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Abschied zwischen Resignation und Hoffnung
Predigt zu Römer 8,26-30 am Sonntag Exaudi (31.05.2014) in der Katharinenkirche in Frankfurt am Main
Liebe Gemeinde!
Abschiede sind schmerzlich. Vertrautes muss aufgegeben werden, Unbekanntes und Unsicheres liegt vor uns. Schon beim Wechsel des Arbeitsplatzes oder beim Verlassen des Elternhauses sind Abschiede in der Regel unvermeidbar. Menschen, die uns über längere oder kürzere Zeit intensiv begleitet haben und die wir lieb gewonnen haben und die wir schätzen, müssen verlassen werden. Die Tränen sind dann oft unvermeidlich und wir spüren, wie begrenzt und vorübergehend Bindungen sind, die wir für wichtig, ja manchmal für unverzichtbar halten.
Doch mit diesen Abschieden im Laufe unseres Lebens kommen wir in der Regel ganz gut zurecht und wir wissen auch, dass sie oft für die Entwicklung zur eigenständigen Persönlichkeit unvermeidlich sind, wenn beispielsweise Kinder ihr Eltern verlassen, um ihren eigenen Weg ins Leben zu gehen. Sie finden dann oft Trost bei neuen Freundinnen und Freunden, neuen Familien und neuen Kolleginnen und Kollegen.
Viel schwieriger sind die Abschiede, die uns endgütig und trostlos vorkommen. Wenn wir an den Gräbern von Menschen stehen, die wie selbstverständlich zu unserem Leben gehörten und entweder ganz plötzlich und überraschend oder nach einer langen gemeinsamen Zeit nicht mehr da sind. Wo und bei wem finden wir Trost, wenn wir untröstlich sind? Wie können wir Abschied nehmen, wenn wir wissen, dass das bisherige Leben unwiderruflich zu Ende ist?
Einer, der auf sehr ungewöhnliche Weise von seinem Leben Abschied genommen hat, war Jean Dominique Bauby. Er war der Chefredakteur der französischen Frauenzeitschrift „Elle“: einer, der das Leben liebte, die schönen Frauen, das gute Essen mit Champagner und Austern, das Liebesabenteuer und die eleganten Autos. Bis 1996 gehörte er zur „haute vollée“ der französischen Partyszene und kümmerte sich hin und wieder auch um seine drei Kinder, die bei ihrer Mutter lebten, einer ehemaligen Lebensgefährtin Baubys.
Mit 43 Jahren ereilt ihn wie aus heiterem Himmel ein Schlaganfall, der zur völligen Lähmung seines Körpers führte, nur ein Auge ist noch beweglich. Gleichzeitig ist sein Geist hellwach und nimmt genau wahr, was in seiner Umwelt geschieht. Er begreift schnell, was mit ihm geschehen ist: er kann nicht mehr sprechen, wird künstlich ernährt und beatmet, das eine Auge wird ihm zugenäht, nur das andere Auge nimmt in einem sehr begrenzten Ausschnitt wahr, was um ihn herum geschieht. Und er kann mit dem Augenlid blinzeln und so lernt er mit seiner Logopädin zunächst zu buchstabieren, dann Wörter und Sätze zu schreiben.
Die Logopädin liest ihm die Buchstabenfolge vor und durch das Blinzeln signalisiert er, welchen Buchstaben er aufschreiben möchte. Das erste Wort, was er auf diese Weise schreibt, ist: „Je“, „ich“. So gelingt es ihm mit einer ungeheueren Energieleistung, ein Abschiedsbuch über seine Empfindungen, Gedanken und Phantasien zu schreiben, die ihn als Gefangener des bevorstehenden Todes bewegen. Das Buch trägt den Titel „Schmetterling und Taucherglocke“. Es erscheint 10 Tage vor seinem Tod und ist seinen drei Kindern gewidmet.
2007 hat der amerikanische Maler und Filmregisseur Julian Schnabel dieses sensationelle Buch Jean Dominique Baubys kongenial verfilmt. In den ersten 40 Minuten entspricht die Kamera exakt dem Blick des einen Auges, welches Bauby noch bewegen kann. Dann werden in Rückblenden Szenen aus seinem Leben erzählt, die er für sein Buch aufschreiben lässt. Die Ohnmacht des Patienten ist intensiv spürbar, der geschwätzigen Ärzten und zudringlicher Pflege ausgeliefert ist, weil er sich überhaupt nicht wehren kann.
Zugleich ist er noch in der Lage die Mutter seiner Kinder, die ihn immer noch liebt, zu verletzen, indem er ihr seine Antworten für seine letzte Geliebte, die ihn anruft, aber nicht besucht, diktiert. Nein, Monsieur Bauby ist kein Heiliger, sondern einer, der Bilanz zieht, wobei Schuld und Verletzungen nicht ausgespart bleiben. Er ist ein Gourmet, wahrscheinlich auch ein Macho, kein besonders fürsorglicher Vater, fromm ist er auch nicht, sondern seine Liebe gilt dem Glamour und den schönen Dingen des Lebens.
Auf den ersten Blick stellt der Film eine Krankengeschichte dar, auf den zweiten Blick will er jedoch zum Leben ermutigen. Trotz aller Angst und Panik, die mit dem Lock-in-Syndrom, diesem Eingeschlossensein des Geistes im eigenen Körper verbunden ist, ist der Film eine Hommage an das Leben. Erinnerung und Phantasie helfen Bauby die Lähmung seines Körpers „aufzuheben“ und ein großes Lebenspanorama, ein Gleichnis des Lebens, zu entwerfen. So wird das Buch zum Trost in einem schmerzhaften Abschied. Der Geist hilft über die Schwächen und Begrenztheiten des Leibes hinweg.
Die ersten christlichen Gemeinden standen immer wieder vor diesen Erfahrungen ohnmächtigen Abschieds und hoffnungsvoller Erwartung auf eine Überwindung ihrer stets auch leidvollen Situation. Sie hatten der Botschaft vom neuen Leben vertraut, das mit Ostern begonnen hatte, und nun spürten sie meist sehr wenig von dieser Erneuerung. Es waren immer noch das gleiche Leid und dieselben Mühen, mit denen sie Tag für Tag konfrontiert waren. Sie fühlten sich mutlos und begannen zu resignieren. Sie nahmen langsam Abschied von der Hoffnung, dass Jesus bald wiederkommen würde und die Welt in ihm ihren Herrn erkannte. Die römische Herrschaft begegnete den Anhängerinnen und Anhänger eines Messias mit Verfolgung und Unterdrückung.
Besonders die christliche Gemeinde in Rom selbst sah sich mit dem Rücken an der Wand und wirkte unter dem starken äußeren Druck fast wie gelähmt. Sie zieht sich in sich selbst zurück und Einzelne verlassen sogar die Gemeinde wieder. Viele wissen gar nicht mehr, um was sie Gott bitten sollen. In dieser Lage schreibt ihnen der Apostel Paulus einen Brief, der sie ermutigen, aufrichten und trösten soll. Er will ihre Ohren und ihren Blick wieder öffnen für die Weite und die Herrlichkeit der frohen Botschaft. Hoffnung will er ihnen machen, Hoffnung, die aus dem Vertrauen auf Gott kommt und die wir gerade nicht mit sichtbaren Tatsachen belegen können. Im 8. Kapitel seines Briefes an die Römer, in den Versen 26-30 schreibt er:
„In gleicher Weise (wie bei der Hoffnung) nimmt sich der Geist unserer Schwachheit an; denn wir wissen nicht, was wir eigentlich beten sollen; der Geist selber jedoch tritt für uns ein mit wortlosen Seufzern. Er aber, der die Herzen erforscht, er weiß, was das Sinnen des Geistes ist, weil er dem Willen Gottes gemäß für die Heiligen eintritt. Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alles zum Guten dient, ihnen, die nach seiner freien Entscheidung berufen sind. Die er aber zuvor erwählt hat, die hat er auch im Voraus dazu bestimmt, nach dem Bild seines Sohnes gestaltet zu werden, damit dieser der Erstgeborene sei unter vielen Schwestern und Brüdern. Die er im Voraus bestimmt hat, die hat er auch berufen. Und die er berufen hat, die hat er auch gerecht gesprochen. Die er aber gerecht gesprochen hat, denen hat er auch die Herrlichkeit verliehen.“
Wenn wir Abschied nehmen und die Zukunft uns unsicher und dunkel erscheint, dann wissen auch wir oft nicht, was wir beten sollen. Aber unsere Seufzer und unsere Klagen sagen manches Mal viel mehr als viele Worte. Die römische Gemeinde fühlt sich angesichts der Verfolgung und Bedrückung alleine gelassen. Auch Jesus selbst scheint ihnen weit weg zu sein. Er ist zwar zunächst selbst ans Kreuz gegangen und dann über seine Auferweckung von den Toten und seine Himmelfahrt zu seinem Vater. Doch dieser Weg Jesu übersteigt unsere Vorstellungskraft und meist auch unsere Phantasie. Für uns ist er mit seinem Tod zunächst einmal nicht mehr da.
So wie Jean Dominique Bauby mit seinem Schlaganfall fast schon nicht mehr da war. Er hatte auch nur noch etwas mehr als ein Jahr zu leben. In diesen Stunden der Verzweiflung und des Abschieds helfen die gutgemeinten Hinweise, dass Gott denen, die ihnen lieben, alles zum Guten wendet, nicht sehr viel weiter. Sie können sogar zynisch klingen, wenn das Leid zum Himmel schreit. Wir wollen dann einfach nicht, dass der geliebte Mensch geht. Wir wollen, dass er bleibt, und zwar am liebsten für alle Ewigkeit. Doch der Körper ist gebrechlich, die Lust ist flüchtig und der Wille schwach. Wir stehen immer wieder vor unvermeidlichen Abschieden.
Jesus wusste, wie untröstlich die Jüngerinnen und Jünger waren, als er sich von ihnen verabschiedete. Denn wer waren sie ohne die Gegenwart ihres Meisters? Sie brauchten seine Inspiration, sein Wort, sein Vorbild, sein Verhalten wie das tägliche Brot. Auch der römischen Gemeinde war seine Abwesenheit eine Anfechtung und das lange Warten auf seine Wiederkunft zehrte an ihren Kräften. Wo finden sie Trost, wenn sie die Verbindung zu Jesus verlieren. Paulus schreibt ihnen, dass es sein Geist ist, der sie mit ihm verbindet. Diesen Geist hat er ihnen versprochen. Er soll sie trösten, wenn sie nur noch klagen und weinen können.
So will er bei ihnen bleiben. Genauso wie Bauby mit seinem Abschiedsbuch bei seinen Kindern und seinen Freundinnen und Freunden bleiben will. Wenn es einen Trost gibt, dann kann beim Abschied die Trauer über den Verlust so wenig verschwiegen werden wie die Erwartung einer neuen Gemeinschaft erhofft wird. Ohne Beistand und Begleitung allerdings ist die Trauer des Abschieds nur schwer zu ertragen. Erinnerung und Phantasie sind für Bauby die Geister, die ihm beim Abschied helfen. Denn ohne Rückblick und Vorausschau, ohne das verbindende Gemeinsame und ohne die Vision gelingenden Lebens trotz aller Konflikte und Bedrohungen führt der Abschied in eine namenlose Leere und in ein undurchdringliches Dunkel.
Bauby will seinen Kindern von der Freude am Leben, von seinen Licht- und seinen Schattenseiten erzählen und ihre eigene Sehnsucht auf gelingendes, sicherlich auch gesellschaftlich erfolgreiches Leben ermutigen. Sie sollen wissen, dass ohne den Geist der Liebe und des Witzes, der Heiterkeit und der Freude das Leben nicht gelingen kann. Wie schwach wir auch sein mögen, es ist der Geist, das intensive und aufmerksame Interesse aneinander, das Gemeinschaft sogar zwischen Lebenden und Toten zu stiften vermag.
Was der in seinem Körper eingeschlossene Bauby mit seinem Abschiedsbuch tut, nämlich Hoffnung im Abschied zu geben, das verspricht Jesus seinen Jüngerinnen und Jünger, wenn er sich von ihnen verabschiedet. Einen Parakleten, einen Tröster, einen Anwalt auch in schwierigen Zeiten will er ihnen senden, an dem sie sich aufrichten können und von dem sie inspiriert und geleitet werden. Denn dieser Geist wird das unzerreißbare Band sein, das er mit seiner Gemeinde knüpft. Er wird sie an seine Worte und Taten erinnern, durch ihn werden sie selber den Weg einschlagen, den er ihnen gewiesen hat. Der Geist ist nichts, was wir einfach sehen und greifen können, sondern er ist die unsichtbare Atmosphäre zwischen uns, er ist das, was uns dann als Gemeinschaft auch untereinander verbindet.
Jesus spricht vom Geist der Wahrheit, d.h. einem Geist der Offenheit füreinander und einem Geist der Treue zueinander. Denn das griechische Wort für Wahrheit bedeutet genau übersetzt „Unverborgenheit“ und ist zugleich die Übersetzung des hebräischen Wort „Emet“, welches hauptsächlich die Treue unter Personen oder zu einer Sache bezeichnet. Der Geist ist der lange Atem Gottes, der nicht gleich bei den ersten Konflikten und Missverständnissen aufgibt und der auch dann noch durchhält, wenn Ausschluss, soziale Verachtung und wirtschaftliche Nachteile zu befürchten sind.
Wirklich lieben kann der eine die andere nur, wenn er Geduld und Ausdauer, Konfliktfähigkeit und die Bereitschaft zum Verzeihen entwickelt. Deshalb ist er ein Geist des Friedens und nicht des Hasses, ein Geist der Versöhnung und nicht ein Geist der Abgrenzung und der Feindschaft. Damit dieser Friede entstehen kann, braucht es die Erinnerung an die eigenen Fehler und die Phantasie für neue, vielleicht ganz ungewöhnlich Wege der Verständigung und der gemeinsamen Lebensfreude.
In einem Film wie „Schmetterling und Taucherglocke“, in Mozarts „Zauberflöte“, in einem Konzert von Herbert Grönemeyer oder in einem Bild von Picasso entdecke ich diesen Geist, diesen Fürsprecher und Anwalt für das Leben wieder. Aber das sind nur Beispiele meines beschränkten Horizontes. Sie werden alle solche Werke des Geistes der Treue Gottes zum Leben für sich selbst nennen können. Denn schließlich weht dieser lange Atem, wo er will und er kann von uns einzelnen nicht eingeschränkt werden.
Gottes Geist, sein heiliger Geist, ist der Trost, der uns bleibt, wenn wir von Verzweiflung und Resignation bedroht sind und wenn uns nur noch das Seufzen und das Klagen bleibt. Wir können uns erinnern an das Wirken des heiligen Geistes: sowohl im Leben Jesu als auch in unserem eigenen Leben. Und wir können phantasievoll und kreativ unsere eigenen Geistesgaben einsetzen, damit der Menschen verbindende und versöhnende Geist Gottes neue Wirkungen in unserer Zeit entfaltet.
Wir wissen selbst nicht, wer die Erwählten und Berufenen sind, die Gerechten und die schließlich Verherrlichten. Das weiß Gott allein. Aber es gibt sie. Verborgen tun sie ihr Werk des heiligen Geistes. Sie stiften Frieden, wo tödliche Feindschaft herrscht, sie können vergeben, wo scheinbar nur der Ungeist der Rache regiert. Niemand kann sich selbst zum Erwählten erklären. Das hat Gott bereits getan und wird es am Ende wieder tun. Wir sind nicht wie die römische Gemeinde unmittelbarer Verfolgung ausgesetzt, aber auch wir kennen den Zweifel und die Anfechtung, ob wir diesem Geist Gottes noch trauen können oder ob nicht ganz andere Geister die Macht über uns gewonnen haben. Wo die Macht nicht den Menschen dient, sondern der eigenen Selbstermächtigung, da verliert sie die Bindung an den Geist des Rechts und der Gerechtigkeit.
In der Hoffnung, dass Gott uns als Zeuginnen und Zeugen seines Geistes erwählt hat, können wir auch den trostlosesten Leiden standhalten. Sein Geist öffnet unsere Herzen und unsere Blicke für die Menschen um uns herum; wir können unsere Taucherglocke verlassen. Durch seinen Geist ist Jesus mitten unter uns gegenwärtig. Wir sind sein Leib und wir sind sein Blut. Sein Leben geht im Geiste seiner Gemeinschaft weiter. Denn zwischen Himmelfahrt und Pfingsten ist festzuhalten: er verabschiedet sich von uns, nicht wir von ihm. Sein Geist macht uns zu Zeugen seiner Liebe und seines versöhnenden Handelns. So können wir auch die Angriffe und sogar die Feindschaften ertragen, die Christinnen und Christ immer wieder treffen.
Wir müssen uns schon der Freiheit und Schönheit der Schmetterlinge anvertrauen, wenn wir die Taucherglocke geistigen Eingeschlossenseins verlassen wollen. Der Geist Gottes, den Jesus uns versprochen hat und an den der Apostel Paulus die römische Gemeinde erinnert, und auf den wir jeden Tag sehsüchtig von neuem Warten, ist der Freiheit und Schönheit des Lebens verschwistert, aber keineswegs der Gefangenschaft des Todes. Er wendet unseren Blick von Resignation und Gleichgültigkeit weg und belebt uns mit einer Energie, die uns mit Hoffnung auf Gottes neue Welt erfüllt, auch wenn wir vor Verzweiflung manchmal nur stumm werden und leidvoll seufzen können.
Amen.
Pfr. Werner Schneider-Quindeau, Frankfurt/M., Stadtkirchenarbeit an St. Katharinen