Liebe Gemeinde,
man könnte meinen nach dem Brand der Marthakirche vor gut zwei Wochen müsste das auch heute das Thema der Predigt sein: das Spüren der Traurigkeit und des Verlustes, das Reden über das, was geschehen ist, und über die anstehenden Sicherungsmaßnahmen, und natürlich der gegenseitige Zuspruch von Hoffnung und Ermutigung und der Blick nach vorne.
So oder ähnlich ging es mit durch den Kopf, als ich die Bibel aufschlug, um die Worte nachzulesen, die für den heutigen Sonntag als Predigttext vorgeschlagen sind. Doch im Nachdenken über das Gelesene kamen mir Gedanken, die in eine andere Richtung wiesen und ich habe beschlossen, das zuzulassen.
Die biblischen Worte wurden mir gleichsam zu einem Führer. Sie nahmen mich an der Hand und ich vertraute ihnen und ging ihnen hinterher und gelangte auf diese Weise zu einer Besinnung darüber, was den christlichen Glauben ausmacht. Ich lade Sie ein, mir auf diesem Weg, den ich in der Vorbereitung der Predigt gegangen bin, zu folgen. Lassen Sie sich bitte nicht beirren, wenn es ein bisschen länger dauert, ehe ich eben zu den biblischen Worten komme, es ist Absicht!
Vielleicht ist es am erstaunlichsten, dass mich ausgerechnet Worte, die in der gefühlten geistigen Mitte des Alten Testaments stehen, auf eine ausgesprochen christliche Spur gebracht haben. Alles fing damit an, dass ich über ein Modalverb gestolpert bin, nämlich über das Wörtchen „sollen“, genauer gesagt, über die 2.P.Sg. „du sollst“.
„Du sollst!“ Dahinter würde ich ein Ausrufezeichen schreiben. Das klingt wie ein Befehl. Du sollst - den Tisch abdecken! Du sollst - den Müll raustragen! Du sollst - leise sein! Ein Befehl wie dieser erwartet Gehorsam. Gehorsam ist eines von diesen Worten, die schwer aus der Mode gekommen sind. Und natürlich in gewisser Weise völlig zu Recht.
Denken Sie zum Beispiel an den kürzlich zurückliegenden Jahrestag des „D-Day“ im 1. Weltkrieg, an die schrecklichen Folgen, die Gehorsam („der blinde Gehorsam“) dort zeitigte. Es ist gut, dass man das heute anders sehen kann. Hat man allerdings jeden Tag mit Kindern und Schülern zu tun, mit den eigenen und mit anderen, dann kann es vorkommen, dass man sich durchaus eine Stärkung des Wertes „Gehorsam“ wünscht.
Manchmal wäre das Leben leichter, in erster Linie natürlich für die Erziehenden, auch für die Kinder, wenn nicht alles hinterfragt und begründet werden müsste, sondern Kinder einfach darauf vertrauen könnten, dass die Eltern oder Lehrer ihre guten Gründe haben, ihnen manchmal Gehorsam abzuverlangen.
Aber ich weiß, dass ich mich hier auf dünnes Eis begebe. Ich komme auch ein bisschen weg von dem, was ich eigentlich sagen wollte … Das Loblied des Gehorsams – wenn ich ehrlich bin, kann ich es selbst gar nicht uneingeschränkt singen. Denn im Gegensatz zu dem, was ich eben gesagt habe, bin ich bei den biblischen Worten, die meinen Ausführungen zugrunde liegen, ausgerechnet auf solche gestoßen, wo ich den Gehorsam verweigern müsste, weil es mir unerfüllbar erscheint.
Bei den Stichworten „du sollst“ im Zusammenhang mit dem Altes Testament, da fallen manchen unter uns die Zehn Gebote ein: „Du sollst nicht stehlen!“, „Du sollst nicht ehebrechen!“oder andere dort überlieferte Weisungen, die mit „du sollst“ beginnen. Das Besondere an diesen Weisungen oder Befehlen ist dabei das Vorwort. Denn diese „du sollst“-Worte, die an das Volk Israel ergehen und die wir als Christen ebenfalls als gültig erachten, ergehen nicht im luftleeren Raum.
Im biblischen Erzählzusammenhang sind die Zehn Gebote in einer Zusage begründet. Gott schließt erst einen Bund mit seinem Volk: „Ich bin euer Gott, ihr seid mein Volk.“ und daraus ergeben sich dann die zehn Gebote. Mit einer Erinnerung an die Heilstaten Gottes beginnen daher auch die zehn Gebote selbst: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt hat.“
„So habe ich an dir gehandelt“, spricht Gott, „und nun handle du“. In der Fachsprache nennt man das die Aufeinanderfolge von Indikativ und Imperativ. am Anfang steht der Schritt Gottes auf sein Volk zu, das „du sollst“ leitet sich daraus ab. Kurz nun nach der Liste der zehn Gebote im 5. Buch Mose finden sich die Worte, über die ich heute morgen predige. Ich lese aus dem 5. Buch Mose Kap. 6 die Verse 4-9:
„Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.“
Das sind die bekannten Worte des „Höre Israel“. „Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieb haben.“ Ich weiß nicht, ob Sie verstehen können, warum ich genau hier bei dem „du sollst“ hängen geblieben bin. Es ist ein für mich ein entscheidender Unterschied, was ich mit einem „Du sollst“ verlange. Es ist etwas anderes, ob ich sage: „Du sollst nicht töten!“ oder ob ich sage „Du sollst lieben!“
Wie soll das funktionieren? Das geht nicht – Lieben auf Befehl. Das eine schließt meiner Meinung nach das andere aus. Sicher, ich kann einen anderen Menschen respektieren, wert schätzen, mit ihm achtsam umgehen. Alles das ist möglich, wenn ich es will und auch, wenn ich es muss, aber einen Menschen lieben müssen – das geht nicht.
Was für die Liebe zu einem Menschen gilt, das gilt doch genauso oder noch vielmehr für die Liebe zu Gott. „Du sollst Gott lieben und dann auch noch von ganzem Herzen, von ganzer Seele und ganzer Kraft.“ Das kann man von keinem Menschen verlangen. Sie sehen, das „Du sollst!“ an dieser Stelle stört mich. Aber gleichzeitig will ich die biblischen Worte ernst nehmen und nicht leichtfertig weglassen, was mir nicht in den Kram passt.
Zuerst überlegte ich, ob es vielleicht kein richtiger Befehl ist. Dass das „Du sollst“ eher zu verstehen ist als „wenn es dir möglich ist und wenn es dir recht ist, dann könntest du …“ Aber im Vergleich mit den Zehn Geboten musste ich diese Auslegung fallen lassen. Zwischen dem „Du sollst!“ bei „Du sollst Vater und Mutter ehren!“ und dem „Du sollst!“ bei „Du sollst lieben!“ liegt für mich kein qualitativer Unterschied.
Für mich wurde dieses „Du sollst“ als Befehl erst erträglicher, als ich darüber nachdachte, wie Liebe eigentlich entsteht. Liebe ist einfach da, ganz spontan, oder die Liebe wächst in einem Menschen, mit der Zeit. Wie oft lässt sich für Liebe überhaupt kein vernünftiger Grund angeben. Du weißt nicht, woher sie kommt und warum, sie ist einfach da und verlangt ihr Recht, oft schwer zu kontrollieren. Manchmal ist da Liebe, gegen die sich der Verstand sträubt, und doch ist sie da, die Liebe, eine „Himmelsmacht“.
Und wie ist es nun mit der Liebe zu Gott?
Ist es nicht gerade die bahnbrechende Erkenntnis der Reformatoren gewesen, dass die Liebe zu Gott, in diesem Fall anders genannt, nämlich Glaube an Gott, nicht von einem Menschen gemacht werden kann? Dass sie nicht in des Menschen Hand und Vermögen liegt? Bei Paulus, dessen Worte ja gleichsam durch die Reformatoren wiederentdeckt worden sind, heißt es im 1. Korintherbrief: „Einen anderen Grund kann niemand legen, als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“ (1. Kor 3,11)
Hier sind wir an einen Punkt angelangt, der mir ganz persönlich in meinem Glauben sehr wichtig ist. Warum glaube ich eigentlich, warum glaubt „man“? Da sehe ich mich ganz in der Tradition des Paulus. Der Glaube ist in mich hineingelegt worden, ohne mein Zutun. Er ist so in mich hineingelegt, dass er nun der Grund meines Lebens ist und meine Existenz ausmacht.
Christus ist in mich hineingelegt worden. Ich könnte auch sagen, er hat sich selbst in mich hineingelegt und so bin ich das geworden, was ich bin, eine Christin. An dieser Grundlegung, an diesem Fundament, führt für mich kein Weg vorbei. Ohne dass sich Christus selbst in mich hineinlegt, kann ich nicht glauben.
Ja, ich glaube, dank Christi, und ich denke, viele von Ihnen können diesen Satz auch sprechen „Ja, ich glaube“ und das ist ein Anlass zum Danken und zum sich Freuen, aus dem tiefsten Grund unseres Herzens und unseres Lebens heraus. Es ist ein „Geheimnis des Glaubens“, und es ist gleichzeitig das Wesentliche. Mit diesem „Geheimnis des Glaubens“ ausgestattet will ich noch einmal auf das „du sollst“ zurückblicken, mit dem alles anfing.
Nur so nämlich kann ich mich mit dem „Du sollst lieben!“ aussöhnen, aber ich sage gleich, nur ansatzweise!, indem ich das „Du sollst lieben!“ verstehe als eine selbstverständliche Reaktion meinerseits auf die mir großartige erwiesene Liebe Gottes und auf das Geschenk des Glaubens.
Wer so überreich bekommen hat, der kann nicht anders als Gott zu lieben und das mit dem ganzen Einsatz von Körper, Geist und Seele! „Du sollst lieben“ ist dann aus dieser Perspektive nicht ein Befehl, sondern eine Erinnerung daran, was Christsein ausmacht.
Mir selbst ist im Grübeln über das „Höre Israel“ Grundlegendes klar geworden. Sicher, das Nachdenken dürfte jetzt eigentlich noch nicht aufhören, sondern müsste an dieser gewonnenen Erkenntnis neu seinen Ausgang nehmen.
Des Nachdenkens wert wäre auf jeden Fall, warum ich mir des Glaubensgeschenkes so freudig sicher bin, aber in dem Zeigen der Dankbarkeit so dermaßen nachlässig. Manchmal frage ich mich: Kann man mich als Christin überhaupt erkennen? Lebe ich meinen Glauben wirklich? Kann man da von außen überhaupt etwas wahrnehmen? Ein weiterer Gedanke, der sich unweigerlich aufdrängt, ist die Frage, warum manchen Menschen das Geschenk des Glaubens nicht zuteil wird. Wie kann man das begreifen?
Das lohnt das Grübeln und Nachfragen, aber den Rahmen meiner Predigt heute würde es sprengen. Und so will ich mit einer leichten Abwandlung der Worte schließen, die es mir heute morgen so schwer und dann wieder so leicht gemacht haben:
„Liebe deinen Gott, denn er hat dich zuerst geliebt! Liebe ihn von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.“
Amen.
Gehalten am 22. Juni 2014 in St. Klara in Nürnberg