Feindbilder gegenüber Muslimen abbauen

Predigt zum Kirchentag zu Röm 12, 9


Dietrich Bonhoeffer © Wikimedia / Bundesarchiv

Der Kirchenpräsident der Evangelisch-reformierten Kirche, Martin Heimbucher, hat beim Kirchentag in Stuttgart dazu aufgerufen, Feindbilder gegenüber Muslimen nicht zuzulassen.

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen.

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder,

In den letzten Monaten seines Lebens, im Gefängnis in Tegel, erinnert Dietrich Bonhoeffer sich an ein Gespräch mit einem Freund. Die beiden waren sich als Studenten in New York begegnet, zwei junge Europäer in den USA, aus zwei verfeindeten Ländern: ein Deutscher und ein Franzose. Der Franzose, Jean Lasserre war ein entschiedener Pazifist, damals eine Seltenheit. Und die beiden überlegen miteinander, was sie eigentlich aus ihrem Leben machen wollen. Und Bonhoeffer ist ganz überrascht, als Lasserre, antwortet: „Ich möchte ein Heiliger werden!“

Bonhoeffer erinnert sich an seine Reaktion und schreibt: „Das beeindruckte mich damals sehr. Und ich halte es für möglich, dass Lasserre ein Heiliger geworden ist. Trotzdem widersprach ich ihm und sagte ungefähr: Ich möchte glauben lernen.“

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder, zu Heiligen taugen wir wohl eher nicht. Aber ein gutes Leben zu führen, nicht wahr, dieser Wunsch bewegt uns alle. Vielleicht hat uns die Suche nach dem guten, nach einem besseren Leben hier nach Stuttgart zum Kirchentag geführt. Aber: Ein gutes Leben führen – wie geht das?

Eine ganze Reihe von Antworten darauf haben wir eben gehört. 2000 Jahre alt. An die Gemeinde in Rom. Antworten von gestern? Nein. Es sind Antworten von Morgen. Wie führe ich ein gutes Leben? Antwort Paulus, Römer zwölf, Vers neun: Aller guten Dinge sind drei:

1. Liebt ohne Vorurteil!
2. Haltet Euch das Böse vom Leib!
3. Werft Euch dem Guten in die Arme!

So einfach ist das! Und so unendlich schwierig! Denn an Ratschlägen zu einem gelungenem Leben mangelt es wahrlich nicht. Viele davon hören wir schon ein Leben lang. Als Kinder: Wasch deine Hände! Setz dich richtig an den Tisch! Sag bitte und danke! Putz deine Zähne! Und in der Schule geht‘s weiter: Mach deine Hausaufgaben! Übe Lesen! Trainiere das Einmaleins! Und das hört anscheinend niemals auf!

Gute Ratschläge gibt’s auch auf einem Kirchentag: im Dutzend billiger: „Engagier dich! Kaufe fair! Beweg‘ dich ökologisch! Iss vegan – oder wenigstens vegetarisch. Mach dich fit! Setz Dich ein! Lebe spirituell! Glaub an Gott!“ Und jetzt also zu all diesen Ermahnungen kommt diese Uraltliste guter Ratschläge von Paulus oben drauf. Ausgerechnet von dem. Ach Paulus! Müsste ich nicht aussteigen aus der Tretmühle meines Alltags, um ein wirklich gutes Leben zu führen? Müsste ich nicht ein Heiliger werden, eine Mutter Teresa vielleicht, die ihr eigenes Leben aufgibt und ganz und gar lebt für die Armen in Kalkutta?

Du, Paulus, bist dieser Meinung offenbar nicht. Du richtest deinen Brief an eine winzige Minderheit in der Weltstadt Rom. Aber du lockst sie nicht weg aus der großen Stadt. Du schickst sie nicht nach Galiläa zurück, in die Landschaft Jesu, wo sie sich zurückziehen und vielleicht ein gutes Leben führen könnten. Sondern du meinst offenbar, dass die Christenleute im Sinn und Gefolge Jesu Christi leben sollen, mitten in der großen und sündigen Stadt. Aber merkwürdig: Du hast Deinen berühmten Brief ja gar nicht begonnen mit all den guten Ratschlägen und Lebensregeln.

Wir sind immerhin schon im zwölften Kapitel, wenn es los geht mit deinen vielen Ausrufezeichen. Der große Römerbrief geht in die Zielgerade. Und vorher, in den ersten zwölf Kapiteln worum geht’s da? Nun denn, ich versuch‘s in Kurzfassung:

Was vorher geschah! Die Welt ist nicht in Ordnung, sagt Paulus am Anfang. Das ist kein besonders erbaulicher Anfang für einen Brief. Aber ziemlich realistisch, leider. Wir kriegen das gute Leben und Zusammenleben eben immer wieder nicht hin! Im Gegenteil: Wo immer man hinschaut, ist die Welt nicht in Ordnung. Wir Menschen sind dem Hang zum Bösen ausgesetzt. Wir tun einander Gewalt an, in verdeckter Kriegsführung oder in offener Aggression. O ja, Gewalt kann sich verstecken, auch hinter scheinbar ganz korrekten Worten. Paulus nennt diese ernüchternde Realität mit einem verschlissenen und missbrauchten Wort: Sünde. Wir übersetzen dieses Wort vielleicht besser so: Unser menschlicher Hang und Drang, dem anderen zu schaden. Und oft auch uns selber. Wo auch immer du genauer hinschaust, ist es so. Paulus hat seine Beispiele, und wir haben unsere.

Jetzt könnten die Ratschläge für ein gutes Leben kommen. Das tun sie aber noch lange nicht. Denn jetzt kommt erst das Entscheidende: Zehn Kapitel lang: Gottes Eingreifen in die Welt der Sünde. Seine einzigartige Unterbrechung des Laufes der Welt. Der Einbruch des Guten in unsere Welt. Der Einbruch von Gottes Zukunft in unsere Gegenwart. Morgen-Land. Reich Gottes. Jesus Christus.

Und jetzt zieht er Menschen da mit hinein. Die Juden zuerst und dann die Heiden. Alle. In diese Neuschöpfung. In dieses neue Leben, zu dem er uns mit Christus aufweckt. Die Taufe ist das Zeichen dafür. Und das Feierabendmahl ist die Gemeinschaftsübung für diese Teilhabe an dem Neuwerden aus Gott. Und wenn Du das feierst, diese Auferweckung Christi und Deines Lebens, dann heißt das auch: Feierabend für das Böse. Schluss damit. Zehn Kapitel lang hat Paulus den Römern von der Liebe Gottes in Christus geschrieben. Und jetzt, am Ende, sagt er, wie man aus dieser Liebe Gottes lebt. Jetzt also: Bahn frei für die Gesten und Zeichen des Guten.

1. Lieben ohne Vorurteil!

Meinem Platz gegenüber in der Straßenbahn Richtung Universität sitzen zwei junge Frauen. Beide ebenso dezent wie perfekt geschminkt. Den Kopf umhüllt mit dem Hidschab, dem Kopftuch der Muslima. Und mit einem Mal drängen sich vor meinen Augen ganz andere Bilder in die friedliche Szene in der Straßenbahn. Bilder von schwarz vermummten Männern mit ihren Kalaschnikows. Solche Bilder schieben sich plötzlich vor die friedliche Szene in der Straßenbahn. und stehen nun zwischen mir und den beiden Studentinnen.

„Lieben ohne Vorurteil“. Liebe Gemeinde, es gibt kaum eine drängendere Aufgabe in der Welt und auch in unserer Gesellschaft, als gegen diese Vor-Urteile gegenüber den Muslimen aktiv anzuleben. Es gilt, die Bilder der Gewalt wegzuschieben, die sich zwischen Menschen unterschiedlicher Religion geschoben haben. Und die auf allen Seiten fleißig produziert und millionenfach verbreitet werden - oft in der Absicht, das Vorurteil groß zu machen und die Menschen voneinander zu trennen. Es gibt nur einen Weg, diese Feind-Bilder in uns zu besiegen: Seht einander an. Sprecht miteinander. Macht gemeinsame Erfahrungen. „Lieben ohne Vorurteil!“ Im Namen Jesu Christi, der ohne Bedingung liebt, wenden wir uns immer neu dem anderen zu, ohne Vorbehalt; auch dem, der es uns vielleicht schwer macht; Christus erleichtert ihn uns.

2. Haltet Euch das Böse vom Leib.

Ein Freund erzählt: Wenn ich manchmal meine Gedanken nicht loswerden kann, wenn mich Erinnerungen bedrängen, Entscheidungen, Fehler und Schuld, dann mache ich heimlich eine Übung: Ich lege meine linke Hand hier auf die Mitte, unterhalb des Herzens. Mit dieser Geste will ich mich zeichenhaft schützen, an Leib und Leben. Damit aber nicht genug. Die andere Hand schiebe ich weit nach vorne und sage: STOPP! Damit gebe ich dem, was mich quält, ein Stopp-Zeichen. Haltet Euch das Böse vom Leib! Liebe Schwestern und Brüder, wir wissen es meistens ziemlich genau,
was mir und andern nicht gut tut, sondern böse ist. Ich wünsche mir dann Entschiedenheit. Die Entschiedenheit dieser Geste: „Stopp!“

Haltet euch das Böse vom Leib! Das gibt’s in jeder Schulklasse mal. Einer oder eine ist dran. Weil er nicht so tickt wie alle ticken. Weil sie vielleicht nicht gerade dem Schönheitsideal entspricht, dem alle anderen Mädchen nacheifern. Und dann wird die Yvonne, über die alle lästern, beim Sport eben nicht in die gemischte Mannschaft gewählt. Als letzte wird sie da stehen. Aber einer sagt: Stopp. Es ist Patrick, der Käpt‘n von Mannschaft zwei. Er ruft laut: „Yvonne kommt zu uns!“

Nein, du musst kein Heiliger sein und kein Held. Aber entschieden. Bestimmte Sachen mach ich nicht mit. Sag Stopp! Laut und vernehmlich. Und Du wirst nicht allein bleiben. Wir glauben: Ein für allemal hat Christus am Kreuz die Macht des Bösen besiegt. Darum halten wir es uns vom Leibe und sagen hier und da, laut oder leise, aber entschieden: „Stopp!“

3. Werft Euch dem Guten in die Arme!

Tausendmal haben wir das gespielt in Kindertagen. Wenn die Kleinen beim Sonntagsspaziergang nicht mehr laufen wollen, müde werden und anfangen zu quengeln. Dann läuft der Vater oder die Mutter ein Stück voraus, wendet sich dem Kind zu und ruft: „Wer kommt in meine Arme?“ Und das Kind rennt los, holt Schwung, und wirft sich der Mutter in die Arme! Da ist keine Furcht, die Eltern könnten im letzten Moment zur Seite springen und das Kind ins Leere laufen oder gar fallen lassen. Nein, das Kind wird genommen, der Schwung des Anlaufs genutzt und das Kind herumgeschleudert. Wehe, wenn da jemand im Weg steht!

Nun sind wir keine Kinder mehr. Aber immer noch ruft eine Stimme: „Wer kommt in meine Arme?!“ Wir kennen das Risiko. Aber wir vertrauen: Wenn wir uns dem Guten in die Arme werfen, dann werfen wir uns Gott in die Arme. Denn das brauchst Du auch als Erwachsener, wenn Du das Gute riskierst. Mindestens zwei Arme, die dich auffangen. Da sind sie, Gottes Arme: die stärkenden Vaterarme, die heilenden Hände des Gekreuzigten und Auferstandenen, die mütterlich bergende Kraft ihres Geistes.

Im Gefängnis in Tegel erinnert sich Bonhoeffer an seine Begegnung mit dem jungen Pazifisten, der ein Heiliger werden wollte. Und er schreibt dann:

"Später erfuhr ich, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Und das nenne ich Diesseitigkeit: Nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, etwas aus sich zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann, einen Gerechten oder einen Ungerechten, dann wirft man sich Gott ganz in die Arme. Das ist Glaube, das ist Umkehr und so wird man ein Mensch, ein Christ.“

Amen

Gehalten anlässlich de 35. Deutschen Evangelischen Kirchentags, zum Feierabendmahlgottesdienst am Freitagabend, 5. Juni, in der Stuttgarter Schlosskirche


Kirchenpräsident Dr. Martin Heimbucher, Evangelisch-reformierte Kirche