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'Ich bin nicht schuld an seinem Tod'
Predigt zu Johannes, 18,28-19,5
Gnade sei mit euch und Frieden von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus! Amen.
Liebe Gemeinde,
heute werde ich Sie, passend zu unserem Predigttext, mit einer sehr altertümlichen, von vielen als langweilig und überholt empfundenen Form der Predigt konfrontieren - um nicht zu sagen “geißeln”: Eine Homilie.
Das bedeutet, ich gehe die Perikope Vers für Vers durch und lese den langen Abschnitt aus dem Johannesevangelium, Kapitel 18, 28 bis 19, 5 nicht am Stück, sondern Satz für Satz:
18 28 Die, die Jesus verhört hatten, brachten ihn nun vom Haus des Kajafas zum Prätorium, dem Amtssitz des römischen Gouverneurs; es war jetzt früh am Morgen. Sie selbst betraten das Gebäude nicht, um die Reinheitsvorschriften nicht zu verletzen; sie hätten sonst nicht am Passafest teilnehmen können.
Jesus ist gefangengenommen worden, ist denen in die Hände gefallen, die sich schon seit langem an seiner Predigt vom kommenden Reich Gottes stoßen, die nicht hinnehmen wollen, dass Gott heilsame Zeichen seiner Gegenwart unter den Menschen setzt und Hoffnung schenkt, dass Leben in Würde möglich sei.
Diese vorgeblich Frommen, die sich nicht verunreinigen wollen, indem sie das Haus eines Heiden betreten so kurz vor dem Passafest, das ja an den Auszug der Israeliten aus der Sklaverei der heidnischen Ägypter erinnert: sie wollen das kleine bisschen Einfluss, das ihnen unter der römischen Willkürherrschaft noch geblieben ist, verteidigen und unterwerfen sich der Macht des Gouverneurs, der in ihrem Land derzeit ganz allein über Leben und Tod zu entscheiden hat.
Sie wissen, dass sie sich mit dieser Demütigung selbst ad absurdum führen. Aber sie haben keine andere Logik als eben die der Machterhaltung - und sei es auf dem Wege der Anerkennung fremder Macht.
29 Deshalb kam Pilatus zu ihnen heraus. »Was für eine Anklage erhebt ihr gegen diesen Mann?«, fragte er.
Das klingt, als kümmere sich der Oberrömer, der Chef der Besatzungsmacht, persönlich um jeden Einzelfall. Dabei war er überhaupt nur wegen des Passafestes in Jerusalem; sonst hielt er sich lieber in seiner Residenz in Caesarea, am Mittelmeer, auf. Und natürlich hatten ihm seine Spitzel längst zugetragen, dass wieder einmal Unruhe aufkeimte unter den Juden, dass einmal mehr der Messias erwartet wurde - und mit ihm ein Ende der Pax Romana.
Er wollte es aber von den Speichelleckern selber hören, was sie ihrem Landsmann und Glaubensgenossen vorzuwerfen hatten, dass sie ihn den verhassten Römern ans Messer liefern.
30 Sie erwiderten: »Wenn er kein Verbrecher wäre, hätten wir ihn nicht zu dir gebracht.«
Oh, was für eine Loyalität! Die Tempelschranzen funktionieren wie die nominell souveränen Regierungen von Satellitenstaaten einer Großmacht - also etwa so wie heutzutage Belarus. Die Tempelclique hält sich formal an Recht und Gesetz - freilich nicht an ihr eigenes, die Thora, sondern an die Dekrete des Kaisers. Nicht um Gerechtigkeit und Selbstbestimmung geht es ihnen, sondern um ihr relatives Recht, zumindest dem Titel nach die Führungselite ihres Volkes zu sein, auch wenn sie unumwunden einräumen müssen, dass sie in Wirklichkeit nichts zu sagen haben.
31 Da sagte Pilatus: »Nehmt doch ihr ihn und richtet ihn nach eurem Gesetz!« Die Juden entgegneten: »Wir haben nicht das Recht, jemand hinzurichten.«
Wie großmütig: Der Fremdherrscher gesteht Autonomie zu! Aber die ist hier ausdrücklich gar nicht gewollt. Bedauerlicherweise gibt es durchaus im Alten Testament die Todesstrafe. So ist sie vorgesehen im Fall von Ermordung (Ex. 21, 12), Entführung (Ex. 21, 16), Bestialität (Ex. 22, 19), Ehebruch (Lev. 20, 10), Homosexualität (Lev. 20, 13), falscher Prophetie (Dtn. 13, 5), Prostitution und Vergewaltigung (Dtn. 22, 4) und bei einigen anderen Verbrechen.
Die Regelung im Falle von Gotteslästerung lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Wer den Namen des Herrn lästert, muss getötet werden. Die ganze Gemeinde soll ihn steinigen. Er sei ein Fremder oder ein Einheimischer, wenn er den Namen lästert, soll er getötet werden. (Lev. 24, 16)
Nur eben ist den jüdischen Autoritäten die Gerichtsbarkeit für Kapitalverbrechen entzogen; die Römer behalten sich allein das Recht vor, jemanden abzuurteilen und somit “legal” zu Tode zu bringen.
Das Kreuz Christi war nicht das erste und nicht das letzte, welches das Imperium als abschreckendes Beispiel errichtet hat, um Umstürzler von ihrem Vorhaben abzubringen, die Macht Roms in Frage zu stellen.
32 So sollte sich das Wort erfüllen, mit dem Jesus angedeutet hatte, auf welche Weise er sterben werde.
Ich belasse es an dieser Stelle bei einem Zitat aus dem 5. Buch Mose, Kapitel 21, Verse 22 und 23: Wenn jemand ein todeswürdiges Verbrechen begeht und er getötet wird und du ihn an einen Pfahl hängst, darf sein Leichnam nicht über Nacht am Pfahl hängen bleiben, sondern du musst ihn noch am selben Tag begraben. Denn ein Gehängter ist von Gott verflucht, und du sollst deinen Boden nicht unrein machen.
33 Pilatus ging ins Prätorium zurück und ließ Jesus vorführen. »Bist du der König der Juden?«, fragte er ihn.
Jetzt gelten wieder die ordentlichen Spielregeln: Der Herrscher thront, der Gefangene wird vorgeführt und verhört. “In welcher Sprache eigentlich haben die beiden miteinander gesprochen?”, wurde ich gelegentlich von aufmerksamen Gemeindegliedern gefragt. Auf solche Details kommt man - betriebsblind, wie man als Profi wird - zumeist gar nicht.
Ich halte es für ausgeschlossen, dass der Zimmermannssohn aus Nazareth irgendeine andere Sprache beherrschte als das umgangssprachliche Hebräisch seiner Zeit, das Aramäische. Zwar ist es denkbar, aber sehr unwahrscheinlich, dass sich ein römischer Gouverneur - sofern er dazu überhaupt in der Lage gewesen sein sollte - dazu herab ließ, die Landessprache zu verwenden. Also dürfen wir annehmen, dass hier nicht erwähnte Dolmetscher im Spiel waren. Aber das nur am Rande.
34 Jesus erwiderte: »Bist du selbst auf diesen Gedanken gekommen, oder haben andere dir das über mich gesagt?« -
Schon in der allerersten Antwort Jesu wendet sich das Blatt: Aus dem Angeklagten, Befragten, Bedrängten wird derjenige, der das Wort führt.
Mit seiner Gegenfrage stößt Jesus den Heiden, der Roms wirtschaftliche Interessen militärisch zu vertreten hat, darauf, dass er sich anschickt, sich auf ein Gebiet zu begeben, von dem er keine Ahnung hat und das ihm - wir werden das noch sehen - im Grunde auch vollkommen egal ist.
35 »Bin ich etwa ein Jude?«, gab Pilatus zurück. »Dein eigenes Volk und die führenden Priester haben dich mir übergeben. Was hast du getan?«
Der Rollentausch funktioniert: Pilatus muss jetzt rechtfertigen, weshalb er überhaupt die Frage gestellt hat, ob Jesus der König der Juden sei - ein Posten übrigens, der besetzt war mit einer Art Frühstückdirektor von Roms Gnaden, der, da nicht ganz koscher, von den Priestern nur zähneknirschend akzeptiert wurde.
Selbst wenn Jesus behauptet hätte, der König der Juden zu sein, hätte das Pilatus völlig kalt lassen können, wenn er nicht theologisch gebildete Stichwortgeber gehabt hätte, die ihn, wie wir wissen, später noch - und dann vergeblich - zu korrigieren versuchen, als der Urteilsspruch auf dem Kreuz angebracht wird.
36 Jesus antwortete: »Das Reich, dessen König ich bin, ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, dann hätten meine Diener für mich gekämpft, damit ich nicht den Juden in die Hände falle. Nun ist aber mein Reich nicht von dieser Erde.«
Ist das nun tatsächlich eine Antwort, die Jesus dem Pilatus gibt - oder ist es eine Aussage des Evangelisten Johannes, die an uns gerichtet ist?
Ich stelle mir vor, ein vielleicht sogar wohlmeinender Staatsanwalt erhielte eine derartige Antwort: Muße er sich nicht verschaukelt fühlen? - Was ist denn das für eine Auskunft: “Nicht von dieser Welt”?!
Und war nicht der Messiasgedanke des Ersten Testaments sehr wohl ein solcher, der mit einem Herrschaftsanspruch einhergeht, mit dem Königtum Gottes nämlich?! Und warum gilt Jesu Hinweis “damit ich nicht ... in die Hände falle” den Juden? Er ist doch den Römern in die Hände gefallen, steht vor Pilatus, auch wenn die Sadduzäerclique ihn ausgeliefert hat!
Einzig der Hinweis darauf, dass Jesus ausschließen will, dass man um seinetwillen zu den Waffen greift, leuchtet mir unmittelbar und vollumfänglich ein. Und der Dialog geht weiter:
37 Da sagte Pilatus zu ihm: »Dann bist du also tatsächlich ein König?« Jesus erwiderte: »Du hast Recht – ich bin ein König. Ich bin in die Welt gekommen, um für die Wahrheit Zeuge zu sein; dazu bin ich geboren. Jeder, der auf der Seite der Wahrheit steht, hört auf meine Stimme.« -
Das ist nun aber wirklich interessant, liebe Gemeinde: Das Königtum steht plötzlich nicht mehr in Frage, aber es wird ganz anders interpretiert als eben noch. In die Welt gekommen, um für die Wahrheit zu zeugen, sei er, sagt Jesus jetzt. Das hört sich womöglich nach einer Ausflucht an - weg von der Politik, hin zur Philosophie. Aber die Wahrheit - gleich wird darüber noch zugespitzter diskutiert - ist auf jeden Fall eine Kraft. Johannes lässt Jesus an anderer Stelle sagen: Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.
38 »Wahrheit?«, sagte Pilatus zu ihm. »Was ist Wahrheit?«
Damit brach Pilatus das Verhör ab und ging wieder zu den Juden hinaus. »Ich kann keine Schuld an ihm finden«, erklärte er. Es ist schon etwa 35 Jahre her, liebe Geschwister, aber dieser Stachel steckt noch immer in meinem Gemüt, den jener Satz in mir hinterlassen hat, der mir beim Homiletik-Seminar entgegen geschleudert wurde: “Die Wahrheit ist nicht inhaltlich, sondern kommunikativ.” Will sagen: Du musst dich deinem Gegenüber auch verständlich machen, sonst nützt alle Erkenntnis nichts, sondern sie bleibt graue Theorie: kraft- und wirkungslos.
Hier aber funktioniert die Interaktion: Pilatus wehrt ab, als das Stichwort “Wahrheit” ins Spiel gebracht wird, weil für ihn klar ist, dass es hier nicht um so etwas wie einen “Fakten-Check” geht, sondern um die Frage: “Was ist dein einziger Halt im Leben und im Sterben?”
Darauf lässt er sich nicht ein. Das ist nichts für Realpolitiker, sondern bestenfalls für Sozialromantiker, für harmlose Spinner wie eben diesen Jesus, der ganz besoffen zu sein scheint von dem Gott der Juden, von dem daher auch keine ernstzunehmende Gefahr ausgeht für das Imperium Romanum. Also lautet sein Fazit: Nicht zuständig. Nehmt ihn und macht mit ihm, was ihr wollt! Lasst mich in Ruhe mit euren religiösen Streitigkeiten, ich habe Wichtigeres zu tun!!
39 »Nun habt ihr ja nach eurem Brauch Anspruch darauf, dass ich euch am Passafest einen Gefangenen freigebe. Wollt ihr, dass ich euch den König der Juden freigebe?« -
Pilatus ist Diplomat genug, die Chance des Augenblicks zu nutzen: Mit einer generösen Geste könnte man diese Unruhegeister womöglich beschwichtigen und zugleich den Eintrag in die Geschichtsbücher optimieren. Das ist doch ein echtes Angebot zum Frieden, oder?
40 »Nein, den nicht!«, schrien sie zurück. »Wir wollen Barabbas!« Dieser Barabbas war ein Verbrecher.
“Wir sind das Volk!”, schreit die aufgewiegelte Menge. Wir wollen, dass einer es “denen da oben” so richtig zeigt. Barabbas hat das getan, er war nicht einfach ein “Verbrecher”, sondern höchstwahrscheinlich ein Terrorist, wie wir heute sagen würden: einer, der Anschläge auf römische Einrichtungen verübt hat. Wenn sie den haben können - wenn Pilatus so blöd ist, den herauszugeben - dann: nur zu!
Jesus? Ja, vielleicht hat er tatsächlich nichts getan, was ihm vorzuwerfen wäre.Aber eben auch nichts, womit er die Sympathien der Frustrierten für sich zu gewinnen vermocht hätte, die sich einen König, einen Anführer wünschen, der sie zu den Waffen ruft, um die Römer endlich aus dem Land zu jagen.
19 1 Daraufhin ließ Pilatus Jesus abführen und auspeitschen.
2 Nachdem die Soldaten ihn ausgepeitscht hatten, flochten sie aus Dornenzweigen eine Krone, setzten sie Jesus auf den Kopf und hängten ihm einen purpurfarbenen Mantel um.
3 Dann stellten sie sich vor ihn hin, riefen: »Es lebe der König der Juden!« und schlugen ihm dabei ins Gesicht.
Der König der Juden wird verhöhnt - ja. Aber wird nicht zugleich damit auch das Volk verhöhnt, dessen König hier an den Pranger gestellt wird? Das scheint niemanden zu kümmern - damals nicht und später erst recht nicht, als diese johlende Menge christlichen Theologen dazu nützlich wurde, ein pauschales Urteil zu fällen über die “Christusmörder”.
Aber wurden sie gefragt, ob Jesus den Tod als Gotteslästerer verdient habe? Als Goebbels die aufgepeitschte Menge im Sportpalast fragte: “Wollt ihr den totalen Krieg?”, da konnte man als einzelner antworten, was man wollte - zu hören war nur ein gigantisches Tosen.
4 Anschließend wandte sich Pilatus ein weiteres Mal an die Menge. Er ging hinaus und sagte: »Ich bringe ihn jetzt zu euch heraus. Ihr sollt wissen, dass ich keine Schuld an ihm finden kann.«
“Ich bin nicht schuld an seinem Tod.” Pilatus sagt, was wir denken, wenn wir andere machen lassen, wenn wir achselzuckend hinnehmen, dass Menschen zu Tode kommen, weil niemand aktiv für sie Partei ergreift, wenn Menschen sterben, weil man sie ihrem Schicksal überlässt, sie einer Meute ausliefert, die Blut sehen will. Niemand übernimmt Verantwortung, keiner riskiert etwas...
5 Jesus trat heraus. Auf dem Kopf trug er die Dornenkrone, und er hatte den Purpurmantel um. Pilatus sagte zu der Menge: »Hier ist er jetzt, der Mensch!«
Hier ist er jetzt - der Mensch, den du lieben sollst; denn er ist wie du.
Hier ist er jetzt - der Mensch gewordene Gott, der sich uns auf Gedeih und Verderb ausliefert.
Hier ist er jetzt - und niemand steht ihm zur Seite.
Er aber steht auf unserer Seite, er steht an unserer Stelle: Gott ist uns Sündern gnädig.
Amen.
Stephan Schaar