Es ist nicht leicht, in wenigen Minuten und in einer für mich in einer Fremdsprache gehaltenen Predigt den Text des Lukas-Evangeliums (Lk 22, 14-20), der mehrere auffällige Besonderheiten aufweist – wie etwa die V. 15-18 und insbesondere die erste Rede über den Kelch, V. 17 – und den Heidelberger Katechismus zusammenzufügen.
Die Abendmahlslehre des Heidelberger Katechismus darf auch nicht „gepredigt“ werden. Wir können sie aber auch nicht einfach wiederholen: auch der Heidelberger Katechismus muss historisch-kritisch ausgelegt werden. Und nicht nur wegen der berühmten Frage 80, wo die römisch-katholische Messe als „vermaledeite Abgötterei“ abgestempelt und verworfen wird. Die Notwendigkeit einer kritischen Exegese des Heidelberger Katechismus zeigt sich z.B. in der folgenden Stellungnahme des Moderamens des Reformierten Bundes: „Diese [in der Frage 80 enthaltene] Verwerfung lässt sich nach Inhalt und Sprache in dieser Form nicht aufrechterhalten“.
Auf der anderen Seite, können wir mehrere Äußerungen des Heidelberger Katechismus immer noch teilen und uns aneignen: wenn es um das Dilemma Altar oder Tisch geht, würden wir uns bestimmt für den Tisch entscheiden, da das Abendmahl kein Opfer ist, sondern eine Gabe, die wir nur mit leeren Händen, sogar mit schmutzigen Händen, bekommen und, die uns „an dem einzigen Opfer Christi am Kreuz und allen seinen Gaben Anteil“ gibt (Heidelberger Katechismus Frage 75).
So habe ich mich entschieden, mit euch drei provozierende Perspektiven zu teilen, die m. E. aus dem Lukastext zu gewinnen sind. Keine Thesen, sondern eben Perspektiven, Einsichten, die uns eine ungewöhnliche Fragestellung eröffnen. Manchmal brauchen wir gerade eine neue Fragestellung, um alte Probleme lösen zu können.
1. Vom Teilen des Kelches als gemeinschaftstiftender Geste zum kirchentrennenden Sakrament.
Lukas stellt den zwei Deuteworten auf Brot (V. 19) und Kelch (V. 20) - deren Inhalt er mit Markus, Matthäus und Paulus (1.Kor 11,23ff.) teilt - ein weiteres Wort voran: „Nehmt diesen [Kelch] und teilt [ihn] untereinander: Von jetzt an werde ich nicht mehr von der Frucht des Weinstocks trinken, bis das Reich Gottes kommt“ (V. 17f.)
Durch das Teilen des Kelches wird die Gemeinschaft „unter euch“ gegründet.
Dass es um tieferreichende Gemeinschaft geht, ergibt sich auch aus dem Vergleich mit dem traditionellen jüdischen Passamahl: die Mahlgäste trinken zusammen und gleichzeitig, aber jeder aus seinem Becher. Jesus weist auf einen einzigen, gemeinsamen Kelch hin, der untereinander zu teilen ist. Das Teilen eines einzigen von Jesus zugereichten Kelches schafft Gemeinschaft untereinander.
Die ganze Kirchengeschichte widerspricht aber bis heute diesem Befehl Jesu. Nicht nur weil es Gottesdienste gab und immer gibt, wo der Kelch den zelebrierenden Priestern vorbehalten ist. Das Abendmahl als solches darf bis heute nicht unter uns Christen verschiedener Konfessionen geteilt werden. Unter uns – wenn wir unter uns „alle Christen“ verstehen – gibt es Ausgrenzungen, was das Teilen des Abendmahls angeht. Man kann sogar sagen – und das ist nicht zu zugespitzt formuliert – dass das Abendmahl kirchentrennend geworden ist.
Gott sei Dank, das gilt nicht mehr unter uns reformatorischen Christen. Wir dürfen aber nicht die lange Geschichte der getrennten und oft gegeneinander polemisch gesinnten evangelischen Konfessionen vergessen. Uns daran zu erinnern ist notwendig, um in einem Geist der Buße und der Dankbarkeit die seit Leuenberg 1973 (das ist nun 40 Jahre her) anerkannte Gemeinschaft am Tisch des Herren zu schätzen zu wissen, d.h. als spät erreichte Versöhnung.
Insgesamt aber - sogar nach vielen Jahrzenten gelebter Ökumene - bleibt das Abendmahl, sowohl in der Lehre als auch in der Praxis, kirchentrennend. Was die Jünger unter sich teilen sollen wird als ausgrenzend erlebt und angewandt. Was uns am tiefsten vereinen sollte bleibt eine unerreichbare Dimension. Die meisten ökumenischen Gottesdienste bleiben ohne geteilten Kelch. Und selbstverständlich auch ohne geteiltes Brot. Jesus sagte und sagt immer noch: „für euch gegeben“, wir dürfen aber nicht gemeinsam das Brot empfangen, das für uns da ist. Ich glaube wir haben noch alle die peinliche Situation vor Augen, die den Berliner ökumenischen Kirchentag gekennzeichnet hat. Um von den interkonfessionellen Ehen zu schweigen.
F. Bovon hat in seinem Lukas-Kommentar[1] das Untereinanderteilen des einzigen Kelches so gedeutet: „sich solidarisch zu fühlen … Jesu Abwesenheit wettzumachen … ermutigt von der symbolischen, stärkenden und festlichen Kraft des Weines auf die Zukunft zu warten.“[2] Muss man daraus folgern, dass eine Christenheit, die das Teilen von Kelch und Brot als kirchentrennend immer noch erlebt, eine solche ist, die Ausgrenzung statt Solidarität erfährt und praktiziert, die verzagt in die Zukunft geht, die in der Abwesenheit ihres Herren lebt?
2. Haben wir uns vergeblich den Kopf zerbrochen?
„Und nachdem er ein Brot genommen und gedankt hatte, brach er es und gab es ihnen mit den Worten: «Dies ist mein Leib, der für euch gegeben wird. Tut dies zu meinem Gedächtnis»“ (V. 19). Man hat sich den Kopf zerbrochen um zu verstehen, wie das Brot der Leib Christi sein kann, wie es im Abendmahl zum Leib Christi wird, wie sich die Heilswirkung des Gekreuzigten authentisch vergegenwärtigt, wie die Präsenz Christi im Brot vertreten wird … Man hat von „Elementen“ und von „Substanz“ geredet. Die Versuche, die Realität der Identifizierung von Leib Christi und Brot, von Blut Christi und Wein zu verstehen, haben die Christenheit gespalten, sogar innerreformatorisch: man denke nur an Luther („est“) gegen Zwingli („significat“). Man denke an die Äußerungen des Heidelberger Katechismus gegen die römisch-katholische Transsubstantiationslehre:
Frage 78
Werden denn Brot und Wein in Leib und Blut Christi verwandelt?
Nein.
Wie das Wasser bei der Taufe
nicht in das Blut Christi verwandelt wird
oder selbst die Sünden abwäscht,
sondern Gottes Wahrzeichen
und Pfand dafür ist,
so wird auch das Brot im Abendmahl
nicht der Leib Christi,
auch wenn es in den Worten,
die beim Abendmahl gebraucht werden,
als der Leib Christi bezeichnet wird.
Bei dieser heftigen Diskussionen hat sich alles um ein Verb mit drei Buchstaben gedreht: „dies/das ist mein Leib“.
Es gibt zuerst eine exegetische Frage: Worauf bezieht sich das „dies“? Auf das Brot?[3] Oder bezieht es sich „auf den Vorgang des Brechens und Verteilens des Brotes“[4]? Vielleicht ist die genauere Deutung die, die das „dies“ „nicht nur auf das Brot als «Element», sondern auch darauf, das Jesus es den Jüngern «gibt»“ bezieht.[5] Wie das gebrochene Brot an die Jünger gegeben wird, so wird auch der Leib Christi für die Jünger gegeben.
Wir wissen heute, dass wir die uns bekannte jüdische Passaliturgie nicht in die Zeit des Lukas und schon gar nicht in die Zeit Jesu übertragen dürfen. Eins aber kann m.E. geltend gemacht werden. Jesus hat den Satz „dies ist mein Leib“ bestimmt nicht in griechischer Sprache formuliert, sondern in aramäisch. Für eine solche Formulierung, sowohl auf Hebräisch als auch auf Aramäisch wird die Kopula, d.h. das Verb „sein“ nicht gebraucht. Die Kopula „Sein“ wird nur gebraucht, um ein Ereignis zum Ausdruck zu bringen, nicht die einfache Zusammenfügung zweier Nomina oder eines Nomens und eines Adjektivs: so z. B. in Gen 28,17. Nachdem er in Bethel eine Leiter auf Erden, die mit der Spitze an den Himmel rührte und an der die Engel Gottes auf- und niederstiegen, geträumt hat, sagt Jakob: „Dieser Ort - nichts anderes als das Haus Gottes und das Tor des Himmels.“ Wir finden in der jüdischen Haggadah einen Satz, der dem von Jesu ähnelt und der auch vom „Brot“ redet: „Dieses [ist] das armselige Brot, das unsere Väter im Land Ägypten gegessen haben. Alle, die hungrig sind, sollen kommen und essen. Alle, die Mangel leiden, sollen kommen und mit uns feiern – dieses Jahr hier und nächstes Jahr in Israel; dieses Jahr als Sklavinnen und Sklave und nächstes Jahr als freie Menschen.“
Im aramäischen Satzbau fehlt das Wort „ist“, die Kopula: „Dieses - das armselige Brot, das unsere Väter im Land Ägypten gegessen haben.“ Keine Verwandlung des Brotes, sondern eine Vergegenwärtigung der Geschichte der Befreiung. Ähnlich hat Jesus von dem Brot gesprochen, das er gebrochen hat (übrigens auch das jüdische Wort über das armselige Brot folgt dem Brechen einer Mazza [ungesäuertes Brot] in zwei Teile: „Dies - mein Leib, das für euch gegeben wird“).
Die Worte Jesu sind aber in griechischer Sprache überliefert worden, und deshalb ist das Verb „sein“ mit Fragen belastet, die in der Kirchengeschichte stark debattiert worden sind und die uns bis heute beschäftigen.
Frage 79 des Heidelberger Katechismus bringt die klassisch reformierte Interpretation zum Ausdruck:
Warum nennt denn Christus das Brot
seinen Leib und den Kelch sein Blut
oder nennt den Kelch den neuen Bund
in seinem Blut, und warum spricht
Paulus von der Gemeinschaft
des Leibes und Blutes Jesu Christi?
Christus redet so nicht ohne große Ursache.
Er will uns damit lehren:
Wie Brot und Wein das zeitliche Leben erhalten,
so sind sein gekreuzigter Leib
und sein vergossenes Blut
die wahre Speise und der wahre Trank
unserer Seele zum ewigen Leben.
Darüberhinaus will er uns
durch dieses sichtbare Zeichen und Pfand
gewiß machen,
daß wir so wahrhaftig durch seinen Heiligen Geist
an seinem Leib und Blut Anteil bekommen
wie wir diese heiligen Wahrzeichen
mit unserem Mund zu seinem Gedächtnis
empfangen.
All sein Leiden und sein Gehorsam
sind uns so gewiß zugeeignet,
als hätten wir selbst
das alles gelitten und vollbracht.
Wie erklärt sich die Erwähnung des Heiligen Geistes, der in den 4 neutestamentliche Texten über die Einsetzung des Abendmahls nicht vorkommt? Der Geist spielt in der reformierten Abendmahlslehre eine besonders zugespitzte Rolle, auch wegen der starken Betonung der epochalen Relevanz der Himmelfahrt Christi. Der Auferstandene ist nicht mehr mitten unter uns, er sitzt mit Gott („im Himmel“) und von dort wir er am Ende wiederkommen. Die Zeit zwischen Himmelfahrt und glorreicher Wiederkunft des Herrn ist die Zeit seiner körperlichen Abwesenheit. Wenn es keine Verwandlung des Brotes und des Weines gibt, dann muss die Wirksamkeit der Zeichen, die Jesus uns gegeben hat als „Realsymbole“ ein Werk des Heiligen Geistes sein.
Diese besonders reformierte Akzentuierung wird in der Frage 76 deutlich:
Was heißt,
den gekreuzigten Leib Christi essen
und sein vergossenes Blut trinken?
Es heißt nicht allein,
mit gläubigem Herzen
das ganze Leiden und Sterben Christi annehmen
und dadurch Vergebung der Sünde
und ewiges Leben empfangen,
sondern auch,
durch den Heiligen Geist,
der zugleich in Christus und in uns wohnt,
mit seinem verherrlichten Leib
mehr und mehr vereinigt werden,
so daß,
obgleich er im Himmel ist
und wir auf Erden sind,
wir doch ein Leib mit ihm sind
und von einem Geist
ewig leben und regiert werden.
Soweit die reformierte Abendmahlstheologie nach dem Heidelberger Katechismus.
Die ökumenische Debatte zielt darauf, eine gemeinsame Interpretation des Verbs „ist“ zu erreichen. Könnte uns die heute nicht mehr konfessionell geprägte und für die jüdische Tradition offene Exegese dabei neue Perspektiven eröffnen? Sollten wir nicht versuchen, die Originalität der Abendmahltexte des Neuen Testamentes stromaufwärts von den späteren Deutungen wieder zu entdecken?
3. „Erinnerung und Verheißung“ hilfreicher als „Realpräsenz“?
Die ganze ökumenische Diskussion ist vom Begriff „Realpräsenz“ geprägt und getragen. Die allererste und entscheidende Frage lautet: „Wie versteht deine Kirche die Realpräsenz Christi in der Eucharistie? Handelt es sich nur um eine symbolische Handlung?“
Die Realpräsenz ist für uns fast zu einer Obsession geworden. Im Lukastext aber geht es paradoxerweise um die Abwesenheit Christi. Zwischen dem Passa, das Jesus aus „tiefstem Verlangen“ mit seinen Jünger gefeiert hat und dem neuen Passa des Reiches Gottes, wird das Brechen des Brotes „zu derjenigen Handlung, durch die Jesus in der Zeit seiner Abwesenheit unter den Jüngern im Wege der Erinnerung vergegenwärtigt wird.“ [6] Das Brot ist „nicht der für den Jünger gegeben Jesu selbst; es ist aber die authentische Vergegenwärtigung von dessen Heilswirkung.“[7] Das Brotbrechen ist „von Erinnerung und Verheißung gleichermaßen getragen: Es hält die Erinnerung daran wach, dass Gott mit Jesus an Israel zum Heil in einem Maßstab gehandelt hat, der dem Maßstab der Befreiung seines Volkes aus Ägypten entspricht … und es vergegenwärtigt die Verheißung, dass Gott sein Volk, das er sich aus Juden und Heiden erwählt hat, bei der Parusie (Wiederkunft) Jesu von aller Unterdrückung und von allem Leid endgültig befreien wird.“ [8]
Das Abendmahl ist für die Zeit zwischen „schon“ und „noch nicht“ – um die schöne Formulierung von Oskar Cullmann wieder aufzunehmen – von Bedeutung. Um Jesu Abwesenheit wettzumachen sind uns Brot und Kelch gegeben, die Lücke wird durch Erinnerung auf der einen Seite, und Verheißung auf der anderen begrenzt. Erinnerung und Verheißung bilden ein Spannungsfeld, in dem wir Christus und seine Heilswirkung nicht vermissen. Das gebrochene und für uns gegebene Brot ist kein austauschbares Zeichen oder ein bloßes Sinnbild, sonder ein Realsymbol, das die Hingabe Christi unter uns vergegenwärtigt.
Auch in diesem Falle sollen wir uns ernsthaft fragen, ob wir nicht den herkömmlichen Wortschatz (Präsenz, Substanz, Elemente, Sakrament) vermeiden sollten, um stromaufwärts, den Wortschatz und die Kategorien der biblischen Sprache wiederzuentdecken und wahrzunehmen. Vielleicht können wir nur durch die Relativierung unserer theologischen Konzepte erfolgreich die Dimensionen der Erinnerung und der Hoffnung wiederentdecken, von der heilbringenden Spannung leben, die sich zwischen Erinnerung und Hoffnung ereignet und sogar unter uns Kelch und Brot teilen. Amen