Wer ist Gott – und wenn ja, wie viele?

Predigt zu Hiob 10, 1-19 / Römer 8,24-26, Trinitatis

Fresko aus dem 14. Jahrhundert, Kirche von Urschalling © Wikimedia

Von Gudrun Kuhn

LESUNG: Könige 19, 11-13a
11 [Gott sprach zu Elija: Geh hinaus und stell dich auf den Berg vor den HERRN! Und sieh - da ging der HERR vorüber. Und vor dem HERRN her kam ein großer und gewaltiger Sturmwind, der Berge zer-riss und Felsen zerbrach, in dem Sturmwind aber war der HERR nicht. Und nach dem Sturmwind kam ein Erdbeben, in dem Erdbeben aber war der HERR nicht. 12 Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer, in dem Feuer aber war der HERR nicht. Nach dem Feuer aber kam das Flüstern eines sanften Windhauchs. 13 Als Elija das hörte, verhüllte er sein Angesicht mit seinem Mantel. Dann ging er hinaus und trat an den Eingang der Höhle. Und sieh, da [redete Gott mit ihm] ...

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LIED EG 382,1
Ich steh vor dir mit leeren Händen, Gott;
fremd wie dein Name sind mir deine Wege.
Seit Menschen leben, rufen sie nach Gott;
mein Los ist Tod, hast du nicht andern Segen?
Bist du der Gott, der Zukunft mir verheißt?
Ich möchte glauben, komm du mir entgegen.

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Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns. AMEN

Liebe Gemeinde –

es lobt
die lust eines vogels
im sturzflug den falter zu pflücken
den vater aller geschöpfe
lobt der falter ihn auch?

es lobt
die lust einer katze
im spiel das mäuschen zu killen
den gott allen lebens
lobt das mäuschen ihn auch?

es lobt
die lust eines seesterns
das muscheltier lebendig zu schlürfen
den lenker aller geschicke
lobt das muscheltier ihn auch?

So dichtete der reformierte Pfarrer Kurt Marti. Und ich möchte ergänzen:

Es lobt die Lust eines Virus
sich in Menschen einzunisten
den mächtigen König der Ehren
Lobt der Mensch ihn auch?

An Pfingsten wurde es gesungen: Großer Gott, wir loben dich / Herr, wir preisen deine Stärke. / Vor dir neigt der Erdkreis sich / und bewundert deine Werke. Ja, ein winziges Wunderwerk ist das Virus, kunstvoll geformt wie eine Krone, widerstandsfest, allgegenwärtig, nicht umzubringen. Und mit Herz und Mund sollen wir den Herrn preisen, der alles so herrlich regieret. Und glaubensstark versichern: Gott sitzt im Regimente / und führet alles wohl.
NEIN! Ich mach da nicht mehr mit.

Darf ich als Predigerin so etwas sagen? – Bitte verzeihen Sie mir. Aber ich will die alten Loblieder nicht mehr singen. Sie haben doch schon vor Corona nicht mehr gestimmt. Diese überkommenen Bilder von Gott: ein König, ein Herrscher, ein Feldherr, ein absoluter Richter, unser höchster Regent. Er weiß alles, sogar im voraus. Er vermag alles, ohne Einschränkung. Wir sind seine Untertanen, völlig abhängig von seiner Barmherzigkeit oder seinem Zorn. Er kann mit uns machen, was er will. So wie die Väter in der Antike mit ihren Kindern.

Jahrtausende lang haben solche Vorstellungen gepasst. Gepasst in eine Welt von Königen und Untertanen. Ausgeliefert war man der Willkür von Herrschern in Babylon und in Ägypten und noch im Zeitalter der europäischen Fürsten des 16. oder 17. Jahrhunderts. Öffentlich zu loben und zu preisen waren sie, durch Kniefälle und Vivatrufe. Mit Pauken und Trompeten. Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heerscharen. Alle Lande sind seiner Ehre voll! So huldigen die Engel dem Höchsten in der Thronsaal-Vision des Jesaja. Ja, in einer Thronsaal-Vision! In einer Zeremonie, wie man sie von altorientalischen Höfen und ihren Despoten kannte. Kyrie eleison rief man zu Zeiten des römischen Reichs dem Herrscher flehend zu, und der konnte sich erbarmen oder einen verkommen lassen, ganz wie es ihm beliebte. Ohnmächtig war man gegenüber dem Fürsten. Und stets gab es Verordnungen, die man nicht gänzlich erfüllen konnte, so dass man als Schuldner oder Schuldiger dastand. Als Sünder, der Strafe verdient hatte.

Ich will ehrlich sagen, was ich denke: Der Gott, wie ihn viele Teile der Bibel und die meisten unserer Gesangbuchlieder überliefern, ist eine höchst fragwürdige, sehr menschenartige Figur, der oberste aller Herrscher, der Feldherr mit seinen Heerscharen, der Richter mit dem Schwert, der All-Mächtige. Und einem solchen Herrschergott eifern die Despoten unserer Zeit immer noch nach: mit der Bibel und dem Militär gegen Demokraten, mit dem Koran und Polizeigewalt gegen Dissidenten, mit der Thora als Ideologie gegen die Menschen in den besetzten Gebieten des Westjordanlands. Monotheismus als Quelle von Gewaltfantasien.

Wie kann das sein, dass ein solches Gottesbild die letzten Jahrhunderte überdauert hat, dass Aufklärung und Demokratisierung immer mehr Menschen zu Atheisten werden ließen, dass aber wir Glaubenden in unseren Liturgien und Texten weiter an einem monarchischen Gottesbild festhalten, als würden wir noch im Zeitalter Paul Gerhardts leben? Wie kann das sein?

Ich glaube, es hat mit einer Gotteserfahrung zu tun, die der Theologe Schleiermacher vor 200 Jahren als „schlechthinnige Abhängigkeit“ benannt hat. Schlechthinnig, grundsätzlich, bedin-gungslos fühlen wir uns von etwas außer uns abhängig: Wir haben uns nicht selbst gemacht. Wir können es nicht ändern, dass wir sterben müssen. Und – wir beherrschen trotz aller For-schung und Technisierung die Natur nicht. Darum bleiben wir zeitlebens Fragende.

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LIED EG 382,2
Von Zweifeln ist mein Leben übermannt, mein Unvermögen hält mich ganz gefangen.
Hast du mit Namen mich in deine Hand, in dein Erbarmen fest mich eingeschrieben?
Nimmst du mich auf in das gelobte Land? Werd ich dich noch mit neuen Augen sehen?

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Religiöse Menschen füllen die Leerstelle des Fragens mit ihrem Glauben an Gott. Und sie vertiefen sich dazu in die überlieferten Schriften ihrer Tradition. Für uns ist das die Bibel. Aus der Bibel könnten wir freilich lernen, dass die Bilder von Gott über Jahrhunderte einem ständigen Wandel unterworfen waren. Dass Aussagen nebeneinander stehen, die sich bes-tenfalls ergänzen, oft sogar widersprechen. Und dass der Versuch, das Wesen Gottes eindeutig zu bestimmen, scheitern muss.

Wer ist Gott? Und wenn ja, wie viele?

In allen Mittelmeerkulturen wurde der Vielgötterglaube durch monotheistische Vorstellungen abgelöst. Und dabei versuchte man die Vielfalt religiöser Erfahrungen zu vereinheitlichen. Gott sollte überwältigend sein. Allmächtig und unwandelbar. Und wer mit diesem Gott in Schwierigkeiten geriet, war selbst schuld.

Hiob zum Beispiel. Wenn Gott ihm die Kinder sterben ließ, wenn Gott ihn mit schrecklicher Krankheit schlug, dann musste das Gründe haben. So sehen es jedenfalls seine angeblichen Freunde, die eine frühe Version der Erzählung repräsentieren. Denn Gott ist auf keinen Fall böswillig. Ein guter König. Ein siegreicher Feldherr. Ein gerechter Richter. Einer, den man bedinungslos loben muss.

Zwei Gründe also muss es für Hiobs Leiden geben. Er steht in Gottes Schuld. Selbst wenn er meint unschuldig zu sein. Unglück ist Strafe. Oder: Er steht unter Gottes Prüfung. Unglück ist die Chance auf Bewährung. Pech für die Kinder Hiobs. Allesamt mussten sie sterben, damit ihr Vater dadurch gestraft oder geprüft werden kann.

Ähnlich denken manche Leute auch in jetzigen Zeiten. Mit oder ohne Gott. Die Pandemie – so heißt es – zeigt uns unsere Versäumnisse auf, bestraft uns für unseren Lebensstil. Die Pan-demie lehrt uns, was wir in Zukunft besser machen müssen. Super. Für diese Einsichten ver-lieren Abertausende ihr Leben. Was für ein menschenverachtender Unsinn, aus allem einen höheren Sinn machen zu wollen. Oder gar auf Gottes allmächtigen Willen zu spekulieren. Die Verfasser der späteren Fassung des Hiobbuchs bewahren uns vor solchem Unsinn. Sie lassen Hiob schonungslos über sein Unglück klagen. (Hiob 10)

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1 Mich ekelt vor meinem Leben, meiner Klage will ich freien Lauf lassen, will reden aus der Bitternis meiner Seele. 2 Ich sage zu Gott: Sprich mich nicht schuldig, lass mich wissen, warum du gegen mich streitest. 3 Gefällt es dir, zu unterdrücken, das Werk deiner Hände zu verachten und den Plan der Frevler gelingen zu lassen? 4 Hast du Menschenaugen, und siehst du wie ein Sterblicher? 5 Sind deine Tage wie Menschentage oder deine Jahre wie die eines Mannes? 6 Du suchst nach meiner Schuld und forschst nach meiner Sünde. 7 Doch du weißt, dass ich nicht schuldig bin, und dass keiner retten kann aus deiner Hand. 8 Deine Hände haben mich gebildet und gemacht ganz und gar – und dann hast du mich vernichtet. 9 Bedenke, aus Lehm hast du mich geschaffen, und zu Staub lässt du mich wieder werden. 10 Hast du mich nicht hingegossen wie Milch und wie Käse mich gerinnen lassen? [...] 15 Wenn ich schuldig würde, dann wehe mir! Aber auch wenn ich im Recht wäre, dürfte ich mein Haupt nicht erheben, gesättigt mit Schmach und getränkt mit Elend. 16 Sollte es sich doch erheben, würdest du mich jagen wie ein Löwe und wieder unbegreiflich an mir handeln. 17 Neue Zeugen würdest du gegen mich aufstellen und deinen Unmut gegen mich mehren, immer neue Heere gegen mich führen. 18 Und warum hast du mich aus dem Mutterschoß kommen lassen? Wäre ich doch um-gekommen, bevor ein Auge mich erblickte! 19 So wär ich, als wäre ich nie gewesen, vom Mutterleib ins Grab gebracht.

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Dieser Hiob ist kein Untertan Gottes. Er redet mit Gott wie mit einem Partner oder genauer, wie mit einem Gegner. Nach menschlichem Ermessen kann er einen Gott, der ihn leiden lässt, nur böswillig und ungerecht finden. Er biegt sich seine Erfahrungen nicht zurecht, damit am Ende kein Zweifel an Gott mehr möglich ist.

Das ist der Preis des Glaubens. Der lässt sich nicht begründen oder durch Argumente sichern. In ihm müssen wir auch den Gedanken riskieren, dass Gott nicht lieb ist.

Mit großer Dankbarkeit erlebe ich in diesen Zeiten den Sommer im Garten, meine gesicherte finanzielle Situation, mein Gesundsein. Mit großer Dankbarkeit schließe ich mein Enkelkind in die Arme und freue mich, nicht alleine zu sein. Mit großer Dankbarkeit sehe ich, dass Deutschland mit Vernunft verwaltet wird und dass unser Gesundheitssystem funktioniert. In solchen Momenten kann ich sogar beten. Mit großer Dankbarkeit. Doch: Mit Wut und Hilflosigkeit erlebe ich, dass in diesen Zeiten in anderen Ländern Menschen sterben müssen wie die Fliegen, dass auch hierzulande vielen existenzielle Not droht, dass die Wissenschaft trotz großartiger Leistungen immer noch im Dunkeln tappt. In solchen Momenten kann ich nicht beten. Wozu? Wird Gott mich erhören und ein Wunder tun? Wieso hat er dann nicht gleich den Ausbruch der Pandemie verhindert? Wieso hat er die Menschen nicht vernünftiger geschaffen, damit sie eine bessere Politik machen? So frage ich mit Wut und Hilflosigkeit.

Das ist der Preis des Glaubens. Dass ich mich von dem Bild des allmächtigen und allgütigen Schöpfers, der wie ein wunderwirkender König die Welt beherrscht, verabschiede. So wie Hiob. Ja, wir sind schlechthinnig abhängig von den Bedingungen, in die uns der Schöpfer Gott gestellt hat. In die Evolution mit Fressen und Gefressenwerden, mit Seuchen und Katastrophen. Nicht weil wir sündig sind, nicht weil wir erzogen werden sollen, nicht um beten zu lernen. Gott wirkt in und jenseits der Universen von Universen. Er braucht unseren Lobgesang nicht.

Und unsere Vorwürfe können ihn nicht treffen. Vor diesem Gott verstummt Hiob einfach. „Ich lege die Hand auf den Mund.“ (40,4b) Und verstummen müssten auch wir, wenn uns in unserer religiösen Tradition nur dieses eine Bild von Gott überliefert worden wäre. Doch Gott ist auch noch ganz anders. Dreifaltig. Mindestens. Vielfältig. Verschiedenartig.

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LIED EG 664,1
Wir strecken uns nach dir, in dir wohnt die Lebendigkeit.
Wir trauen uns zu dir, in dir wohnt die Barmherzigkeit.
Du bist, wie du bist. Schön sind deine Namen. Halleluja. Amen.

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Lebendig ist Gott. Vielfältig. Schön sind seine Namen. Einer lautet Immanuel: Gott mit uns. Von ihm reden die Propheten. Wie in allen antiken Religionen hatte man auch in der israeliti-schen die Gottheit ursprünglich an einen Ort ihres Erscheinens gebannt. Im erhöhten Tempel hatte er sich niedergelassen. Der Zionsberg war der Schemel seiner Füße. Und solange er dort residieren würde, Schirm und Schild gegen alle Feinde, würde dem Volk kein Unheil zustoßen. Es kam anders in der Geschichte Israels. Immer wieder. Der Tempel zerstört, der Herr der Heerscharen vertrieben, Teile des Volks in der Verbannung. Da wurde den Theologen klar, dass ihr Gott etwas anderes ist als eine starke Kriegsmaschine. Dass er sich nicht auf einen Ort festlegen lässt. Dass er stattdessen mit ihnen war: bei den Gefangenen und Besitzlosen, bei den Witwen und Waisen, bei den Verzweifelten und an ihm Zweifelnden. Gott mit ihnen. In der Verbannung. In der Schwachheit. In der höchsten Not. Gott mit ihnen. Mitten unter ihnen.

Ein ganz anderes Gottesbild erkenne ich da. Er ist der Empathische, ja mehr noch: der Mit-Leidende. Er thront nicht als unnahbarer König im himmlischen Saal, sondern ist bei uns alle Tage bis an der Welt Ende. Den Satz kennen Sie. Unversehens bin ich den Weg in der Religionsgeschichte weitergegangen. Die Einwohnung Gottes in die Menschenwelt, von der die Propheten schreiben, sie wurde von den frühen Christen weiter gedacht. Weiter gedacht und auf den Einen bezogen, auf Jesus von Nazareth. Er wurde ihnen zum Gesicht Gottes in der Welt, zum lebendigen Zeichen seiner Nähe, wahrer Mensch und wahrer Gott – wie die christlichen Philosophen es später formulierten. In ihm ist Gott mit uns. Oder wie Johannes ihn sagen lässt: Ich und der Vater sind eins. (Joh 10,30)

Auf Jesus können wir blicken, wenn wir nach Gott fragen, den er Vater nennt. Auf sein Leben und seinen Tod, der die Konsequenz aus seinem Leben war, einem Leben für andere. Die Evangelisten zeigen ihn als den, dem keine Gewalt hilft, keine Legionen von Engeln, kein Schwert des Petrus, kein wunderbares Eingreifen Gottes auf Golgatha. Sie zeigen ihn auf der Seite der Schwachen. Sie zeigen ihn als den, der keine Lobpreisungen verlangt, sondern Nachfolge, keine Anbetung, sondern solidarisches Handeln der Menschen untereinander. Sie zeigen ihn als den, der seine Feinde nicht unterwerfen will, sondern überzeugen, nicht hassen, sondern lieben. Sie zeigen ihn als den, der Angst und Schuldgefühle wendet ihn Erleichterung und Vertrauen. Dir sind deine Sündern vergeben, sagt er, während die Priester vom strafenden Gott predigen. Fürchte dich nicht, ist sein Friedensgruß für alle. Menschwerdung Gottes nennt das die Theologie und die Philosophie. Und Jahrhunderte wurde gestritten, wie das denn denkbar ist: Gott und Christus sind eins. Manchmal finden die Dichter bessere Worte. Noch einmal Kurt Marti:

DU [GOTT]
und deine
lebendige ikone
Marias sohn
der den neuen äon
verkündet hat
die vollendung
der schöpfung
den finalen sieg
über armut elend
und schicksalszwänge
die endlich klassenlose
gemeinschaft der befreiten
in der du [GOTT]
alles in allem sein wirst (1. Kor 15,28)
und deine geschöpfe
außer sich bei dir sind
und du das licht
in ihnen bist

Orgel: Jesus bleibet meine Freude (J.S.Bach)

Lebendig ist Gott. Vielfältig. Schön sind seine Namen. Am Trinitatisfest feiern wir noch mehr davon: Lebendigmacher, Tröster, Fürsprecher, Neu-Schöpfer: Heilige Geistkraft. Im Hebräischen ist das Wort weiblich. Und das Bild aus der Kirche von Urschalling lässt an der weiblichen Seite Gottes keinen Zweifel, auch wenn der Geist – zwischen Vater und Sohn – vielleicht eine Jünglingsgestalt ist. Bei genauem Hinsehen werden Sie das Zeichen schon finden, dass wir uns Gott nicht nur männlich in dreierlei Gestalt denken müssen.

Den Heiligen Geist haben die Christen nicht erfunden. Er ist schon in der Schöpfungserzählung präsent: Der Geist Gottes bewegte sich über dem Wasser. (Genesis 1,1) Der Geist ist der in sich Bewegte und Bewegende. Er wird nicht in den Tempel gebannt und bleibt nicht auf die historische Person des Jesus von Nazaret begrenzt. Er überwindet die Kluft zwischen Mensch und Gott. Und die Kluft der Menschen untereinander. Gott ist mit der Welt noch nicht fertig. So sieht es der Theologie Gerd Theißen. Und er braucht uns: mündige, tatkräftige Menschen. Gott ist mit der Welt noch nicht fertig. / Er arbeitet als Schöpfer an ihr, / er leidet in Jesus an ihr, / er wirkt als Geist in uns, / um Leid zu verringern / und in Segen zu verwandeln.

Eine Evolution der Menschlichkeit. Eine Evolution der Gerechtigkeit. Eine Evolution der Liebe. Aus der Hingabe Jesu lernen wir, dass Durchsetzungskraft und Herrschaft über andere nicht göttlich ist. Und wir sehen derzeit beeindruckende Zeichen, wie der Geist belebt: Menschen denken nicht zuerst an den Erhalt des Besitzes, sondern an den Schutz der Schutzbedürftigen. Menschen entdecken neue Wege zueinander. Menschen verbünden sich gegen Rassismus und Polizeigewalt. Menschen streiten dafür, dass dem üblen Präsidenten die als Wahlkampfmittel hochgehaltene Bibel wie ein Felsen vor die Füße fallen wird. So formulierte es unser Kirchenpräsident Heimbucher. Der Heilige Geist macht uns gewiss, dass wir uns von Menschengewalt nicht abhängig machen sollen. Er macht uns gewiss, dass unser Einsatz für Gerechtigkeit nicht umsonst ist. Und dieser Geist vermag uns auch in Golgathanächten, wenn wir uns verlassen fühlen, zu trösten. Woher ich das wissen kann? Mache ich mir nur etwas vor? Verwechsle ich meine eigenen Wunschträume mit dem göttlichen Geist?

Das ist der Preis des Glaubens. Nicht immer wird wahr sein, was Menschen als Eingebung Gottes empfinden. Nicht immer werden wir getröstet sein. Nicht immer werden wir das Gottvertrauen finden, das wir so nötig brauchen. Oft bleiben Zweifel. Das ist der Preis des Glaubens. Aber der Apostel Paulus hält einen guten Rat bereit. (Römer 8)

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24 [...] Eine Hoffnung [...], die man sieht, ist keine Hoffnung. Wer hofft schon auf das, was er sieht? 25 Hoffen wir aber auf das, was wir nicht sehen, dann harren wir aus in Geduld. 26In gleicher Weise aber nimmt sich der Geist unserer Schwachheit an; denn wir wissen nicht, was wir eigentlich beten sollen; der Geist selber jedoch tritt für uns ein mit wortlosen Seufzern.

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Da ist es wieder, das Verstummen, wenn es um Antworten auf die Fragen nach Gott geht. Wir haben es von Hiob gelernt. Und wir lernen es von Paulus. Die vielen klugen Abhandlungen über die Trinität, über Gottes Dreiheit in der Einheit, helfen uns nicht wirklich weiter. Und es verschlägt uns die Sprache, wenn wir danach gefragt werden. Wer ist Gott – und wenn ja, wie viele? Es macht nichts, wenn uns die Worte fehlen. Der Geist hilft unserer Schwachheit auf. Er ist unser Atem, wenn wir beten. Und wir dürfen beten, auch wenn wir voller Zweifel und Fragen bleiben. Wortlos und stammelnd und dankbar für die Worte anderer in der Gemeinde, die mit uns auf dem Weg sind. AMEN

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Lied EG 382,3
Sprich du das Wort, das tröstet und befreit und das mich führt in einen großen Frieden.
Schließ auf das Land, das keine Grenzen kennt, und lass mich unter deinen Kindern leben.
Sei du mein täglich Brot, so wahr du lebst. Du bist mein Atem, wenn ich zu dir bete.


Gudrun Kuhn