im Predigt-Gottesdienst nach reformierter Tradition in der Antoniterkirche Köln im Rahmen der Predigtreihe „Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein“ (Gen 12,2) – Geschichten von Abraham und Sarah
am Palmsonntag, 13. April 2014
Liebe Gemeinde,
was ist nur aus all den Verheißungen geworden? Im Großen wie im Kleinen: Als vor 25 Jahren der „eiserne Vorhang“ fiel, da bestand Hoffnung, der „kalte Krieg“, der Europa zerriss, sei beendet. Für manche schien schon fast der „ewige Friede“ angebrochen, das „Ende der Geschichte“ erreicht. Heute befinden wir uns wieder mitten in einem „kalten Krieg“ – übrigens nicht erst seit der Annexion der Krim durch Russland, sondern schon seit vielen Jahren –, in einem kalten Krieg, der jederzeit in einen heißen Krieg umzuschlagen droht, wenn die Politiker in Ost und West nicht umkehren von ihren Wegen der verbalen Aufrüstung, der Drohungen, des Hochschaukelns mit Sanktionen und Waffengeklirr.
Was ist nur aus all den Verheißungen geworden? Auch in unserem kleinmenschlichen Einzelleben: Was ist aus all den Jugendträumen geworden? Waren das nicht doch nur Illusionen, die enttäuscht werden mussten? Resignation macht sich breit.
Wir feiern heute Palmsonntag, an dem wir uns an den verheißungsvollen Einzug Jesu in Jerusalem erinnern: Die Leute streuen ihm „Palmen und grüne Zweige hin“ (EG 11,2), sie rufen ihm hoffnungsfroh „Hosianna“ zu, errette uns doch, Du Sohn Davids, als er auf dem Esel reitend in Jerusalem einzieht. Doch nur wenige Tage später sind alle Hoffnungen zerstoben: Jesus sieht sich von allen verlassen, stirbt hinausgedrängt aus der Welt den schmachvollen Tod am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Ps 22,2) Was ist nur aus all den Verheißungen geworden?
In der Erfahrung Jesu und seiner Anhänger spiegelt sich die geschichtliche Erfahrung des Volkes Israel: Nach verheißungsvollen Anfängen unter David und Salomo bricht der jüdische Staat zusammen, Jerusalem wird von den Babyloniern erobert, Tempel und Stadt zerstört und ein großer Teil des Volkes in die Verbannung verschleppt. Da greift Hoffnungslosigkeit um sich, so dass ein Prophet fragt: „Warum sagst du, Jakob, und sprichst du, Israel, ‚Mein Schicksal ist vor dem EWIGEN verborgen, und meinem Gott entgeht mein Recht?‘“ (Jes 40,27) Was ist nur aus all den Verheißungen geworden?
In unserem Predigttext, den die Vorbereitungsgruppe für diesen Sonntag im Rahmen der Predigtreihe über „Geschichten von Abraham und Sara“ ausgewählt hat, geht es auch um eine Verheißung. Er steht im 15. Kapitel des 1. Buches Mose (Genesis):
(1) Nach diesen Begebenheiten erging das Wort des EWIGEN an Abram in einer Schauung: Fürchte dich nicht, Abram, ich bin dein Schild. Dein Lohn wird sehr groß sein.
(2) Abram aber sprach: Mein Herr, EWIGER, was willst du mir geben, da ich kinderlos dahingehe und Elieser aus Damaskus Erbe meines Hauses wird?
(3) Und Abram sprach: Du hast mir keinen Nachkommen gegeben; so wird mein Haussohn mich beerben.
(4) Aber sieh, es erging an ihn das Wort des EWIGEN: Nicht dieser wird dich beerben, sondern dein leiblicher Sohn, er wird dein Erbe sein.
(5) Und er führte ihn nach draußen und sprach: Blicke auf zum Himmel und zähle die Sterne, wenn du sie zählen kannst. Und er sprach zu ihm: So werden deine Nachkommen sein.
(6) Und er vertraute dem EWIGEN, und das rechnete er ihm als Bewährung an.
(7) Und er sprach zu ihm: Ich bin der EWIGE, der dich aus Ur in Chaldäa herausgeführt hat, um dir dieses Land zum Erbe zu geben. (…)
(12) Als aber die Sonne sank, fiel ein Tiefschlaf auf Abram, und sieh, Schrecken, große Finsternis, fiel auf ihn.
(13) Da sprach er zu Abram: Erkennen sollst du, erkennen, dass deine Nachkommen Fremde sein werden in einem Land, das nicht das ihre ist; und sie werden ihnen dienen, und man wird sie unterdrücken, vierhundert Jahre lang.
(14) Doch auch das Volk, dem sie dienen müssen, ziehe ich zur Rechenschaft, und danach werden sie mit reicher Habe ausziehen.
(15) Du aber wirst in Frieden zu deinen Vorfahren eingehen, in schönem Alter wirst du begraben werden. (…)
(18) An jenem Tag schloss der EWIGE mit Abram einen Bund, er sprach: Deinen Nachkommen gebe ich dieses Land (…)
Liebe Gemeinde, ist dies nicht ein verwirrender Text? Kaum hat die Geschichte von Abraham und Sara angefangen, scheint sie schon wieder an ihr Ende gekommen zu sein. Von dem verheißenen Segen ist dabei nicht viel sichtbar geworden.
Abraham, der hier noch Abram heißt, ist verunsichert: Einst hat ihn der EWIGE, aus seiner Verwandtschaft und aus seinem Land, aus Ur in Chaldäa, das ist Babylon, herausgerufen in ein unbekanntes Land und ihm große Nachkommenschaft verheißen. Abram war dem Ruf gefolgt, denn Gott hatte ihm versprochen: „Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein“ (Gen 12). Und nun? Abram und seine Frau Sara sind alt; sie haben zwar das ihnen verheißene Land erreicht, leben dort aber immer noch als Fremde, bedroht von den einheimischen Königen. Immerhin: Wie die Predigt vor einem Monat gezeigt hat, hatte Gott ihm einen wundersamen Sieg über die Könige des Landes geschenkt; und mit Melchizedek, dem „gerechten König“ von Salem, dem späteren Jerusalem, hatte er einen Friedensbund geschlossen (Gen 14). Aber die verheißene Nachkommenschaft ist doch ausgeblieben. Abram und Sara werden kinderlos sterben; und das wird es gewesen sein mit der Verheißung und dem Segen.
Da geschieht es plötzlich: Abram hat eine Vision, einen Traum, eine Schauung. Wie damals in Chaldäa redet der EWIGE erneut mit ihm wie mit einem Freund: „Fürchte dich nicht! Ich bin dein Schild.“ Wie Gott ihn vor den Königen des Landes gerettet hatte, so wird er ihn auch vor künftigen Gefahren bewahren. Was auch kommen mag, nichts wird ihn mehr vom EWIGEN trennen können.
Und Abram reagiert ganz offen, wie man nur mit einem Freund redet, indem er seine Resignation nicht verschweigt: „Was willst du mir schon geben?“ Aus der verheißenen Nachkommenschaft ist ja wohl nichts geworden, so dass alles, was Gott ihm noch geben könnte, Abrams Haussklaven Elieser aus dem syrischen Damaskus als Erbe zufallen würde. Gott schweigt, so dass Abram es noch einmal deutlicher sagen muss: „Du hast mir keinen Nachkommen gegeben; so wird mein Haussohn mich beerben.“
Jetzt antwortet der EWIGE. Das kann er nicht auf sich sitzen lassen; er widerspricht: „Nicht dieser wird dich beerben, sondern dein leiblicher Sohn, er wird dein Erbe sein.“ Die Verheißung der Nachkommenschaft ist also nicht vergessen, so unwahrscheinlich sie angesichts des fortgeschrittenen Alters Saras auch sein mag. So braucht der EWIGE ein starkes Mittel, um die Verheißung zu bekräftigen: Er führt Abram mitten in der Nacht nach draußen vors Zelt und lässt ihn zum Himmel aufblicken. Und das ist ein Himmel der noch nicht durch die Lichtverschmutzung unserer modernen Großstädte getrübt ist, sondern der klare Sternenhimmel über der orientalischen Steppe, funkelnd und glitzernd von unzählbaren Sternen: „So werden deine Nachkommen sein.“
Das ist unglaublich. Anders als Abram wissen wir, wie die Geschichte weitergeht: Abram wird zunächst einen Sohn mit Hagar, der ägyptischen Magd Saras, zeugen, um die Verheißung leiblicher Nachkommenschaft zu verwirklichen (Gen 16). Ismael – „Gott erhört“, der Wildeselmensch – wird der Stammvater der Ismaeliten, aus denen die Araber hervorgehen werden. Aber er ist nicht derjenige, der der verheißene Erbe sein soll. Das wird Isaak – „Er lacht“ –, der Sohn der alten Sara sein (Gen 21). Mit ihm wird die Verheißungsgeschichte durch die Generationen der leiblichen Nachkommenschaft Abrahams und Sarahs weitergehen.
Wie gesagt: Abram weiß nichts von alledem. Und doch fährt unser Text mit einem Satz fort, der in der christlichen Tradition eine enorme Wirkungsgeschichte entfaltet hat: Abram „glaubte dem HErrn, und das rechnete er ihm zur Gerechtigkeit an“. So hat den Vers Martin Luther übersetzt. Daraus hat die evangelische Tradition dann – in Anknüpfung an die Auslegung des Verses bei Paulus (Gal 3,6; Röm 4,3) – die Lehre von der Gerechtigkeit „allein aus Glauben“ gemacht, „ohne Werke des Gesetzes“. Abram glaubte ja doch der ganz unglaublichen Verheißung Gottes zu einem Zeitpunkt, da er noch kein Gesetz Gottes kannte! Gerechtigkeit ist dann der Lohn für einen geradezu paradoxen Glauben: Ich glaube, weil es absurd ist.
„Unsere Stelle hat damit nichts zu tun.“ So widerspricht hier ein jüdischer Ausleger. Zu unrecht meinten die christlichen Ausleger, dass es sich hier um ein „vorchristliches Schriftzeugnis“ dafür handele, „dass der Mensch nicht auf dem Wege des Gesetzes, sondern“ allein aus Glauben vor Gott gerechtfertigt sei. Doch weder sei das hebräische Wort hä’ämin „Glauben“, noch das hebräische Wort zedaka „die Rechtfertigung des Paulus“ (Benno Jacob).
In Anlehnung an jüdische Übersetzungen habe ich die Stelle so gelesen: „Und er vertraute dem EWIGEN, und der rechnete es ihm als Bewährung an.“ In der Tat meint nämlich das hebräische Wort, das die christliche Tradition mit „Glauben“ übersetzt, ein herzliches Vertrauen, ein Sich-Verlassen auf einen Anderen, ein „Sich-Festmachen“ in Gott, auch Treue ihm gegenüber. Meist bezieht es sich „auf ein erst künftiges heilsgeschichtliches Handeln Gottes“. In diesem Sinn ist Abraham zum Vorbild des Glaubens geworden, weil er einer Verheißung Gottes vertraut, obwohl er in seinem Leben nichts sieht, was dafür sprechen könnte (vgl. Hebr 11,8-12.17-19). Und was die christliche Tradition mit „Gerechtigkeit“ und „Rechtfertigung“ übersetzt, ist ein Begriff, der „ein Gemeinschaftsverhältnis“ zum Ausdruck bringt, Bewährung in der Gemeinschaft: „Gerecht ist Gott, sofern er sich dem Menschen zuwendet. Der Mensch ist gerecht, sofern er … den Bund und die Gebote bejaht“ (Gerhard von Rad).
So wäre es doch wohl ein Missverständnis, diesen einen Vers zur Definition eines evangelischen Prinzips „allein aus Glauben – ohne Werke des Gesetzes“ zu missbrauchen. Der von Luther weniger geschätzte Jakobusbrief bietet denn auch eine alternative Auslegung an: „Was nützt es, meine Brüder, wenn jemand sagt, er habe Glauben, aber keine Werke hat? … Ist nicht Abraham, unser Vater, aus Werken gerechtfertigt worden, ‚da er Isaak, seinen Sohn, auf dem Altar darbrachte‘? Du siehst, der Glaube wirkte mit seinen Werken zusammen, und aus den Werken gewann der Glaube die Vollendung. Und die Schrift wurde erfüllt, die da sagt: ‚Abraham aber vertraute Gott, und es wurde ihm als Bewährung angerechnet‘, und er wurde ‚Freund Gottes‘ genannt“ (Jak 2,14.21-23).
„Freund Gottes“, so heißt Abraham übrigens auch im Koran: „Wer hat einen schöneren Glauben als jener, der sich Gott ergibt, der Gutes wirkt und der dem Bekenntnis Abrahams, des Aufrechten im Glauben, folgt? Und Gott nahm sich Abraham zum Freund“ (Sure 4,126). Wodurch wurde Abraham zum Freund Gottes? Er hat Gott vertraut, und seinem herzlichen Vertrauen entsprach sein Leben, seine Handlungen in Treue gegenüber Gott. So war er dem Ruf des EWIGEN aus Ur in Chaldäa gefolgt, und so wird er auch seinem Ruf folgen, als dieser ihm seinen leiblichen Sohn – wie es scheint – wieder wegnehmen will. Bewährung der Gemeinschaft, auf Gottes Ruf hören und ihm folgen – das ist kein bequemes Leben. Im Gegenteil: Es führt schon in der Fortsetzung unseres Predigttextes durch Schrecken und große Finsternis.
In einem merkwürdigen Ritual, mit dem in biblischen Zeiten wohl Vertragsabschlüsse zwischen Bundesgenossen beglaubigt wurden (vgl. Jer 34,18), soll Abram Tiere zerschneiden und die Teile paarweise einander gegenüberlegen. Doch Raubvögel stürzen sich auf die Stücke, und Abram muss sie abwehren. Die Szene bringt höchste Gefahr zum Ausdruck. Die Sonne sinkt, Abram fällt in einen todesähnlichen Schlaf, Schrecken und große Finsternis greifen um sich.
Wir feiern heute Palmsonntag, den Beginn der Passionswoche, in der wir uns an das Leiden und den Kreuzestod Jesu erinnern. Und wir gehen damit auf Ostern zu: Gott hat seinen Sohn nicht im Grab belassen, sondern von den Toten auferweckt: „Er hat [den Armen] gehört, als er zu ihm rief“ (Ps 22,25).
In der Prophetenlesung, die unserem Text in jüdischer Tradition zugeordnet ist, reißt der Exilsprophet die Verschleppten aus der tödlichen Resignation: „Du aber, Israel, mein Knecht, du, Jakob, den ich erwählt habe, du, Spross Abrahams, meines Freundes! Du, den ich von den Grenzen der Erde geholt und aus ihrem äußersten Winkel berufen habe! Zu dir sprach ich: ‚Mein Knecht bist du, ich habe dich erwählt und nie verworfen‘“ (Jes 41,8f.).
So wird auch Abram nicht im Todesschlaf allein gelassen. Gott redet erneut zu seinem Freund: „Erkennen sollst du, erkennen, dass deine Nachkommen Fremde sein werden in einem Land, das nicht das ihre ist. Und sie werden ihnen dienen, und man wird sie unterdrücken, vierhundert Jahre lang.“ Gottes Verheißung liegt im Kampf mit den ungerechten Verhältnissen. So wird hier bereits auf die Knechtschaft und Gefangenschaft des Volkes Israel unter dem ägyptischen Pharao angespielt. Der Weg zum Leben führt durch den Tod. Doch zugleich ist Hoffnung auf Befreiung vorhanden: „Auch das Volk, dem sie dienen müssen, ziehe ich zur Rechenschaft“. Und das Volk Israel wird aus dem Sklavenhaus befreit werden.
Als die Sonne ganz untergegangen ist, in der Finsternis, ziehen ein rauchender Backofen und eine brennende Fackel durch die Stücke hindurch – Andeutung der Präsenz Gottes mitten im Ritual des Bundesschlusses. Und so heißt es am Schluss: „An jenem Tag schloss der EWIGE mit Abram einen Bund, er sprach: Deinen Nachkommen gebe ich dieses Land …“ So wird mit der Verheißung der Nachkommenschaft zugleich das Erbe des Landes bekräftigt, in dem Abram zwar als Nomade umherzieht, von dem er aber nichts besitzt. Erst beim Tode Saras wird er eine Grabstelle für sie als ersten Anteil am Land von seinem Nachbarn erwerben (Gen 23).
Es gibt keinen Grund, alle Hoffnung fahren zu lassen. Wir können und dürfen sogar etwas dafür tun, die Hoffnung leuchten zu lassen. Das wäre ein Glaube, ein Vertrauen, eine Gemeinschaftstreue, die als Bewährung gelten kann. „Es ist unendlich viel Hoffnung vorhanden, nur nicht für uns“, hat Franz Kafka einmal im Blick auf den Traditionsverlust in der Moderne formuliert. Im Blick auf Abram, den Freund Gottes, den Vater des Glaubens, der bald Abraham sein wird, Vater einer Menge von Völkern, in dem „alle Sippen der Erde gesegnet sein werden“ (Gen 12,3), – im Blick auf Abram dürfen wir sagen: Es ist unendlich viel Verheißung vorhanden – nicht nur für die leiblichen Nachkommen Abrahams und Saras, sondern auch für uns, die wir „geistlich“ Abrahams Kinder sind!
Amen.