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„Mein Gott, warum?“ (Mk 15,34)
Die Theodizeefrage - nach der Katastrophe in Japan und nach ... Ostern
„Wer? Wie? Was? Wieso? Weshalb? Warum? Wer nicht fragt bleibt dumm! Tausend schöne Sachen, die gibt es überall zu sehen. Manchmal muss man fragen, um sie zu versteh´n.“ Mit diesem Titelsong aus der Sesamstraße sind inzwischen Generationen von Vorschulkindern groß geworden; ich vermute auch wir, die wir heute Abend zusammensitzen. Fragen sollen wir stellen – so wurde es uns damals schon beigebracht; nicht nur fragen, wenn wir etwas haben möchten, sondern fragen, wenn wir etwas nicht verstehen. Das Fragen ist die rechte Weise des Umgangs mit Unverständlichem, mit Dingen, die uns beschäftigten, auf die wir uns aber keinen Reim machen können. Und so lernen wir es immer noch – bis heute: Eine Kultur des Fragens zu entwickeln und das Entwickeln von Fragen zu kultivieren – um nichts anderes geht es auch in der Schule, in der Ausbildung, an der Universität.
Freilich gibt es Fragen, auf die wir keine Antwort finden; Fragen, die uns im Halse stecken bleiben; Fragen, die uns quälen und zermürben; Fragen, die wir nicht mit kaltem Herzen und scharfem Verstand stellen können, sondern die uns viel, viel näher gehen, als wir uns dies wünschen. Es gibt eben nicht nur tausend schöne Sachen überall zu sehen, sondern auch ganz und gar unschöne Sachen; Sachen, die wir leider auch zu sehen bekommen, wenngleich wir sie gar nicht sehen möchten. Reicht es, auch im Blick auf diese Dinge zu fragen, um sie zu verstehen?
Viele Menschen – auch Christinnen und Christen – fragen in diesen Tagen nach dem „Wieso? Weshalb? Warum?“ besonders im Blick auf Japan. Wieso hat Gott diese Katastrophe zugelassen? Weshalb musste der Tsunami so furchtbar wüten, zehntausende von Menschen umbringen und das Land an den Rand des nuklearen Supergaus bringen? Warum das Ganze, wenn doch über’m Sternenzelt ein lieber Vater wohnt[1]?
Gott und das unschuldige Leid – dies sind zwei Karten, die kein Pärchen ergeben, die in unserem Memory der Welt- und Gottesanschauung nicht zusammenpassen: „Warum hat Gott Übel zugelassen? Entweder will er sie nicht verhindern, dann ist er nicht heilig, gerecht und gut; oder er kann nicht, dann ist er nicht allmächtig; oder er kann nicht und will nicht, dann ist er schwach und missgünstig zugleich; oder er kann und will es, - wieso gibt es dann Übel?“ So oder so, egal wie herum man es dreht, Gott ist disqualifiziert. Man nennt diese Frage die seit Leibniz[2] Theodizee-Frage[3], die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes. Diese Frage erscheint als Trumpf in der Hand des Atheismus, als sein „Fels“[4], sein gründendes Fundament. Der Franzose Albert Camus hat einmal gesagt: „Solange in dieser Welt noch Kinder sterben, weigere ich mich an einen Gott zu glauben.“ Die Theodizee-Frage treibt seit jeher die Menschheit um und entsprechend vielfältig sind die Versuche, eine Antwort zu finden; nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im Alltäglichen, also dort, wo wir mit dieser Frage umgehen müssen.[5]
Die einen fragen: Womit habe ich das verdient? Was habe ich mir denn zuschulden kommen lassen? Dahinter steckt eine juristische Logik: Jedem Leid muss persönliches Vergehen vorausgegangen sein. Gott schickt das Leid als verdiente Strafe. Aber öffnet sich die Tür zur Theodizee, zur Gottesgerechtigkeit wirklich mit diesem Schlüssel? Jesus jedenfalls weist die Frage, ob der Blindgeborene bereits im Mutterleib als Embryo oder aber seine Eltern gesündigt hätten, scharf zurück. Gott ist nicht der Oberingenieur dieses Schuld-Strafe-Mechanismus.
Andere wiederum raten: Frag nicht warum, frag wozu! Alles Leid hat erzieherische Absicht. Dahinter steckt die Logik des Pädagogen. Wir hatten in der Gemeinde eine fromme Frau, die seit einem Unfall in jungen Jahren stark gehbehindert war. Und immer, wenn sie auf ihre Behinderung angesprochen wurde, sagte sie: „Damals als Jugendliche war der Unfall furchtbar schlimm für mich, aber heute bin ich regelrecht dankbar dafür: Ohne dies – und sie deutete auf ihr Bein – wäre ich meinem Gott über Hecken und Zäune davongesprungen.“ Der Frau hat diese Antwort im Blick auf ihr persönliches Leben geholfen. Doch wer wollte es wagen, das Verhungern von Millionen zu erklären, das Sterben von Tausenden von Tsunami-Opfern pädagogisch aufzuschlüsseln. Erziehung geglückt, Mensch tot – wäre dann oftmals das Ergebnis.
Ein anderer verlockender Lösungsversuch macht den Teufel als Schuldigen aus: Für Sonnenschein im Urlaub ist der liebe Gott zuständig, für Zahnschmerzen und Leibeskummer der Satan. Bei reicher Ernte sitzt Gott selbst auf dem Wagen; bei Misswuchs und Seuche riecht man Höllenschwefel. Wieder will sich die Tür nicht öffnen; auch mit diesem Schlüssel nicht. Denn die Bibel kennt diese heidnische Zweiteilung in einen Licht- und einen Finsternis-Gott nicht.
Halten wir fest, dass sich die Theodizeefrage nicht lösen lässt wie ein mathematisches Rätsel. Gleichwohl stellen wir die Warum-Frage und müssen, ob wir wollen oder nicht, mit ihr umgehen. Wenn wir in der Bibel Orientierung suchen und fragen, wie diese Frage dort vorkommt, so fällt uns nicht nur die Geschichte von Hiob ein, sondern auch das Jesus-Wort am Kreuz. In dem Text Mk 15,34 heißt es: „Und zu der neunten Stunde rief Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Am Kreuz hängend, schreit Jesus die Warum-Frage heraus. Das ist kein nüchtern-distanziertes, kein kühles-intellektuelles Fragen, das ist ein Schrei. Im Griechischen steht wörtlich: er ruft laut mit großer, mit gewaltiger Stimme – phone megále. Zeitgemäß übersetzt: Er brüllt wie in ein Megaphon.
Ich weiß nicht, ob es Ihnen mit dieser Warum-Frage Jesu auch so geht wie mir? Ich habe zugegebenermaßen ein Problem mit ihr. Zu oft ist sie mir – insbesondere an Karfreitag – als Jesu Antwort auf die Theodizeefrage präsentiert worden. Nach dem Motto: Egal, wie groß das Leid auf Erden auch ist, Gott hat im Kreuzesleiden Jesu, in seinem Schrei teilgenommen an dem Leid und Elend der menschlichen Existenz. Gott leidet mit. Er hat sich in dem gekreuzigten Schmerzensmann all das zu Herzen genommen, was Dich verzweifeln lässt. Leid und Tod sind seit Karfreitag „in Gott“. Niemand ist mit seinem Leid allein.
Aber ist dies wirklich die Antwort auf die Theodizeefrage? Schön, dass da jemand mit uns leidet, so mögen wir sagen. Geteiltes Leid ist bekanntlich halbes Leid. Und es ist auch gut, wenn wir uns selbst in diesem Psalmwort aus Psalm 22, das Jesus schreiend zitiert, entdecken können: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Aber wie kommt es zur Überwindung der Gottesverlassenheit, die dort infrage gestellt wird? Doch wohl kaum dadurch, dass das Leiden und der Tod nicht nur in uns, sondern auch in Gott sind. So wird doch die Gottesverlassenheit eher verewigt, als wirklich abgeschafft und überwunden.
Das Problem, das wir mit der Warum-Frage Jesu bekommen, taucht immer dann auf, wenn ausgeblendet wird, dass der Sohn Gottes nicht nur wie wir und mit uns leidet, sondern für uns eintritt. Hat er aber für uns gelitten, dann bekommt sein Leiden einen Sinn. Wohlgemerkt nicht unser Leiden und das der Welt, aber doch sein Leiden; einen Sinn, der an Ostern enthüllt wird. Der Sinn besteht in seinem stellvertretend für uns eintretenden Sieg über den Tod und das Böse, das uns quält und bedrängt.[6]
Ostern zeigt uns: Gott leidet nicht nur mit. Er verewigt nicht das Böse und sieht auch nicht zu, wie wir Menschen vor die Hunde gehen. Nein, Gott wird aktiv in seinem Kommen in Jesus Christus, indem er das Böse besiegt und die Welt erlöst. Das Böse, das in der Welt ist und immer wieder neu und unerwartet wie ein Tsunami in unser Leben hereinbricht. Es wird von Gott vernichtet. Ja, es ist besiegt, so bezeugt die Auferstehung. Und von da her kommen wir Christinnen und Christen – als „Osterleute“, als „Easter People“. Diese Bezeichnung, die ich einst in Amerika gehört habe, ist – wie ich finde – eine der schönsten Bezeichnungen für uns Christenmenschen.
Von der Auferstehung sind Ostermenschen in ihrer Existenz bestimmt und können so gegen das Böse in der Welt eintreten. Gewiß können nicht wir, sondern kann nur Gott selbst das Böse aus der Welt schaffen. Aber wir dürfen dem Bösen widerstehen und widersprechen und müssen uns nicht lähmen lassen. Dies umso mehr, als dass wir bei der Warum-Frage eines nicht vergessen dürfen: Es handelt sich bei dieser Frage ja nicht nur um unsere Anklage gegen Gott, sondern auch die Anklage Gottes gegen uns Menschen. Beim Leid geht es nämlich meistens, nicht immer, aber doch meistens um das Leid, das Menschen Menschen antun.[7] Gott hat schließlich nicht die Atomkraftwerke in Japan gebaut.
Nun werden einige sicherlich sagen: Nun ja, Sieg Gottes an Ostern über das Böse – das klingt gut und schön, zu schön, um wahr zu sein. Denn, wo kann ich das denn sehen? Es gibt doch nach wie vor unendlich viele Grausamkeiten in der Welt, schlimme Naturkatastrophen und viel zu viel namenloses Leid. Ja, in der Tat. So fragt und bekennt auch der Glaube. Das Böse ist zwar bereits besiegt und die Welt schon versöhnt, aber noch nicht erlöst und das Böse auch als besiegtes Böses in seiner gebrochenen Macht weiterhin unheimlich aktiv. Und das heißt: Unsere Welt ist noch nicht vollständig neu geworden. Wir gehen erst auf die Erlösung zu, ihr entgegen. „Wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen“ (2Kor 5,7), sagt Paulus. Dass „Gott selbst abwischen wird alle Tränen von ihren Augen, und der Tod nicht mehr sein wird, noch Geschrei noch Schmerz“ (Off 21,4), wie es ganz am Schluß der Bibel heißt – das steht noch bevor. Darauf warten wir und hoffen wir.
Aber noch leben wir in einer Welt, in der wir die Warum-Frage stellen müssen, in der uns diese Frage schmerzlich aufgenötigt wird und sie uns nicht erspart bleibt. Doch die Verheißung Jesu an seine Jünger gilt: „An dem Tag [unseres Wiedersehens] werdet ihr mich nichts mehr fragen“ (Joh 16,23). Solange aber diese Verheißung noch aussteht, dürfen und können wird die Warum-Frage stellen – auch und gerade mit brennendem, tief verwundetem Herzen und verwirrtem Kopf. Es ist uns keineswegs verboten, sondern wir dürfen entfesselt klagen. Wir dürfen die Warum-Frage herausschreien, so wie Jesus sie Gott, dem Vater, entgegen geschrieen hat: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“[8]
Für mich war es sehr bewegend, als ich ein Fürbittengebet der Evangelischen Gemeinde in Tokyo las, das kurz nach der Katastrophe verfasst wurde. Dort heißt es: „Wir haben uns bisher darauf verlassen, dass du [, Gott,] letztgültig die Geschicke deiner Welt und deiner Menschen lenkst. Gilt das auch weiterhin?“[9] Gott selbst und niemand anderes sonst ist hier der Adressat der verunsicherten Rückfrage. Er wird gefragt. Die Tokyoer Gemeinde weiß, dass sie mit ihren aufs Ganze gehenden Fragen nirgendwo anders hin gehen und flüchten kann, als zum lebendigen Gott selbst, an dem sie irre geworden ist und an dem sie zweifelt: „Herr, wohin sonst sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens“ (Joh 6,68). Im Gebet der Tokyoer Gemeinde heißt es: „Mit unseren Zweifeln und Ängsten kommen wir zu dir. Du, Gott, bist die einige Instanz, die höher ist als unsere menschliche Vernunft und unser Vermögen. An dir halten wir fest, an dir klammern wir uns fest. Verlass uns nicht.“
Als Christenmenschen kommen wir ins Fragen: „Wieso? Weshalb, Warum?“ Wir schlucken nicht einfach alles herunter. Täten wir dies, wären wir nicht besonders fromm, sondern allenfalls besonders dumm. „Wieso, weshalb, warum? Wer nicht fragt, bleibt dumm“. Wir stellen Fragen – auch und gerade als „Osterleute“, als „Easter people“. Wir stellen Fragen wie die Warum-Frage, weil wir wirkliche Fragen haben, viel mehr Fragen als Antworten – gar fertige Antworten. Und so ist und bleibt auch und gerade die Theodizeefrage eine offene Frage, eine Frage, auf die wir letztlich keine Antwort haben.
Freilich stellen wir diese Frage nach Ostern anders als noch vor Ostern. Wir stellen sie in dem Glauben, dass nicht wir Menschen, sondern Gott allein sich selbst zu rechtfertigen vermag.[10] Ja, wir stellen sie in dem Glauben, dass Gott selbst sich im Geschehen der Versöhnung bereits gerechtfertigt hat und sich im Geschehen der Erlösung rechtfertigen wird. Auf diesem Hintergrund fragt der Glaube – der Glaube, der angesichts tausend schöner und unschöner Sachen nicht anders als fragen kann, um zu verstehen: „Wer? Wie? Was? Wieso? Weshalb? Warum?“
Amen.
[1] Vgl. F. Schiller, An die Freude (1785), Strophe 1.
[2] Vgl. G.W. Leibniz, Die Theodizee. Philosophische Schriften, hg. v. H. Herrung, Bd. 2.1, französisch und deutsch, Frankfurt a.M. 1996, bes. 221.239-257; zu Leibniz vgl. einführend: W. Sparn, Leiden – Erfahrung und Denken. Materialien zum Theodizeeproblem, ThB 67, München 1980, 19-41; M. Hailer, Glauben und Wissen. Arbeitsbuch Theologie und Philosophie, Göttingen 2006, 93-111.
[3] Vgl. O. Bayer, Autorität und Kritik. Zu Hermeneutik und Wissenschaftstheorie, Tübingen 1991, 201: „Ob angesichts des Bösen und des Leidens Gottes und die Rede von ihm zu rechtfertigen sei, ist die Frage der Theodizee – des Rechtsstreits um Gott.“
[4] G. Büchner, Dantons Tod, 3. Akt, 1. Aufzug.
[5] Die im Folgenden dargestellten „Lösungsmodelle“ werden in z.T. wörtlicher Anlehnung an S. Kettling, Du gibst mich nicht dem Tode preis. Persönliche Erfahrung und biblisch-theologische Grundlegung, Gießen 2004, 60f., entfaltet.
[6] Vgl. zu diesem Ansatz E. Busch, Credo. Das Apostolische Glaubensbekenntnis, Göttingen 2003, 203.
[7] Darauf macht zutreffend H. Gollwitzer (Krummes Holz – aufrechter Gang. Zur Frage nach dem Sinn des Lebens, München 1970, 374) aufmerksam.
[8] Vgl. J. Moltmann, Weiter Raum. Eine Lebensgeschichte, Gütersloh 2006, 268: „Der ganze Unverstand entsteht daraus, dass meine Kritiker die Kreuzestheologie als ‚Antwort’ auf ihre Theodizeefrage verstehen. Das habe ich nie behauptet, sondern: Kreuzestheologie ist die Kraft, mit der offenen Wunde der unbeantwortbaren, aber unaufgebbaren Frage nach Gott zu leben: ‚Mein Gott, warum hast du mich verlassen?’“
[9] Vollständiges Gebet unter: http://kreuzkirche-tokyo.blogspot.com (abgerufen: 29.4.2011).
[10] Vgl. E. Busch, „Das Bekenntnis zu Jesus Christus, mit dem die Kirche steht und fällt“. Zum Verständnis der Rechtfertigungslehre Karl Barths, in: Berliner Theologische Zeitschrift 17 (2000), (28-47) 40.
Pfarrer z.A. PD Dr. Marco Hofheinz