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'Ökumenische Weite kann als Korrektiv dienen'
Interview mit Catherine McMillan
Frau McMillan, seit vielen Jahren forschen Sie über den Schweizer Reformator Huldrych Zwingli. In Ihrem Vortrag bei der Hauptversammlung des Reformierten Bundes sprechen sie 2019 über Zwingli als einen „europäischen Reformator“. Was ist damit gemeint?
Zwinglis Einfluss war stärker in Europa als vielen bewusst ist. Zwingli war ein humanistischer Theologe, der sich gut vernetzte. Mit seinen Ideen beeinflusste er deshalb Reformationsbewegungen auch in anderen europäischen Ländern. Ein Beispiel ist Zwinglis Betonung der Ethik: Für ihn war das Evangelium stark mit dem Diesseits und dem Streben nach sozialer Gerechtigkeit verbunden. Viel mehr noch als bei Luther. Zwingli arbeitete deshalb eng mit dem Zürcher Stadtrat zusammen. Die Kirche sah er als Wächter im Staat. Heute, kann man sagen, funktionieren protestantische wie katholische Kirchen auch in anderen Ländern so: Sie sehen sich als kritisches Gegenüber des Staates und Vertreter von Minderheiten.
Das erinnert an Begriffe, die z.B. aus dem Vertrag von Lissabon bekannt sind: Demokratie, Pluralismus, die Wahrung der Menschenwürde, auch von Minderheiten. War Zwingli damit ein Vorreiter für europäische Werte?
Das könnte man durchaus sagen. Einiges findet sich tatsächlich schon bei Zwingli. Auch bei ihm geht es um demokratische Werte wie z.B. die Mitbestimmung, die Fürsprache für Minderheiten. Bis heute treffen wir kirchliche Entscheidungen mit dem Synodalprinzip: Es gibt Gremien, es gibt gewählte Fürsprecher. Gleichzeitig gehört es in europäischen Ländern heute zu den Standards, ein Parlament zu haben, das sich für die Bedürfnisse des Volkes einsetzt. Das Prinzip Gewaltenteilung, der Gesellschaftsvertrag – das sind alles Dinge, die sich in Ansätzen auch bei Zwingli finden. Zwingli war eben nicht „nur“ ein Reformator in der Schweiz. Er hat großräumig gedacht.
Was meinen Sie mit „großräumig“?
Für Zwingli war beispielsweise die Zusammenarbeit reformierter Bewegungen in Europa wichtig. Nur wenn wir uns gegenseitig anerkennen, so seine Auffassung, können wir in Europa stark sein. Zwingli hat sich außerdem immer auch die wirtschaftlichen und ethischen Zusammenhänge angesehen. Ihm genügte es nicht, Armut zu bekämpfen. Er wollte wissen, was die Ursachen sind. Er überlegte sich zum Beispiel: Wenn alle Landwirte morgen als Söldner in den Krieg geschickt werden, dann verursachen wir damit Hungersnöte. Also kann das System so nicht funktionieren. In Zürich hat er außerdem zum ersten Mal so etwas wie eine Sozialhilfe gegründet. Menschen, die in den Klöstern gelebt hatten, sollten eine Ausbildung in Handwerksberufen bekommen. Das würde Arbeit und Wohlstand in die Stadt bringen, so Zwingli. Dieses vernetzte Denken ist etwas, das uns immer noch Vorbild sein kann. Wir brauchen heute Menschen, die Probleme interdisziplinär angehen, kompromissbereit sind, interreligiös denken und auch mit Politikern zusammen arbeiten.
Das klingt nach einer schwierigen Aufgabe. Gelingt das so in der Praxis?
Zwingli hat unterschieden zwischen göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit. Die menschliche Gerechtigkeit war aus seiner Sicht nötig, um Dinge praktisch umzusetzen. Orientieren sollten wir uns aber an der göttlichen Gerechtigkeit, so Zwingli. Dazu gehörte für ihn Ideale wie Frieden, Gewaltlosigkeit und Barmherzigkeit. Diese Werte tauchen schon in der Bergpredigt auf. Zwar würde es im realen Leben auch immer wieder zum Scheitern kommen. Ziel war es aber aus seiner Sicht, die menschlichen Gesetze an der göttlichen Gerechtigkeit zu orientieren.
Das galt bei Zwingli für jeden einzelnen Menschen. Das Leben als Gottesdienst – das war eine seiner Grundideen. Was bedeutet das übertragen auf Europa?
Solidarität war für Zwingli ein zentraler Wert. Der Einzelne sollte frei sein aber in seiner Freiheit auch dem Gemeinwohl dienen. Berufe waren für ihn Berufungen, die wir zur Ehre Gottes ausüben. Zwingli kritisierte deshalb auch oft gesellschaftliche Missstände wie Egoismus und Gier – weil sie dem Gemeinwohl Schaden zufügen. Heute gehört Solidarität zu den Grundwerten in Europa. Denkt man aber beispielsweise an Themen wie den Waffenhandel, geht es dort viel um Profit. Aus meiner Sicht werden Entscheidungen im Westen heute leider zu oft unter dem Kriterium der Wirtschaftlichkeit getroffen.
Zur Person:
Catherine McMillan ist Pfarrerin in der reformierten Kirchgemeinde Dübendorf (Schweiz) und neben Christoph Sigrist Reformationsbotschafterin in der Schweiz. McMillan ist als eine der Sprecherinnen der SRF-Sendung "Das Wort zum Sonntag" bekannt.
Wir beobachten in Europa außerdem immer mehr nationalistische Tendenzen – das klingt auch nicht gerade nach Solidarität. Welche Aufgabe hat Kirche vor diesem Hintergrund?
Ökumenische Weite kann als Korrektiv dienen. Ich denke da z.B. an Dietrich Bonhoeffer. Schon ihm war es wichtig Kontakt zu halten zu Kirchenfreunden außerhalb Deutschlands, z.B. in Skandinavien und in den USA. Nationalismus kann die Situation natürlich erschweren. Trotzdem können Kirchen hier wunderbar Brücken bauen. Ich erlebe das gerade am Beispiel Ungarn. Wir haben eine Partnerschaft mit der Kirche in Budapest. Die meisten Menschen stehen hinter Orbán. Wenn wir aber über unsere Flüchtlingsarbeit erzählen, dann spüre ich, wie sich etwas öffnet. Die Menschen sehen dann, dass wir als Kirche nicht nur für uns sind. Sondern dass wir verbunden sind mit unseren Brüdern und Schwestern, über die Grenzen hinaus. Auch Zwingli hat zwar auf der einen Seite das Lokale hervorgehoben. Er setzte sich zum Beispiel dafür ein, dass Menschen das Recht bekommen ihren Pfarrer zu wählen. Auf der anderen Seite war ihm auch wichtig, Christus als Herrn der Welt zu sehen. Das Evangelium bildete für ihn eine Grundlage, die selbstverständlich für jeden Menschen galt.
Wie sehen Sie in die Zukunft von Europa?
Schwierig zu sagen. Als Pfarrerin bemerke ich heute einen starken Individualismus. In den letzten drei Jahren aber beobachte ich auch eine Art Greta-Phänomen: Jugendliche denken politischer. Sie rufen nach Solidarität mit der Erde. Aus der Gemeinde höre ich Menschen sehr oft klagen, dass wir vor lauter „ich“ das „wir“ vergessen haben. Ich glaube deshalb wir sollten nicht nur egoistische Tendenzen sehen. Sehr viele Menschen engagieren sich, ändern ihren Lebensstil und stellen ihn in Frage. Man könnte entgegnen, dass das möglicherweise zu spät kommt. Vielleicht aber sehen wir hier gerade Impulse für etwas ganz Neues.
Das Interview führte Isabel Metzger
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