Der Heidelberger Katechismus. Erinnerungen und Einsichten

Festvortrag von Prof. Dr. Gerd Theißen auf der Hauptversammlung des Reformierten Bundes am 7. Juni 2013 in Heidelberg

Der Vortrag als Text:

Gerd Theißen: Der Heidelberger Katechismus. Erinnerungen und Einsichten (PDF)

Der Heidelberger Katechismus. Erinnerungen und Einsichten

 
Gerd Theißen
 
Heidelberg hat in zweifacher Weise weltweit gewirkt: Der Heidelberger Katechismus ging einmal von dieser Stadt aus in die ganze Welt, Heidelberger Romantik zieht bis heute Touristen aus der ganzen Welt an. Daher beginne ich mit einer etwas „romantischen“ Erinnerung. Einmal übernachteten meine Frau und ich in einem reformierten Haus im Rheinland, meiner Heimat. Die Gastgeber überließen uns ihr Ehebett. Über dem Bett stand die erste Frage des Heidelberger Katechismus:
 
„Was ist dein einiger Trost im Leben und im Sterben?
Dass ich mit Leib und Seele,
im Leben und im Sterben,
nicht mein, sondern meines getreuen Heilands Jesu Christi
eigen bin.“
 
Das hatten wir nicht erwartet. Waren die Bewohner dieses Hauses wirklich so fromm? Vollzogen sie unter dieser Überschrift ihr Eheleben – mit Leib und Seele – im Bewusstsein, nicht sich selbst anzugehören? Partnerschaft bedeutet ja, bei allem, was man tut, zu berücksichtigen, wie es auf den anderen wirkt. Partner sehen sich mit den Augen eines anderen. Sie sind nicht ihr Eigentum. Natürlich kann man kritisieren: Sind Menschen wirklich emanzipiert, die nicht sich selbst gehören, sondern sagen, dass sie einem anderen gehören, dass sie durch Jesus Eigentum Gottes sind? Oder wurden sie aus der subtilsten Gefangenschaft befreit: aus dem Gefängnis unseres Ichs? Besteht darin nicht das Wunder der Liebe, dass sie uns aus diesem Gefängnis befreit?
 
Auf jeden Fall sind solche Menschen selbstbewusst. Der Katechismus begründet die Ehe damit, dass „beide, unser Leib und unsere Seele, Tempel des Heiligen Geistes sind“ (Frage 109). Wieder begegnen „Leib und Seele“. Gott will durch seinen Geist in ihnen wohnen. Von diesem Geist Gottes heißt es ferner, dass er „mich tröstet und bei mir bleiben wird bis in Ewigkeit“ (Frage 53). Das klingt mystisch, so wie der reformierte Kirchenlieddichter Gerhard Tersteegen aus meiner Heimat in seinem Lied: „Gott ist gegenwärtig“ von Gott in mystischer Sprache spricht. Er verwendet sogar die mystische Formel: „Ich in dir, du in mir“. Diese Mystik zielt nicht auf ein Genießen Gottes (auf eine fruitio Dei), sondern darauf, dass Menschen Gott in ihrem Leben wirken lassen. Im Lied Tersteegens heißt es daher:
 
Lass mich so
still und froh,
deine Strahlen fassen
und dich wirken lassen
 
Der Heidelberger Katechismus sieht darin den Anfang der Ewigkeit. Der Sonntag ist nach ihm dazu da, dass ich „den Herrn durch seinen Geist in mir wirken lasse und also den ewigen Sabbat in diesem Leben anfange“ (Frage 103). Der Trost, den die erste Frage verspricht, ist diese Anwesenheit Gottes im ganzen Leben, in Leib und Seele, Alltag und Sonntag, Arbeit und Ruhe, Sinnen und Denken, Leben und Sterben.
 
*
 
Unsere Gegend am linken Niederrhein hat nicht nur protestantische „Heilige“ wie Tersteegen hervorgebracht. Die Kirchbücher reformierter Gemeinden verzeichnen neben Geburt und Tod oft nur noch einige Untaten ihrer Gemeindeglieder. Man liest da sehr Unangenehmes über die eigenen Vorfahren. Weniger unangenehm ist, dass einem meiner Vorfahren wegen unzüchtigen Tanzens die Gasthauslizenz entzogen wurde. Schlimmer ist: Die älteste Erwähnung meines Namens betrifft einen Vorfahr, der einen anderen bei einer Schlägerei zu Tode gebracht hat. Vielleicht hat auch er im Heidelberger Katechismus die Frage 3 gelernt:
 
Woher erkennst du dein Elend?
Antwort:
Aus dem Gesetz Gottes.
 
Gedacht ist beim Gesetz an die zentralen Gebote: die Liebe zu Gott und zum Nächsten. Kein Zweifel, dagegen hatte er schwer gesündigt. Vielleicht hat er aber einen paradoxen Trost aus der nächsten Frage geschöpft. Nach der Konfrontation mit dem Gebot der Gottes- und Nächstenliebe heißt es nämlich:
„Kannst du dies alles vollkömmlich halten?
Antwort:
„Nein, denn ich bin von Natur geneigt,
Gott und meinen Nächsten zu hassen.“ 
(Frage 5)
Dieser Pessimismus ist heute anstößig. Zu ihm gehört auch die Behauptung, dass „unsere Natur vergiftet“ sei (Frage 7). Die Interpreten winden sich hin und her, wenn sie das modernen Menschen erklären sollen. Ich sage Ihnen lieber direkt meine Meinung: Der Heidelberger Katechismus hat hier den Nagel auf den Kopf getroffen. Schon als kleines Kind hat mich unser Pastor davon überzeugt.
 
Höhepunkt seiner religionspädagogischen Didaktik war, uns zu erklären, dass der Mensch unwiderstehlich zur Sünde neigt. Er nahm einen Bleistift, hob ihn hoch und ließ ihn fallen. Dann sagte er: Wie der Bleistift zur Erde neigt, so neigt der Mensch zur Sünde. Ich erstarrte. Denn unsere Oma hatte uns verboten, Bleistifte auf den Boden fallen zu lassen; dann brechen die Minen. Genau das tat dieser heilige Mann! Ihm verdanke ich eine meiner ersten theologischen Erkenntnisse: Wie sehr muss eine Kirche in den Händen der Sünde sein, wenn ein Pastor mir nicht einmal erklären kann, was Sünde ist, ohne eine zu begehen.[1]
 
Später stieß ich noch auf ganz andere Sünden unserer Pastoren. In unser Haus kam ein Friseur und schnitt uns Kindern die Haare. Einmal kamen wir auf den Pastor zu sprechen, der in unserer Heimatstadt als Verkörperung reformierter Weisheit verehrt wurde. Der Heidelberger Katechismus, aus dem ich gelernt habe, war von ihm herausgegeben. Da sagte mir unser Friseur: Der – der hat mich einmal aus der evangelischen Jugendarbeit rausgeworfen! Und ich fragte: Warum? Da sagte er: Weil ich ein Jude bin. Er war einer der wenigen Judenchristen, die das dritte Reich überlebt hatten. Da ging mir auf: Auch Menschen, die Theologie studiert haben, neigen unwiderstehlich zum Bösen. Im Blick auf die NS-Zeit fällt es mir nicht schwer zu sagen: Wir sind von Natur geneigt, Gott und unseren Nächsten zu hassen. Das bricht immer wieder durch, auch bei den kultiviertesten Menschen – nicht nur bei denen, die im Suff andere Menschen erschlagen. Wenn man das fabrikmäßig organisierte Morden des Dritten Reichs vor Augen hat, kann man dem Heidelberger Katechismus keinen übertriebenen Pessimismus vorwerfen. [2]
 
*
 
Trotz dieses Realismus ist der Heidelberger Katechismus kein trauriges Buch. Im Gegenteil. Er handelt nur kurz von des Menschen Elend, ausführlich von seiner Erlösung, am längsten aber von seiner Dankbarkeit. Es ist ein Buch mit dem Optimismus, dass Menschen, die unwiderstehlich zum Bösen neigen, dennoch Gutes tun können. In Frage 107 heißt es nämlich zum sechsten Gebot „Du sollst nicht töten!“:
 
„Ist’s aber damit genug, dass wir unsern Nächsten nicht töten?
Antwort:
„Nein; denn indem Gott Neid, Hass und Zorn verdammt,
will er von uns haben,
dass wir unsern Nächsten lieben wie uns selbst,
gegen ihn Geduld, Frieden, Sanftmut,
Barmherzigkeit und Freundlichkeit erzeigen,
seinen Schaden, soviel uns möglich, abwenden
und auch unsern Feinden Gutes tun.“
 
Wenn man aus dem Heidelberger Katechismus nur den ersten Teil (vom Elend des Menschen) zitiert und nicht die Texte des dritten Teils über das Leben aus Dankbarkeit, dann ist das so, als würde man ein Drama nur aufgrund der ersten Szenen interpretierten. Man muss aber das ganze Drama des menschlichen Lebens vor Augen haben, um diesen Katechismus zu verstehen.  Dann erst strahlt das Licht auf, das in ihm enthalten ist – und das umso größer wird, je klarer die Dunkelheit menschlichen Elends gesehen wird.
 
Ich hebe nur einen sympathischen Zug heraus: Der Heidelberger Katechismus betont: Alle Menschen, wie hoch und niedrig sie auch sein mögen, sind dazu bestimmt, Gottes Willen zu tun. Er versteht die Bitte des Vaterunsers: „Dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf Erden“ nämlich so, „dass also jedermann sein Amt und Beruf (sc. auf Erden) so willig und treulich ausrichte wie die Engel im Himmel“ (Frage 124). Was eine Putzfrau, ein Hilfsarbeiter oder ein Pförtner tut, ist nicht weniger wichtig als das, was der höchste Engel im Himmel tut. Die Presbyter in meiner Heimatgemeinde waren einfache Menschen, aber sie gingen durchs Leben wie kleine Könige: wie Erwählte.
 
Um dieses Selbstbewusstsein klar zu machen, erinnere ich daran, warum der Heidelberger Katechismus die Zehn Gebote im dritten Teil von der Dankbarkeit behandelt. Bei den Lutheranern dienen die Gebote als Sündenspiegel. Sie hängen die Zehn Gebote als ihren Spiegel in den Flur. Da soll man erkennen, dass man nicht so ist comme il faut. Man soll sehen, dass man ein hässlicher Sünder ist. Aber wenn man ins Wohnzimmer kommt, soll kein Gebot mehr Angst machen, man könne es übertreten. Da soll man sich wohl fühlen. Im Wohnzimmer soll nur Liebe herrschen – und die herrscht bekanntlich nicht. Reformierte hängen sich dagegen die Zehn Gebote ins Wohnzimmer – als Meisterbrief, der sagt: Seht, zu all dem hat Gott uns befähigt. Wir sollen das Gute tun – und wenn wir noch so sehr zum Bösen neigen, auch wenn wir eine ganz bescheidene Rolle in diesem Leben spielen.
 
Denn das ist ein Trost: Aus Trunkenbolden und Totschlägern kann etwas Vernünftiges werden! Die Generation, die in die Verbrechen des 3. Reiches verstrickt war, konnte die erste geglückte Demokratie auf deutschem Boden aufbauen.
 
*
 
Aber wie kommt es denn zu der großen Veränderung, dass der Mensch von seiner Neigung zum Bösen befreit wird und aus Dankbarkeit Gutes tut? Das wird im zweien Teil von des Menschen Erlösung erklärt – mit der Satisfaktionslehre des Anselm von Canterbury. Der Mensch hat gegen Gott unendlich gesündigt. Dafür muss ein Ausgleich geschaffen werden. Das kann nur Gott: Nur er hat etwas auf die Waage zu bringen, das der unendlichen Schuld des Menschen entspricht. Aber bewirken kann es nur ein Mensch, denn der Mensch ist der Verursacher des Bösen. Nach dem Verursacherprinzip muss er für das gerade stehen, was er angerichtet hat. Also kommt Erlösung nur durch einen, der zugleich Gott und Mensch ist. Ehe man solche Lehren verdammt, wie das heute auch unter Theologen üblich ist, sollte man sich bemühen, sie zu verstehen – dabei aber weder die Achtung vor der Tradition noch vor sich selbst verletzen.
 
Selbstachtung verpflichtet uns, dass wir dagegen rebellieren, ein anderer Mensch solle durch seinen Tod für unsere Sünden sühnen. Ein Mensch kann Schulden auf andere übertragen, nicht aber Schuld.[3] Für sie muss er selbst einstehen. Aber ebenso gilt: Vergeben kann nur der, gegen den gesündigt wurde. Keiner kann an seiner Stelle sagen: Ich vergebe Dir. Die Satisfaktionslehre sagt: Nur Gott selbst kann die Verletzung der Gerechtigkeit überwinden. Dass Menschen viel lieber ihre Schuld auf andere Menschen abwälzen (auch auf Jesus), das gehört zu unserem Elend – auch wenn manche das für den Inbegriff der Frömmigkeit halten.
 
Wie man Schuld auf andere abwälzt, zeigt auch die Geschichte des Heidelberger Katechismus. Als er 1563 veröffentlicht wurde, trat Johann Sylvanus als Pfarrer in den Dienst des Kurfürsten. Johann Sylvanus bekam Zweifel an der Trinitätslehre. 1572 wurde er ein paar Meter von hier – zwischen Heiliggeistkirche und Rathaus – wegen Leugnung der Trinität hingerichtet. Die politischen und religiösen Motive, die zu dieser Hinrichtung führten, sind zu komplex, als dass ich sie in wenigen Worten durchsichtig machen könnte. Ein Motiv aber war, dass die Reformierten im Verdacht standen, die Trinitätslehre aufzuweichen – und fürchten mussten, als Ketzer bekämpft zu werden. Johann Sylvanus war ein Sündenbock für Probleme und Spannungen, die nicht ihm anzulasten sind.
 
Opfer gab es auch später noch, als der Heidelberger Katechismus auf der Synode in Dordrecht 1619 von den Delegierten vieler reformierter Kirchen anerkannt wurde. Die Synode beendete einen Streit zwischen einer liberalen und einer orthodoxen Strömung. Die liberalen Arminianer behaupteten, dass Gott das Heil aller Menschen will und dass Menschen das Heil ablehnen können – nur deshalb gelangen nicht alle zum Heil. Die Orthodoxen hielten dagegen an einer doppelten Prädestination fest. Gottes Erwählung sei unwiderruflich, seine Gnade unwiderstehlich. Der Heidelberger Katechismus lässt solche Fragen offen. Er erwähnt nirgendwo die Lehre von der Prädestination. Das ist sehr weise.
 
Der Sieg über die Arminianer war mit der Hinrichtung ihres politischen Führers Oldenbarnevelt wegen Hochverrats verbunden. Auch da entluden sich innen- und außenpolitische Konflikte, ein Konflikt zwischen Provinzen und Zentrale, zwischen Orientierung an England und an Frankreich. Der berühmte Gelehrte Hugo Grotius wurde damals zu lebenslanger Haft verurteilt und auf einem Schloss gefangen gehalten, durfte dort aber ein gelehrtes Werk über das Völkerrecht schreiben. Regelmäßig wurde eine Bücherkiste ins Schloss transportiert und mit alten Büchern gefüllt zurück gebracht. Das nutzte seine Frau, um ihn1621 zu befreien. Sie packte ihren Mann in die Bücherkiste, deckte ihn mit Büchern zu und schmuggelte ihn so hinaus. Ihre Rettungsaktion ist ein wunderbares Symbol für mich, das sagt: Nur im Schutz von Bildung können Theologen dem Gefängnis der Intoleranz entkommen!!
 
Die entscheidende Frage ist hier: Ist eine Religion kultiviert oder unkultiviert, tolerant oder intolerant, menschlich oder unmenschlich? Der Heidelberger Katechismus war im Rahmen seiner Zeit ein Plädoyer für eine menschliche Religion – gerade in der Frage von Universalismus und Partikularismus – also in der Frage, ob Gott das Heil aller Menschen will. Nicht weil der Katechismus dazu eine bestimmte Lehre vertritt, sondern weil er die Perspektive des individuellen Menschen wählt. Er sagt: Was ist mein einiger Trost im Leben und im Sterben? Dieses Ich kehrt immer wieder: Ich bin durch den Glauben ein Glied Christi (Frage 32). Der Heilige Geist wird bei mir bleiben bis in Ewigkeit (Frage 53). Mir wird die Gerechtigkeit Gottes aus Gnaden geschenkt (Frage 56). Ich empfinde den Anfang der ewigen Freude in meinem Herzen (Frage 58). Das erste Gebot will, dass „dass ich eher alle Kreaturen preisgebe, als im geringsten wider seinen Willen tue.“ (Frage 94) usw. Das wird immer wieder durch ein Wir ergänzt, das alle Christen zusammenschließt und verbindet. Der Katechismus nimmt also die Perspektive des Menschen ein – und nicht die von Spezialisten für prälapsarische Beschlüsse der Trinität. Diesem Individualismus, der den Glauben und das Vertrauen des Einzelnen ins Zentrum stellt, entspricht ein verborgener Universalismus. Auch das machte uns unser Pastor klar. Er ließ uns Frage 54 zitieren:
 
„Was glaubst du von der heiligen allgemeinen christlichen Kirche?
Antwort:
„Dass der Sohn Gottes aus dem ganzen menschlichen Geschlecht
sich eine auserwählte Gemeinde zum ewigen Leben ...
von Anbeginn der Welt bis ans Ende
versammelt, schützt und erhält
und dass ich derselben ein lebendiges Glied bin
und ewig bleiben werde.“
 
Dann fragte er: Gehören nur Christen zur Kirche? Wir sagten, weil wir dachten, das wolle er von uns hören: Nur Christen gehören zur Kirche. Falsch, wurden wir belehrt. War Adam etwa ein Christ? Zu Zeiten Adams gab es noch keine christliche Kirche. Aber von Anbeginn der Welt hat Gott Menschen in seiner Kirche versammelt. Gottes Kirche umfasst mehr als nur Christen. Sie umfasst auch Juden. Und dann lehrte er uns seine Version einer pluralistischen Religions- und Konfessionstheologie, die sich mir schon deshalb eingeprägt hat, weil sie eine Mischung von typisch reformierten Vorurteilen und reformierter Menschlichkeit ist – ein Stück konfessioneller Identitätsfolklore: 
 
Merkt euch, sagte er: Nicht nur Reformierte sind erwählt. Auch Lutheraner. Sie machen nur den Fehler, sich nach einem Menschen zu nennen. Luther war ein problematischer Mensch wie unser Calvin. Deshalb nennen wir Reformierte uns nicht Calvinisten. So werden Reformierte nur von anderen genannt, die nichts von uns verstehen. Leider aber sind die Lutheraner in manchen Dingen ein Übergang zu den Katholiken. Und die Katholiken? Ja, sie irren manchmal (siehe die Frage 80, die ein bisschen zu hart formuliert ist, aber im Kern stimmt). Aber es ist ganz klar: Auch Katholiken sind Christen. Man muss sie achten und lieben. Doch lässt sich nicht leugnen: Sie sind der Übergang zum Heidentum. Aber merkt euch – und das ist entscheidend: Gott hat die Freiheit, jeden Heiden zu erwählen! Du kannst ihm keine Vorschriften machen, wen er erwählt.
 
Wie reformiertes Ethos im praktischen Leben aussieht, veranschauliche ich mit zwei Erinnerungen aus meiner Familie. Auch damit Sie nicht meinen, es gäbe aus ihr nur von Tanz, Mord und Totschlag zu berichten. Das wäre mir dann doch nicht Recht. Ich erzähle von zwei normalen reformierten Christen und fasse dann mit Hanns Dieter Hüsch, dem reformierten Kabarettisten aus dem linken Niederrhein, die mir vertraute Lebensform und Lebenseinstellung in einem Gedicht zusammen.
 
Erste Erinnerung. Da ist Onkel Hans, schwer verletzt im 1. Weltkrieg, deshalb alleinstehend. Jeden Sonntag ging er in die Kirche. War immer heiter, bescheiden, ein wenig langweilig. Er war Prokurist, wusste genau, auf welcher Bank man 1 % mehr Zinsen bekommt oder gar 1,5 % mehr als auf einer anderen – und fuhr in halb Nordrhein-Westfalen herum, um diese Unterschiede auszunutzen. Das wurde in der Familie belächelt und galt als seine Marotte. Als mein Vater nach seinem Tod Nachlass und Erbe ordnete, war er jedoch tief beeindruckt. Erste Überraschung: Onkel Hans war Millionär. Das hätte niemand diesem bescheiden auftretenden Menschen zugetraut. Zweite Überraschung: Er hatte von seinem Geld unheimlich viel weggespendet, jede Spende genau verbucht, als müsse er ein Bankkonto im Himmel führen. Ich aber dachte: Da ist er jetzt in den Himmel gereist, weil er hofft, noch ein paar Prozent mehr Zinsen da oben zu bekommen. Onkel Hans war zweifellos ein guter Mensch.
 
Zweite Erinnerung (mit verändertem Namen), denn es wird jetzt wieder ein wenig romantisch: Onkel Kurt. Der heiratete sehr spät. Mein Vater erzählte mir von einem Brief, in dem er von seiner großen Liebe in jungen Jahren erzählte. Die scheiterte an einer potentiellen Schwiegermutter. Im Brief hieß sie nur die „Hexe“. Diese Hexe arrangierte, als er zu Besuch war, die Übernachtung von Onkel Kurt so, dass er leicht in das Zimmer des Mädchens hätte kommen können, um mit ihr das Bett und andere erfreuliche Dinge zu teilen. Das sollte ein Test sein: Wenn er das Mädchen wirklich liebt, so dachte diese Frau, dann muss er das tun. Der Brief schloss mit den Worten: O, diese Hexe, ich habe den Test nicht bestanden!
 
Hanns Dieter Hüsch hat die Mentalität solcher niederrheinischen Menschen in einem Gedicht dargestellt, mit dem ich schließen möchte – nicht weil ich meine, dass die Menschen dort wirklich so menschlich sind, wie sie in diesem Gedicht erscheinen, wohl aber, weil ich weiß: Es gibt dort viele, die gerne so sein würden.[4]
 
Es ist dem Menschen beigegeben
Ein kleines Stück von einem großen Leben
...
Doch größer wär des Menschen Not
Wär nicht ein Gott der milde mit uns allen.
 
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[1]Außerdem wurde uns das Bilderverbot eingeprägt. In unserer Kirche aber gab es ein Jesusbild, wie er an die Herzenstür klopft. Wenn ich dieses Bild sah, dachte ich immer: Warum hält diese Kirche nicht die Gebote, die sie uns auswendig lernen ließ. Denn wir lernten alle Frage 98:  „Dürfen aber nicht die Bilder als der Laien Bücher in den Kirchen geduldet werden? Antwort:  Nein: denn wir sollen nicht weiser sein als Gott, welcher seine Christenheit nicht durch stumme Götzen, sondern durch die lebendige Predigt seines Wortes unterwiesen haben will.“

[2] Auch aus meiner Heimatstadt kamen im Übrigen Pastoren, die vorbildlich waren, z.B. Ernst Jakob Christoffel (1876–1955), der Gründer der Christoffel-Blindenmission. Er wollte das Vorurteil widerlegen, das Blinde und Gehörlose nicht bildungsfähig seien, sondern sah in ihrer Bildung die große Chance, um sie zu integrieren. Deswegen hat er Schulen für sie gegründet – in der Türkei und im Iran. Er hat sich um die Opfer der armenischen Gräuel gekümmert. Noch mit 70 Jahren hat er eine Blindenschule in Isfahan in Persien gegründet. Sie wurde erst durch die Ayatollas nach der islamischen Revolution geschlossen.

[3] So I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Hamburg, 6. Auflage 1961, 77.

[4] H. D. Hüsch, Das Schwere leicht gesagt, Herder Spektrum 4881, Freiburg 1994, 118. Anm. d. Redaktion: Aus urheberrechtlichen Gründen ist das Gedicht an dieser Stelle nicht im vollen Wortlaut veröffentlicht. Googelnd lässt sich das ungekürzte Gedicht finden.


Prof. Dr. Gerd Theißen auf der Hauptversammlung des Reformierten Bundes am 7. Juni 2013 in Heidelberg

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Heidelberger Katechismus von 1563 stand im Mittelpunkt des Treffens der Reformierten

Vom 6. bis zum 8. Juni 2013 traf sich in Heidelberg die Haupt­versammlung des Reformierten Bundes. Mehr als 150 Reformierte beschäftigten sich mit Themen des Heidelberger Katechismus. Heidelberger Meldungen auf reformiert-info: