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Buchtippp: Gerd Theißen - Glaubenssätze. Ein kritischer Katechismus
Eine Übersetzung des Heidelbergers in unser Denken
Gibt es denn keine Übersetzung des Heidelbergers in unsere Sprache? - Diese Frage wird immer wieder in den Gemeinden laut. Und sie lässt sich schwerlich mit dem Hinweis auf die revidierte Fassung von 1997 beantworten. Ob Christus für alle meine Sünden vollkommen oder vollkömmlich bezahl(e)t hat, macht keinen Unterschied – außer dass die Revision nichts mehr von der Schönheit des Frühneuhochdeutschen übrig gelassen hat. Stattdessen suggeriert die ‚Modernisierung‘, dass man die theologischen Überzeugungen des 16. Jahrhunderts unverändert in die Gegenwart übertragen könne, wenn man nur ein paar Nebensätze umstellt und ungebräuchliche Wendungen ersetzt. Den Gemeinden, die nach einer ‚Übersetzung‘ fragen, bleibt man damit das Wesentliche schuldig.
Gibt es denn keine Übersetzung des Heidelbergers in unser Denken? Doch – es gibt sie! Gerd Theißen - Glaubenssätze. Ein kritischer Katechismus. Juli 2012 – Gütersloher Verlagshaus.
Gewidmet hat der emeritierte Neutestamentler aus Heidelberg (!) sein umfangreiches Buch (443 Seiten) dem Andenken von Zacharius Ursinus (1534-1584), Verfasser des Heidelberger Katechismus 1563. Dieser war Theißen „ein Vorbild an Klarheit und Systematik“. Man möchte ergänzen: und an poetischer Sprachkraft.
Ausdrücklich versteht Theißen seine 235 Fragen und Antworten als Angebote, „das Christentum zu entdecken oder wieder zu entdecken“. Und so wie er in seiner Theorie des Urchristentums (Die Religion der ersten Christen, 2000) den religiösen Gehalt so darstellen wollte, „dass er für Menschen unabhängig von ihrer religiösen oder nicht-religiösen Einstellung zugänglich wird“ (S.13), soll sein Katechismus auch „säkularisierten Menschen“ helfen „besser zu verstehen, was einen modernen Christen bewegt, auch wenn er dessen Christentum nicht teilt“.
Was einen modernen Christen bewegt … das wäre doch die verlangte ‚Übersetzung‘! Ein Katechismus für moderne Christen.
Mit ‚modern‘ lässt sich die Prämisse umschreiben, zu der Theißen sich bekennt: ein liberaler Protestantismus reformierter Prägung. Dazu ein liberaler Protestantismus, der sich von katholischem Weihrauchduft ebenso wenig abschrecken lässt wie von orthodoxem Ikonengeheimnis, der Synagoge und Moschee ehrfurchtsvoll zu würdigen weiß und der die Versuchung Jesu in einem Atemzug mit der Versuchung des Buddha nennen kann. Freilich niemals im populistischen Fahrwasser einer pseudo-universalistischen Patchwork-Religion. Dieser Katechismus klärt die Positionen, indem er ihren jeweiligen historischen Ort scharf umreißt und dabei das Wissen eines ganzen Gelehrtenlebens in ansprechende und verstehbare Sätze füllt. Dort, wo er keine Kompromisse zulassen kann, z.B. bei der päpstlichen Sexualmoral oder bei evangelikalem Biblizismus, zieht er scharfe Grenzen. Dort, wo sich unnötige konfessionelle oder interreligiöse Barrieren verfestigt haben, baut er behutsam und einladend Brücken.
Mit ‚modern‘ lässt sich aber auch eine weitere Prämisse umschreiben, die für Theißen unverzichtbar ist: ein christliches Bekenntnis auf dem Stand der zeitgenössischen Natur- und Sozialwissenschaften. Gegen den falschen Gegensatz von ‚Glauben‘ und ‚Wissen‘, den der philosophisch unbedarfte Mode-Atheismus uns weismachen will, wirbt Theißen für einen wissenden Glauben, für den Anfang und Ende der Welt eingebunden sind in eine unendliche, weil noch unbeendete Schöpfung. So „ahnt“ der „Glaube an den dreieinigen Gott / in der Evolution des Universums / den Offenbarungsort Gottes“. (Frage 93)
Mancher mag jetzt fragen, wieso ein solcher Glaube an einem dreieinigen Gott festhalten soll, ob ein moderner Katechismus nicht auf dieses so schwer verständliche und interreligiös störende Dogma verzichten könne. Der Neutestamentler Theißen ist weit entfernt von diesem Einwand. Die Dreiteilung seines Katechismus folgt ausdrücklich den drei Artikeln des Apostolicums: Meditationen über Gott – Meditationen über Jesus – Meditationen über den Geist. Und dabei lässt er nichts, aber auch gar nichts weg, „von der Präexistenz bis zur Parusie“. Noch nie hat man die christologischen Theorien der ersten christlichen Jahrhunderte so knapp und so dicht präsentiert gefunden wie in Frage 118, in der Theißen die Bilder, in denen Jesus zum Christus wird, zu einem „Drama in zehn Akten“ verknüpft.
„Niemand muss diese Dichtung für wahr halten. / Sie ist ein Mythos, / eine Geschichte von Gott in poetischen Bildern. / Was einmal geschehen ist, / wird durch sie / zum Geschehen / für immer.“
Vielleicht geht das ja dem einen oder der anderen zu weit. Das kommt also heraus, wenn ein prominenter Neutestamentler sich in die Dogmatik einmischt: ein subversiver Angriff auf bewährte Grundfesten christlicher Lehre! Aber Theißen überwindet den Graben zwischen Exegeten und Systematikern. Dies gelingt ihm, weil er für seine drei Hauptstücke eine hermeneutische Basis schafft (Frage 1-21), die die „Grundlagen“ des Glaubens „in Bibel, Tradition, Erfahrung und Vernunft“ zu legen versucht. Auch das steht einem Katechismus für die Gegenwart gut an. Hier werden die obsolet gewordenen Abgrenzungen zwischen kontinentaler (Vernunft) und anglo-amerikanischer (Erfahrung) Philosophie nicht mehr eingehalten. Hier werden die Evidenz-Erlebnisse Glaubender nicht in die Muster von Tradition (katholisch) oder Bibel (evangelisch) einsortiert. Stattdessen beruft sich Theißen auf Wittgenstein und Ricoeur. Im Wissen um die sprachliche Bedingtheit all unserer Erkenntnis verschwindet auch der Gegensatz von Natur- und Heilsgeschichte(n).
Das Wichtigste zum Schluss: Theißens kritischer Katechismus ist sehr vieles in einem. Ein frommes Buch. Ein politisches Buch. Ein tröstendes Buch. Ein Lehrbuch und ein Gebetsbuch. Ein Buch, das bei den Fragen heutiger Menschen anfängt, das diese Fragen multiperspektivisch beantwortet und das zuletzt wieder neue Fragen aufwirft. Ein Buch, das beim Lesen verändert. Im Vorwort bittet der Verfasser beinahe um Entschuldigung dafür, dass er „der Mystik einen so zentralen Ort“ einräumt. Diesen Ort stattet er mit einer Sprache aus, die glasklar vernünftig und schimmernd poetisch ist. Damit wird auch dieser Katechismus zu einem Erfahrungsort Gottes, wo rationale Sprache bis an ihre Grenzen geht und auf dem Weg über das Poetische in das Schweigen vor dem Geheimnis einmündet.
Frage 235
[…]
Die Welt ist eine Hypothese,
um Gott zu entsprechen.
Die Rechtfertigung des Menschen
ist Ziel dieses Prozesses:
Gott schenkt Entsprechung zu ihm
ohne Vorbedingung aus Gnade.
Er schenkt sie gescheiterten Menschen.
Jede Predigt soll diesen Funken in die Zeit werfen,
jedes Sakrament dieses Licht ausstrahlen.
Durch dieses Licht berührt Gott
das Herz des Menschen
im Augenblick der Erfüllung.
Mit ihm beginnt das Reich Gottes
schon hier und jetzt,
unter uns
und in uns.
Das ist Vollendung
mystischer Sehnsucht.
[…]
Die Welt ist eine Hypothese,
die danach tastet,
Gott zu entsprechen.
Religionen sind Fragmente
in diesem Versuch.
Fragmente sind auch diese Gedanken.
Fragment bleibt unser Leben.
Am Ende aber ist Gott
alles in allem.
Dr. Gudrun Kuhn, Nürnberg