Herausgerufen: Jeremia

Predigt über Jeremia 1,4-10 von Johannes Voigtländer, Köln

Jeremia kann uns ein Vorbild sein: darin, "dass wir zitternd und zagend, manchmal auch nur stotternd, aber dann wenn wir auf Gottes Wort hören, uns für die Menschen neben uns stark machen, mal lauter, mal leiser, mal flüsternd. Immer aber allein darauf vertrauend, dass Gott nicht von unserer Seite weicht."

Jeremia 1,4-10:

Und das Wort Gottes erreichte mich:

Schon bevor ich dich im Mutterleib formte, hab ich dich gekannt. Noch bevor du aus dem Mutterschoss hervorkamst, habe ich dich ausgesondert. Zum Propheten für die Nationen (Gojim) habe ich dich bestimmt.

Ich sprach: Ach, Gott, Adonai, ich kann doch nicht reden, ich bin noch so jung. Gott antwortete mir: Sag nicht, ich bin noch so jung. Denn wohin ich dich schicke, dorthin sollst du gehen, und was ich dir auftrage, das sollst du sagen. Habe keine Angst vor ihnen, denn ich bin mit dir, um dich zu retten! Spruch Gottes.

Dann streckte Gott die Hand aus, berührte meinen Mund und Gott sagte zu mir: Hiermit lege ich meine Worte in deinen Mund. Siehe, heute setze ich dich über die Nationen und über die Königreiche ein, um auszureißen und einzureißen, um zugrunde zu richten und niederzureißen, um aufzurichten und einzupflanzen.

Liebe Gemeinde!

Wie ein großer, schwerer Monolith, aber auch irgendwie irritierend schön, sehr einfühlsam und unmittelbar nimmt dieser Text von meinem Gedanken Besitz und löst dabei eben solche, höchst unterschiedliche, ja widersprüchliche Assoziationen aus. Was, von dem, das hier erzählt wird, gehört auch zu unseren Erfahrungen? Wer von uns steht in einem so direkten Kontakt mit Gott, befindet sich in so intimer Zwiesprache mit ihm, dass es gar zur Berührung kommt? Wir, Sie und ich, gehören wohl auch nicht zu den Propheten, weder zu den großen noch zu den kleinen. Und dennoch nimmt uns dieser Text in Beschlag.

Es sind diese überbordenden Aussagen über Gottes Souveränität, die uns in Atem halten: „Schon bevor ich dich im Mutterleib formte, hab ich dich gekannt. Noch bevor du aus dem Mutterschoss hervorkamst, habe ich dich ausgesondert.“ Was ist das für ein Gott, von dem Jeremia glaubend zu erzählen weiß. Diesem Gott entgeht nichts! Nichts liegt außerhalb seiner Einflussnahme. Selbst im Mutterleib ist er der Handelnde. Alles an unserer Existenz steht unter seiner göttlichen Verfügung.

Wir haben verlernt, so von Gott zu reden. Eigentlich lehnen wir es ja auch ab, unsere Autonomie, unsere Selbstbestimmung so klein zu machen, um überhaupt so von Gott reden zu können. Wir wollen selber souverän sein. Können wir deshalb – heute – überhaupt noch so von Gott reden, heute, 2600 Jahre nach Jeremia? Aber auch nach den Erfahrungen mit dem deutschen Faschismus, nach Guantanamo, auch nach Fukushima und die Reihe ließe sich wahrlich fortsetzen? Hat das alles nicht je auf seine Weise deutlich gemacht, dass wir, so wie Jeremia, nicht mehr von Gott reden können, und die Frage „Wo ist denn Gott?“, „ Wo ist denn Gott in all diesen schrecklichen Ereignissen?“ ist doch nur zu berechtigt. Aber wer sagt uns denn, dass man damals, zu Jeremias Zeiten, noch so von Gott reden konnte? Ist nicht das ganze Buch des Propheten Jeremia ein Ausdruck eben dieser Unmöglichkeit? Auch damals hatten die Menschen und allen voran die Großen und Mächtigen keinerlei Interesse ihre Souveränität kein zu machen. Es geht also nicht um die Unmöglichkeit, sondern um unseren Unwillen, so von Gott zu reden. Es geht also um die Frage, wie denn sonst von Gott zu reden ist, wenn wir es denn überhaupt tun wollen und eben dieser Gott, der Grund unseres Redens ist?

Für unseren Predigttext ist die Antwort eindeutig: „Und das Wort Gottes erreichte mich.“ Es ist also Gott, der sich vor allen anderen uns zuwendet, der mit uns spricht, auch dann, wenn wir schon lange nicht mehr mit ihm rechnen. Es ist Gott, der sich redend an uns wendet, der uns anspricht, der den Kontakt zu uns will, der nicht ohne uns sein will.

Doch trotz dieser Entscheidung Gottes für uns, oder anders gesagt, obwohl Gott der Schöpfer und wir die Geschöpfe sind, sind wir nicht auf Unterwerfung hin angelegt. So wie wir um ein angemessenes Gottesverständnis heute ringen und widersprechen, so widerspricht auch Jeremia. Er will partout kein Prophet sein! Er sei zu jung, so sein Argument. Eigentlich ist das nur zu verständlich. Auch wir erwarten von glaubhaften Dienerinnen und Dienern am Wort eine gewisse Seriosität, eine gewisse Abgeklärtheit, die die Erfahrung mit sich bringt und damit das Alter. Auch wir kennen die Attitüde, Menschen gering zu schätzen, weil sie über ungenügende Lebenserfahrung verfügen. Und wer will sich dann schon dem Spott und der Häme der Mitmenschen aussetzen, die im günstigsten Fall einem auf die Schulter klopfen und anraten, man solle erst noch ein bisschen älter werden, dann erst würde man den richtigen, den angemessenen Blick auf die Dinge entwickeln. Toll!

Auf der anderen Seite macht der Einwand Jeremias auf einen theologischen Aspekt des Prophetenamtes  aufmerksam. Wenn sich Jeremia zu jung für einen Propheten hält, dann sagt das doch, dass er das, was er im Namen Gottes zu sagen haben wird, nicht mit seiner Person wird beglaubigen können. Ja, dass ein Prophet oder eine Prophetin ihre Glaubwürdigkeit, ihr Gewicht, ihre Autorität ganz und gar von Gott her bezieht und nur von dort beziehen kann. Ein solch völliges Absehen von der eigenen Person ist fast nicht auszuhalten und zu ertragen und deshalb ist der Einwand, der Versuch Jeremias sich der Aufgabe zu entziehen, nur zu verständlich. Das Leben eines Propheten Gottes ist Nichts, mit dem man Macht, Einfluss, Geld oder Karriere machen könnte. Nein zu sagen, laut und öffentlich, nicht weil man Nein-Sager ist, sondern weil es von Gott her geboten ist. Nein zu sagen, zu unsere Politik, die immer noch im Krieg die legitime Fortsetzung der Politik mit anderen Mittel sieht. Nein zu sagen, zu einem Weltwirtschaftssystem, das den Geldfluss und die Vermehrung der Gewinne im Blick hat und nicht die Menschen – ich will da nur auf Griechenland verweisen. Nein zu sagen, zu einem Gesellschaftssystem, das immer noch Menschen sortiert. Nur zu gut kann man da Jeremias Nein zu Gottes Auftrag verstehen; denn die Begegnung mit dem lebendigen Gott führt immer zu einer Zumutung. Und eine Zumutung führt zum Widerspruch, zum Nein! Und gerade diesen widerständigen, unangepassten und kritischen Menschen, sich selbst und Gott gegenüber, diesen Menschen macht Gott zum Propheten. „Noch bevor du aus dem Mutterschoss hervorkamst, habe ich dich ausgesondert.“

Ist das nicht übergriffig? Ja, das ist es wohl. Denn kein Gedanke wird in der Berufung Jeremias dafür aufgewandt, ihn zu überzeugen, ihn mitzunehmen, ihn zu beteiligen. Der Gott von dem hier erzählt wird, trifft seine Entscheidung. Das ist nicht immer angenehm. Dieses Übergehen der Person und seiner Individualität, dieses Absehen von der persönlichen Situation ist es wohl, das uns Jeremia so nahe rückt, ihn uns verständlich macht, uns mit ihm solidarisieren lässt und uns mit ihm in Widerspruch zu Gott bringt. Es ist aber vielleicht gerade das, dass niemand sich selber zum Botschafter Gottes machen kann und Gott in diesem konkreten Fall nicht mit Jeremia diskutiert, ob er nicht vielleicht doch sich vorstellen könne, Prophet zu werden. Das sollten wir stets im Hinterkopf behalten, wann immer sich Einzelpersonen oder auch die Kirche aufschwingt im Namen Gottes zu reden.

Und wie sieht nun der Dienst aus, zu dem Jeremia berufen wird? Fast lapidar heißt es, dass Gott ihn zum Propheten für die Nationen bestimmt. Da ist das hebräische Wort goj/gojim im Hintergrund, die Nationen, die Völker. Jeremia wird zum Propheten für alle Nationen, für die Gojim und damit auch für uns eingesetzt. Hier öffnet sich gleich zu Beginn des Buches Jeremia eine ökumenische, die ganze Welt umfassende Weite, die die Kirche immer für einen christlichen Anspruch, ja für ein eigenes Privileg gehalten hat. Doch hier ist die ganze Welt, die Ökumene, längst da und ist so wichtig, dass dieser Gedanke, diese Vorstellung von Gott direkt noch einmal wiederholt wird. Zum Propheten für die Nationen wird Jeremia berufen. Und zugleich wird mit keiner Silbe etwas von der Erwählung Israels zurückgenommen, nicht der kleinste Akzent ist dazu zu finden. Mit Jeremia aber treten die Völker nun ganz neu ins Blickfeld. Und die Qualifizierung des Auftrags an Jeremia geht weiter: „Siehe, heute setze ich dich über die Nationen und über die Königreiche ein, um auszureißen und einzureißen, um zugrunde zu richten und niederzureißen, um aufzurichten und einzupflanzen.“

Der Auftrag an eine Prophetin, an einen Propheten ist alles andere als bequem. Keine netten Reden, kein Lob, kein Zierrat wird ihm aufgetragen, sondern brennendes Feuer und ein zerschmetternder Hammer, zugrunde richten und niederreißen. Es wird vernichtet, was Menschen lieb und teuer geworden ist. Jeremia wird das alles den Mächtigen seiner Zeit sagen und obwohl er es nach seinem Selbstverständnis an der Seite seines Volkes tut, mit den vielen einfachen Leuten, die von den Mächtigen nur nach deren Interessen verschoben werden, wird er von eben diesen „kleinen Leuten“ wahrgenommen und missverstanden als ein Verräter; denn die öffentliche Meinung ist die Meinung der Herrschenden. Am Ende wird er von einem aufgebrachten und verführten Mob in eine Zisterne geworfen und schließlich nach Ägypten verschleppt. Dort verliert sich seine Spur. Ein unrühmliches, ein tragisches Ende. Dabei hatte doch sein prophetischer Auftrag, die vorhandenen Strukturen und Machtverhältnisse ausreißen und niederreißen, die Perspektive Neues aufzurichten, Neues einzupflanzen, Neues, das sich endlich an Gottes Wort um der Menschen willen orientiert. Umkehr, das ist sein Auftrag gewesen. Leben, und nicht Untergang!

Ist dieses schmachvolle Ende Jeremias, ist dieses Scheitern des Propheten, ist diese bittere Niederlage die Perspektive, die Gott uns durch seinen Propheten nahe legen will? Haben wir es also doch mit einem übergriffigen Gott zu tun, wie wir es schon am Anfang gefragt haben? Ist der Gott, von dem uns Jeremia erzählt, also doch nur eine Gottheit, die am Leid und an der Vereinsamung des Jeremia uninteressiert und gelangweilt vorübergeht, weil all das im Licht des göttlichen Auftrags nicht zählt? Natürlich kann man und darf man so fragen und es ist auf der anderen Seite ganz schwer etwas der Vernunft Einsichtiges dagegenzustellen, außer einem unangemessenen, naiven Heldenmut, oder einem fanatischen Gottesglauben. Auch unser Predigttext wählt keinen dieser Weg. Stattdessen beschreibt er mit ganz vorsichtigen und zurückhaltenden Worten etwas völlig anderes: „Habe keine Angst vor ihnen, denn ich bin mit dir, um dich zu retten! Spruch Gottes. Dann streckte Gott die Hand aus, berührte meinen Mund und Gott sagte zu mir: Hiermit lege ich meine Worte in deinen Mund.“

Im ganzen Ersten Testament findet sich wohl keine zweite Stelle an der in solch einer, fast intimen Innigkeit zwischen Gott und einem Menschen erzählt wird. Gott berührt Jeremias Mund. Gottes Wort wird zu Jeremias Wort. Das ist der Grund, warum Jeremia keine Angst haben muss. All das ist nicht die Ausstattung, die wir uns für einen Helden wünschen, damit er die schwierigen Auseinandersetzung der Welt besteht. Die Phantasie-Romane kennen da ganz andere Ausstattungen, unüberwindliche Kraft, zauberhafte Schwerter, Unverletzlichkeit und anderes mehr. Nein, Gott will uns so in dieser, den Menschen ausgesetzten, Weise. Gott will uns nicht als Übermenschen oder Obermenschen, sondern als Mitmenschen. Auch das entspricht nicht unserem Verlangen nach Schutz, nach Sicherheit und Wohlergehen und dennoch sind wir genau darin die Beschützten und Getragenen. So beschenkt er uns, wie seinen Propheten mit seinem Wort. Das wird uns schützen, das wird uns den Mut erhalten, das wird uns aufrichten, dann wenn wir Angst haben. So bleibt auch der Prophet auf die Gemeinschaft und die Solidarität angewiesen, die zu aller erst die Gemeinschaft und die Solidarität Gottes mit uns Menschen ist, so dass er, so dass wir in aller möglichen Einsamkeit nicht verlassen sind. Und genauso wenig, wie Jeremia zum Ja-Sager wird, trotz bitterer Erfahrung, sondern weiterhin widerspricht wenn die Mächtigen seiner Zeit ihr Heil und ihre Anerkennung im politischen Ränkespiel ihrer Zeit suchten, so könnten wir uns von Gottes Wort zur kritischen Wegbegleitung unserer kritischer Zeitgenossenschaft ausstatten lassen. Jeremia hat in aller Zumutung, die die Berufung zum Propheten für ihn bedeutete, mutig Nein gesagt und ist bei der Sache geblieben, zu der ihn Gott berufen hatte. Vielleicht kann uns Jeremia darin ein Vorbild sein, dass wir zitternd und zagend, manchmal auch nur stotternd, aber dann wenn wir auf Gottes Wort hören, uns für die Menschen neben uns stark machen, mal lauter, mal leiser, mal flüsternd. Immer aber allein darauf vertrauend, dass Gott nicht von unserer Seite weicht.

Amen.

Predigt vom 10. Juli 2011 über Jeremia 1,4-10, im Rahmen der Predigt-Gottesdienst in der Antoniterkirche in Köln, aus der Reihe „Herausgerufene“.

 


Johannes Voigtländer, Pfarramt für Berufskollegs in Köln