Dezember 2011 um 9.00 Uhr in der Propstei Halle-Wittenberg in Halle, Kleine Märkerstraße 2
Martin Filitz