Der köstliche Duft der Güte Gottes

Predigt zum jüdischen Fest Sukkot

© Gilabrand / Wikicommons

Von Sylvia Bukowski

Liebe Gemeinde,

vor 3 Wochen haben wir hier zusammen Erntedank gefeiert. In dieser Woche tut das die jüdische Gemeinschaft, aber nicht nur an einem Tag, sondern 7 Tage lang. Ihr Fest heißt Sukkot, auf deutsch Laubhüttenfest. Es gilt als fröhlichstes unter allen jüdischen Festen.

Darüber möchte ich heute predigen. Und ich sage bewusst: Predigen, nicht nur informieren. Denn dieses jüdische Fest schließt uns ein. Von Anfang an ist es darauf angelegt, dass alle Völker teilhaben sollen an der Freude an dem Gott Israels. Im Laufe der 7 Tage wurden ursprünglich 70 Stiere geopfert für die damals bekannten 70 Nationen. Und der Prophet Sach. kündigt im letzten Kapitel seines Buches an, dass alle Völker nach Jerusalem kommen werden, um das Laubhüttenfest zu feiern.

Aber noch wichtiger ist, dass es inhaltlich Aspekte der biblischen Botschaft veranschaulicht und vertieft, die auch für uns von Bedeutung sind.

Zunächst wird an Sukkot tatsächlich Erntedank gefeiert. Aber während bei uns unterschiedlich viele Erntegaben auf oder vor dem Abendmahlstisch liegen, feiert die jüdische Gemeinschaft mit 4 festgelegten Elementen, und die liegen nicht still auf einem Tisch, sondern werden zu einem Strauß gebunden und unter Lobgesang und Hosiannarufen fröhlich geschwenkt: In diesen Strauß, den sog. Lulav gehören der etrog, das ist eine große Zitrusfrucht, Palmblätter, Mytrenzweige und Weidenäste. Es gibt verschiedene Deutungen dazu. Ich zitiere nur eine besonders schöne:

 ... Wie die Zitrusfrucht sowohl Geschmack hat als auch einen lieblichen Geruch, so gibt es in Israel Menschen, die sowohl gelehrt sind als auch ihren Glauben leben.
Wie die Früchte des Palmzweigs zwar Geschmack haben, aber geruchlos sind, so gibt es in Israel Menschen, die zwar gelehrt sind, aber ihren Glauben nicht leben.
Wie die Myrtenzweige zwar einen lieblichen Geruch haben, aber ungenießbar sind, so gibt es Menschen, die gute Werke tun, aber keinerlei Gelehrsamkeit besitzen.
Wie die Weidenzweige weder eßbar sind noch einen angenehmen Geruch verbreiten, so gibt es Menschen, die weder gelehrt sind noch gute Werke tun.
Der Ewige, gepriesen sei er, sagt: Damit Israel nicht untergeht, laßt sie alle zusammengebunden sein, wie die Pflanzen zu einem Bund zusammengebunden sind, so daß die Gerechten unter ihnen für die anderen Sühne bewirken.

Ich finde, das ist ein auch für uns ein guter Impuls: Nicht nur die Frommen und kirchlich engagierten Christ*innen gehören zum Volk Gottes, sondern auch die, die offiziell die treuen Fernstehenden und inoffiziell die Karteileichen genannt werden. Anders als früher sieht man hier wahrscheinlich nicht mehr selbstgerecht auf jene herab, sondern bedauert eher, dass wir selbst in dieser aktiven Gemeinde nicht alle erreichen, geschweige denn alle einbinden können. Der Lulav erinnert tröstlich daran: vor Gott sind alle eingebunden. Unsere Aufgabe ist, den köstlichen Duft der Güte Gottes und den Geschmack unseres Glaubens zu bezeugen und darauf zu vertrauen, dass Gott daraus etwas machen wird, was nicht in unserer Macht steht.

Ich habe vorhin gesagt, dass mit Sukkot Erntedank gefeiert wird, etwas, das es in unterschiedlichen Formen in allen Religionen gibt. Aber schon der deutsche Name Laubhüttenfest deutet an, dass noch etwas anderes, speziell jüdisches dazu kommt. Denn nicht nur Gott, der Schöpfer der ganzen Welt steht an Sukkot im Mittelpunkt, sondern auch der Gott, der Israel aus Ägypten herausgeführt hat. Die Laubhütten, nach denen das Fest genannt ist, erinnern an die Wüstenwanderung der befreiten Sklaven. Jede jüdische Familie baut so eine Hütte wo immer möglich auf ihrem Balkon oder in ihrem Garten. Und wenn sie keinen Platz dafür hat, steht auf jeden Fall so eine Hütte bei den Synagogen, übrigens auch hier in Wuppertal. Die Größe der Hütte ist beliebig. Das wichtigste ist, dass das Dach unter offenem Himmel steht und nicht völlig abgedichtet ist, denn in einer klaren Nacht soll man die Sterne sehen können.

Die 7 Tage des Festes soll man in der Hütte wohnen, sofern es starker Regen nicht unmöglich macht. Und das gilt für alle, für Reiche wie Arme. Auf diese Weise werden die sozialen Unterschiede, die Menschen trennen, 7 Tage lang ganz außer Kraft gesetzt. Denn Hütte ist Hütte. Man kann sie ausschmücken – und Kinder tun das mit Begeisterung, sie malen und basteln wunderschöne Dinge für die Sukka. Aber das Provisorische und Gefährdete der Hütte bleibt, und muss bei dem Fest auch bleiben. Eine Hütte ist nicht von Dauer. Eine Hütte bietet keine Sicherheit. Sie ist anfällig für Wind und Wetter.

Jeder Mensch soll in den Tagen des Laubhüttenfestes daran erinnert werden, dass das Leben wie eine Hütte ist. Denn auch das Leben ist nicht von Dauer, und selbst wenn man es schön gestalten kann, bleibt es gefährdet und hinfällig, angewiesen auf den, der über den Sternen thront. Aber der ist gleichzeitig der, der sein Volk in den Gefahren der Wüstenwanderung in einer Hütte, der sog. Stiftshütte begleitet hat. Es ist der Gott, der durch Jesaja sagt: Fürchte dich nicht, ich bin mit dir. Blicke nicht ängstlich, denn ich bin dein Gott. Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich halte dich bei meiner sieghaften Rechten.Jes  41,10

Was für eine tröstlich Botschaft! Eine Botschaft, die verhindert, dass aus dem Bedenken der Unsicherheit und der Verletzlichkeit des Lebens, oder wie man heute mit dem fast unaussprechlichen Fremdwort sagt: aus der  menschlichen Vulnerabilität  eine trübe Stimmung wächst. Das Laubhüttenfest ist ein fröhliches Fest, weil es das Vertrauen stärkt, dass Gott ein Gott ist, der das gefährdete Leben begleitet, so wie er es auf der langen Wüstenwanderung Israels getan hat. Er ist ein Gott, der Schutz gibt, wo ein Mensch sich nicht selbst schützen kann. Ein Gott, der da ist. Nicht berechenbar. Aber verlässlich. Nicht bei denen, die ihn auf ihr Koppelschloss zwingen, sondern bei denen, die auf Gewalt verzichten und Hilfe brauchen.

Sukkot ist gerade für die jüdische Gemeinschaft ein tröstliches Fest, weil sie so oft brutal erleben musste, dass sie keine bleibende Statt hat bei den Völkern, unter denen sie nach dem Verlust ihres Landes leben musste. Immer wieder ist sie verfolgt und vertrieben worden, immer wieder mit dem Tod bedroht. Aber der Gott Israels hat sie nicht verlassen. Er hat sie selbst in den dunkelsten Zeiten begleitet. Hat sie in der Sukka seiner Gegenwart geborgen.

Sukkot ist auch heute ein tröstliches Fest für die jüdische Gemeinschaft, die sich seit dem 7. Oktober letzten Jahres nirgendwo auf der Welt mehr sicher fühlt, auch nicht hier bei uns. Sukkot vergewissert sie der Treue Gottes, der ihre Zuflucht bleibt, und so wird dieses Fest selbst in der bedrückenden Gegenwart trotzig und getrost mit Freude gefeiert.

Von Gottes Treue leben auch wir. Jesus Christus hat sie uns mit seinem Leben und Sterben bestätigt. Auch wir haben Grund trotzig und getrost Gottes Lob zu singen und vor Hass und Gewalt nicht zu resignieren. Gott lässt uns nicht allein.

Ich komme zu einem letzten Merkmal des Laubhüttenfestes, das auch für uns eine Botschaft hat. Zu jedem jüdischen Fest gehört eine sog. Festrolle, d.h. eins der biblischen Bücher, die bei uns Lehrbücher heißen.

Zu Sukkot gehört Kohelet, wir sagen: der Prediger Salomo. Und auf den ersten Blick passt das überhaupt nicht. Ich habe schon mehrfach betont, dass Sukkot ein fröhliches Fest ist, nach jüdischem Verständnis sogar das fröhlichste aller jüdischen Feste. Und dann soll da ausgerechnet das Buch des Predigers Salomo gelesen werde, das pessimistischste Buch der ganzen Bibel? Alles ist eitel, anders gesagt, alles ist vergeblich, ist ohne Sinn, mit dieser Feststellung fängt das Buch an und zwischendurch taucht sie immer wieder auf. Denn Kohelet sieht keine Gerechtigkeit. „Es gibt Gerechte denen geht es als hätten sie Werke der Gottlosen getan und es gibt Gottlose, denen geht es als hätten sie Werke der Gerechten getan schreibt er 8,14. Und so sehr man sich auch bemüht: alles endet im Tod: „Es geht dem Menschen wie dem Vieh, wie dies stirbt so stirbt er auch“ heißt es 3,19. Alles ist eitel, alles vergeblich, alles ohne Sinn. Und wenn man heute sieht, wie es auf der Welt zugeht, kann man dem leider wenig entgegenhalten. Es scheint tatsächlich alles eitel, alles vergeblich, alles ohne Sinn.

Kohelet beobachtet sehr genau und ohne zu beschönigen, und beschreibt, wie brüchig alle Sicherheiten sind, wie hinfällig das Leben. Das trifft das, wofür die Sukka steht. Umso mehr stellt sich die Frage: Wie kommt es dann zu der Freude, die dieses Fest ausmacht?

Dazu muss man genau lesen, denn überraschenderweise endet jeder der 7 bitteren Abschnitte im Buch des Predigers mit einem Lob der Freude, ich zitiere als 8,15, da heißt es: „Darum pries ich die Freude, dass der Mensch nichts Besseres hat unter der Sonne als zu essen und zu trinken und fröhlich zu sein. Das bleibt ihm bei seinen Mühen sein Leben lang, das Gott ihm gibt unter der Sonne.“

Sich freuen über das, was gut ist im Leben, den Moment genießen, trotz allem, was so bedrückend ist, einmal die Kontrolle über sich abgeben in ausgelassenem Jubel und Tanz, das ist nach biblischem Verständnis gleichzeitig ein echtes Lob Gottes. David tanzt selbstvergessen vor Freude über die Bundeslade, in der Gottes Gegenwart wohnt, und schert sich nicht, dass selbst seine Frau Michal ihn lächerlich findet. Und so haben die ehrwürdigsten Priester an Sukkot im Tempel getanzt und unbändig gejubelt über Gottes Güte und Treue.

Der christliche Theologe Ingo Baldermann beschreibt in seinem Buch über die Psalmen für Kinder ein Kind, das auf einem Bein hüpft und ruft: ich freu mich so, ich freu mich so – und nennt das den besten Dank an Gott – auch ohne ein ausdrückliches Dankeschön.

Ein jüdischer Gelehrter (der großartige Rabbi Jonathan Sacks)weist darauf hin, dass das Besondere an Freude darin besteht, dass sie unabhängig von Glück ist. Glück hat nicht jeder – Glück hängt von vielen Umständen ab und ist sehr unterschiedlich verteilt. Aber freuen kann sich ein Mensch selbst in schwerer Zeit. So heißt es bei dem Propheten Habakuk:  „Der Feigenbaum grünt nicht und es ist kein Gewächs an den Weinstöcken. Der Ertrag des Ölbaums bleibt aus und die Äcker bringen keine Nahrung, die Schafe werden aus ihren Hürden gerissen und in den Ställen sind keine Rinder. Aber ich will mich freuen des Herrn und fröhlich sein in Gott, meinem Heil.“ Habakuk 3,17f.

Ja, das Leben ist ungerecht. Das wird jeder unbestechliche Beobachter zugeben. Zu sehen ist viel Leid, viel Unglück, viel gewaltsames Sterben. Jeden Tag kriegen wir das zu sehen. Und Vielen geht das inzwischen über die Kraft. Sie halten die Bilder nicht mehr aus – und das gilt gerade auch im Blick auf den Nahen Osten. So viel zerstörtes Leben auf allen Seiten. Auch viele jüdische Menschen hier und in Israel sind dagegen nicht immun. Trotzdem feiern sie mit Freude Sukkot, weil sie aus der biblischen Tradition und auch durch Kohelet wissen: Freude wächst nicht aus dem, was zu sehen ist. Sie wächst aus dem Hören auf die Stimme dessen, der hinter dem Sichtbaren wirkt, der die Welt geschaffen hat durch sein Wort und der die, die auf ihn hören, widerstandsfähig macht mit der verlässlichen Zusage: „Ich weiß, was ich für Gedanken über euch habe, Gedanken des Friedens und nicht des Unheils, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung.“ Jer 29,11.Gottes Wort ist die Quelle von Lebensfreude allen Unsicherheiten und Gefahren zum Trotz.

Ich habe am Anfang gesagt: Das jüdische Laubhüttenfest schließt uns Christen ein. Es schließt uns ein in die die Dankbarkeit für Gottes Schöpfung, in das Wissen um die Verletzlichkeit unseres Lebens und in die Freude, die aus Gottes Wort wächst und selbst im Leid nicht versiegt. Sie merken: Uns verbindet viel, genug, um gegen die vielen Formen von Judenhass unserer Zeit mit Worten und Taten zu zeigen: Christen und Juden gehören zusammen. Untrennbar.


Sylvia Bukowski