Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1528–1572)
Jeanne d´Albret (1528–1572) war die bedeutendste Frau in der Geschichte der Hugenotten im 16. Jahrhundert. Besonders in ihrem Witwenstand, in den letzten zehn Jahren ihres Lebens, baute sie eine reformierte Kirche in Béarn auf und war das politische Oberhaupt der Hugenotten im dritten Religionskrieg (1568–1570). Nach 1570 versuchte sie, die Reformierten zu schützen und ihnen einen gesicherten Platz in der Gesellschaft zu verschaffen. Sie handelte für die Hugenotten den Friedensschluss von St. Germain 1570 aus, und durch die Heirat ihres Sohnes Heinrich (später Heinrich IV. von Frankreich) mit Margarete von Valois, Schwester des Königs Karl IX. von Frankreich, strebte sie eine enge Verbindung von Hugenotten und Katholiken an.
Keine andere Frau hatte eine solche Machtposition unter den Hugenotten in Frankreich inne. Sie war respektiert und gefürchtet in Rom und Madrid, alliiert mit Elizabeth von England und befreundet mit Katharina von Medici – keine unkomplizierte Freundschaft zwischen zwei starke Frauen.
Sie sorgte dafür, dass ihre Kinder – Heinrich und Katharina – im reformierten Glauben erzogen wurden. Jahrelang kämpfte Heinrich als Anführer der Hugenotten und von einer Machtbasis in Südfrankreich aus um die französische Krone, bis er 1589 König von Frankreich wurde und schließlich 1593 zum katholischen Glauben übertrat, um das Land zu befrieden.
Jeanne d´Albret war nicht nur Mutter ihres berühmten Sohnes, sie war auch selbst eine machtvolle Frau in Frankreich, da ihre Position als Anführerin der Hugenotten ihr einen Einfluss weit über die Grenzen ihres kleinen Königreiches zusicherte.
Jugend und Ehe (1528-1555)
Jeanne d´Albret wurde am 7. November 1528 auf dem Schloss Blois von Margarete und Heinrich II. von Navarra geboren. Ihre Mutter wusste angeblich, dass sie eine Tochter gebären würde, ihr sehnlichster Wunsch war freilich nach einem Sohn. Jeanne blieb das einzige Kind aus dieser Ehe, Margarete von Navarra gebar zwar kurz danach einen Sohn, der als Kleinkind starb, und alle übrigen Hoffnungen auf Schwangerschaften zerschlugen sich.
Die kleine Prinzessin konnte von ihrem Vater das Königreich Navarra erben, weil dort das salische Gesetz, das in Frankreich weibliche Thronerben verbot, nicht gültig war. Außerdem war das vicomté Béarn selbständig. Deswegen waren die zwei Großmächte Spanien und Frankreich zutiefst an diesen Grenzregionen interessiert. Frankreich wollte seine Südgrenze verteidigen, und Spanien beide Seiten der Pyrenäen besitzen, um in Frankreich einfallen zu können. Zudem war die väterliche Familie von Albret Großgrundbesitzer in Südwestfrankreich und damit Vasall des französischen Königs. Das frühere Aquitanien hatte mehrere hundert Jahre der englischen Krone gehört und war spät von England aufgegeben worden. Im 16. Jahrhundert wurde das Gebiet meistens als Guyenne bezeichnet.
In ihren jungen Jahren wuchs Jeanne in der Normandie auf. Ihre Mutter, Margarete von Navarra, hatte die Aufgabe, die königlichen Kinder ihres Bruders, Franz I., zu erziehen. Sie gab Jeanne in die Obhut ihrer Freundin Aymée de Lafayette, Vogtin von Caen. Man behauptet, sie sei die Vorlage für die Figur Longarine in Heptameron (vgl. Nielsen). Nach meiner Auffassung sind die Erzähler/innen im Heptameron, die sogenannten devisants, eher Typen als historische Persönlichkeiten, die Figur der Longarine ist allerdings eine sehr sympathische Frau mit Humor und Pfiff. Wenn Aymée de Lafayette die Vorlage zu Longarine abgegeben haben soll, deutet alles darauf hin, dass Margarete sie sehr schätzte und meinte, ihre Tochter sei bei ihr gut aufgehoben.
Jeanne wuchs in einem landadligen Milieu auf, umgeben von Wald, Wiesen und Tieren, mit den Mitgliedern der Familie von Aymée de Lafayette als Bezugspersonen, bis sie zehn Jahre alt war. Ihre Mutter sah sie selten, aber jedes Mal, wenn sie krank war, war Margarete sofort zur Stelle. 1538 ließ Franz I. sie nach Plessis-lez-Tours bei der Loire übersiedeln, da sie jetzt ein Alter erreicht hatte, wo sie auf dem Heiratsmarkt von Interesse war. Der König konnte über seine Verwandte entscheiden und Ehen arrangieren, wie es ihm passte.
1540 war es für Jeanne so weit. Herzog Wilhelm der Reiche von Kleve-Jülich-Berg hatte 1538 das Herzogtum Geldern geerbt. Sein Erbanspruch wurde von Kaiser Karl V. angefochten und auf dem Reichstag zu Regensburg wurde dem Kaiser Geldern zugeteilt. 1539 folgte Wilhelm seinem Vater auf dem Thron nach, und um sich vor den Ansprüchen des Kaisers zu schützen, arrangierte er eine Ehe mit Heinrich VIII. von England für seine Schwester Anna, und selbst verbündete er sich mit Franz I. Als Unterpfand für dieses Bündnis sollte er Jeanne d´Albret heiraten.
Was jetzt passierte, ist absolut ungewöhnlich: Jeanne weigerte sich. Die Zwölfjährige ließ ihrem Onkel wissen, dass sie den Herzog nicht heiraten möchte, und sie ließ zwei Schreiben aufsetzen, in welchen sie erklärte, dass sie gegen ihren Willen zu dieser Ehe gezwungen worden sei. Natürlich konnte sie sich nicht auf Dauer gegen den Willen des Königs auflehnen, aber bei der Hochzeitszeremonie am 14. Juni 1541 weigerte sie sich, zum Altar zu schreiten, stattdessen musste sie getragen werden. Ihr Jawort war nicht hörbar und wegen ihres Alters wurde die Ehe nicht vollzogen, der Herzog setzte nur symbolisch ein Bein in ihr Bett. Nach der Hochzeit kehrte er zurück nach Düsseldorf, während Jeanne vorläufig in Frankreich blieb.
1543 griff Kaiser Karl Kleve-Jülich-Berg an, der Herzog wurde geschlagen und musste Geldern Karl V. überlassen. Am Frieden von Venlo im September 1543 hob er das Bündnis mit Franz I. auf und verbündete sich stattdessen mit dem Kaiser. Damit war auch die französische Ehe hinfällig geworden, 1545 wurde sie vom Papst wegen Nichtvollzug annulliert, und der Herzog vermählte sich mit einer Nichte des Kaisers.
Nach kanonischem Recht durfte bei einer Eheschließung keine Zwang im Spiel sei. Die Eheleute mussten ihr Gelübde frei abgeben. Damals konnten junge Frauen aus adligen oder königlichen Familien sich ihre Ehepartner nicht selbst aussuchen, sondern wurden als politische Garanten vermählt, und die meisten fanden sich damit ab, weil das ihr Standesbild entsprach. Jeannes Ablehnung, so wie ihre Kenntnis des kanonischen Rechts, ist erklärungsbedürftig.
Eine mögliche Erklärung ist, dass ihre Eltern für sie eine Ehe mit dem Kronprinzen Philipp von Spanien anstrebten. Königin von Spanien war natürlich prestigeträchtiger als Herzogin von Kleve zu sein, aber vor allem erhoffte sich ihr Vater damit den spanischen Teil von Navarra zurückzugewinnen. 1512 hatten die Spanier Navarra, das Baskenland, bis zu den Pyrenäen erobert und den Albrets nur das winzige Gebiet auf der französischen Seite gelassen. Seitdem überlegten sich die Könige von Navarra, wie sie zu ihrem ganzen Erbe kommen konnten, und eine Ehe zwischen dem Infanten von Spanien und der zukünftigen Königin von Navarra würde genau dies herbeiführen.
Jeanne war möglicherweise auch beeinflusst von einer Erklärung der Ständeversammlung von Béarn, die eine auswärtige Ehe für ihre Kronprinzessin ablehnte.
Sah Jeanne d´Albret ihre Zukunft gefährdet durch eine Ehe mit dem Herzog von Kleve? Oder tat sie, was ihre Eltern wünschten, statt des Königs Willen zu erfüllen? Stammten ihre Kenntnisse des kanonischen Rechts von denen? Margareta von Navarra schrieb ihrem Bruder, sie habe keine Ahnung, was in das Mädchen gefahren sei, aber stimmt das? Hat sie Jeanne mit ihrer Ablehnung der Ehe geholfen aus Liebe (Cholakian & Cholakian), oder aus Ehrgeiz? Es besteht kein Zweifel, dass königliche Kinder damals frühreif waren und in jungen Jahren schon an ihre späteren Aufgaben geführt wurden, trotzdem ist die Zähigkeit und Sturheit des Mädchens erstaunlich.
1547 starb Franz I. und als Jeanne zwanzig Jahre alt war, bot der Nachfolger, Heinrich II. von Frankreich, ihr gleich zwei Heiratskandidaten an: den Herzog Franz von Aumale (der spätere erzkatholische Herzog Franz von Guise) und Anton von Bourbon, Herzog von Vendôme. Der letztere war Erbprinz und vielleicht deshalb für Jeanne die bessere Partie, obwohl er relativ arm war. Er war hochgewachsen – was für einen Bourbon eher selten war – und charmant, wie alle Männer in seiner Familie scheint er ein unverbesserlicher Schürzenjäger gewesen zu sein. Heinrich IV. von Frankreich, der vert galant, hatte seine ausgelebte Sexualität nicht von Fremden, ebenso wenig wie sein militärisches Können und seinen Mut.
Jeanne und Anton von Bourbon heirateten 1548 und sie war überglücklich. Heinrich II. schrieb in einem Brief, dass er selten eine Braut erlebt habe, die immer nur lachte. Diese Ehe war aus Liebe geschlossen, und Anton von Bourbon nahm seine Frau mit, als er in den Krieg zog. Der Kriegsschauplatz war Flandern, und da der Herzog Güter in Nordfrankreich besaß, zog Jeanne in den ersten Jahren ihrer Ehe von Schloss zu Schloss, immer in der Hoffnung, dass sie und Anton von Bourbon sich treffen könnten.
1551 gebar sie ihren ersten Sohn und gab ihn an Aymée de Lafayette, die sie selbst erzogen hatte. Ob nun Frau de Lafayette alt oder übervorsichtig geworden war, der kleine Herzog von Beaumont starb als Kleinkind, angeblich weil er von Wärme erstickt worden sei.
Bald wurde Jeanne wieder schwanger, und während ihr ältester Sohn in Nordfrankreich geboren war, sollte das zweite Kind in Béarn zu Welt kommen. Sie unternahm die lange Reise nach Süden und kam gerade rechtzeitig in Pau an, 14 Tage bevor sie von ihrem zweiten Sohn, Heinrich, auf dem Schloss in Pau entbunden wurde. Es wurde entschieden, dass dieser Junge in Pau bleiben sollte. Der Großvater, Heinrich d´Albret, wollte wahrscheinlich mit diesem kleinen Prinzen die Erbfolge in Béarn und Navarra sichern. Die Legenden von der rauen Erziehung Heinrichs seitens des Großvaters können jedoch nicht wahr sein, allein weil das Kind die ersten Jahre von Ammen betreut wurde, und der Großvater starb, als es zwei Jahre alt war. Es scheint in Béarn Sitte gewesen zu sein, die Lippen des Täuflings mit Rotwein und Knoblauch einzureiben, eine Taufe à la Gascogne, aber die Mär, dass Heinrich barfuß unter den Hirten in den Bergen aufgewachsen sein soll, ist reine Legende. Der spätere Hauslehrer Heinrichs, Palma Cayet, schrieb, als Heinrich schon König von Frankreich war, seine Biographie, und daher stammt der Bericht vom Opa und von seiner rauen Erziehung. Dieser Kindheitsbericht ist eher Propaganda des Königs, wie er gerne gesehen werden möchte.
Tatsächlich kam Heinrich in die Obhut der Familie de Miossens, die auf dem Schloss Coarraze wohnte. Die Frau, Suzanne de Bourbon-Miossens, war eine Cousine von Jeanne. Heinrich wurde demnach genau wie seine Mutter als Landadliger erzogen, und er wuchs in einer Familie mit anderen Söhnen auf, die als Erwachsene seine Gefolgsleute werden sollten. Als seine Mutter den Thron erbte, wurde er schon als Kleinkind als Kronprinz behandelt.
Die zwei Jahre zwischen Heinrichs Geburt 1553 und ihre Thronbesteigung 1555 verbrachte Jeanne wiederum in Nordfrankreich in der Nähe ihres Gatten. In dieser Zeit gebar sie einen dritten Jungen, der jedoch nicht lange lebte. Es muss hinzugefügt werden, dass Anton von Bourbon 1554 einen außerehelichen Sohn, Karl von Bourbon, mit einer Hofdame bekam. Jeanne hatte bereits mehrere Onkel, die illegitim waren, und sie scheint den kleinen Karl in ihrer Familie aufgenommen zu haben. Er wurde später Erzbischof von Rouen.
Erst als der Vater gestorben war, zog sie als Königin nach Pau und obwohl sie die Erbin war, ließ sich ihr Mann als König huldigen, was die Ständeversammlung eigentlich gar nicht wollte, dennoch ordneten sie sich dem Willen Jeannes unter.
Königin an der Seite von Anton von Bourbon (1555–1560)
Ihr Vater hatte Jeanne ein blühendes Land hinterlassen. Er hatte Industrien nach Béarn geholt, das Steuersystem effektiv gestaltet und für den religiösen Frieden gesorgt. Große Einkünfte entstanden auch durch seine Posten als Gouverneur und Admiral der französischen Krone in Guyenne. Anton von Bourbon bekam diese Posten nach seinem verstorbenen Schwiegervater, und später hat sein Sohn, Heinrich von Navarra, sie übernommen. Jeanne und Antoine standen als die größten Grundbesitzer Südwestfrankreichs finanziell sehr gut da.
1555 find Calvin seine missionarische Tätigkeit in Frankreich an. Reformierte gab es in Südwestfrankreich zu diesem Zeitpunkt längst, weil Margareta von Navarra sie mit Predigern unterstützt hatte und Gérard Roussel, einen Reformkatholiken, als Bischof in Orthez, eingesetzt hatte. Dieser Roussel war einmal Weggefährte Calvins gewesen, und dieser warf ihm vor, nicht konsequent genug zu sein, als er die Stelle als katholischer Bischof trotz seiner reformatorischen Sympathien annahm (CStA I,1).
Als Königin hatte Jeanne bei ihrer Krönung versprechen müssen, die katholische Religion zu verteidigen. Am selben Tag, nachdem sie diesen feierlichen Eid abgelegt hatte, schrieb sie an einen Vasallen, dem vicomte von Gourdon, und erzählte ihm, sie wolle über die Förderung des reformierten Glaubens im kleinem Kreis heimlich beraten. Dieser Brief ist Teil eines Briefwechsels mit zwei vicomtes de Gourdon, Vater und Sohn, die die gesamte Regierungszeit Jeannes überdauerte. Die Briefsammlung wurde im vorigen Jahrhundert entdeckt und gibt viele neue Einsichten in die Vorhaben und die Beweggründe Jeannes. Da die entdeckten Briefe uns nur als teilweise fehlerhafte Kopien vorliegen, haben viele Forscher die Briefe als Fälschungen abgetan (Text und Diskussion bei Bryson).
Der erste Brief vom August 1555 teilt uns mit, dass Jeanne schon zu diesem Zeitpunkt reformierte Sympathien deutlich aussprach. Sie schrieb dem vicomte, dass ihre Mutter sich zwischen den zwei Religionen nicht habe entscheiden können, und dass sie selbst aus Furcht vor ihrem Vater bislang nicht gewagt habe, sich offen zum Protestantismus zu bekennen. Das Edikt von Chateaubriant von 1551 verbot eindeutig jede „Ketzerei“ und deshalb schlug sie vor, die Reformierten sollten sich heimlich auf dem Schloss Odos treffen.
Es gibt sonst keine Quellen, die belegen könnten, dass Jeanne mit dem reformierten Glauben in Berührung kam. Es gab in ganz Frankreich zu der Zeit kleine zerstreute Gemeinden, sowie Prediger und Kolporteure, die reformatorische Bücher schmuggelten. Die wiederholten Verbote des Königs konnten das nicht unterbinden, sie führten nur dazu, dass Protestanten, wie Jeanne, sich heimlich treffen mussten.
In den Jahren nach 1555 verbreitete sich der reformierte Glaube mehr und mehr im Hochadel. Auch Anton von Bourbon wurde davon ergriffen, brachte reformierte Prediger nach Béarn und als er und Jeanne 1558 mit Heinrich nach Paris zogen, nahm er an großen psalmensingenden Demonstrationen außerhalb der Stadtmauern von Paris teil. Calvin war darüber hoch erfreut, denn er setzte in seiner Missionsarbeit gerne auf hochrangige Persönlichkeiten. Jeanne dagegen verhielt sich während dieser Zeit bedeckt.
In Paris kam sie mit ihrem vierten Kind, einer Tochter namens Katharina, nieder. Das kleine Mädchen war das einzige Kind, das bei Jeanne aufwachsen durfte, obwohl sie (natürlich) Erzieherinnen und Gouvernanten hatte.
Anton von Bourbon fiel nicht nur mit protestantischen Sympathien auf, sondern wie sein Schwiegervater versuchte er, den spanischen Teil von Navarra zurückzugewinnen. Heinrich d´Albret hatte seinen Besitz gut und gewinnbringend regiert, während Anton von Bourbon seiner Frau die Regierungsgeschäfte überließ, und selbst nur versuchte, ein größeres Königsreich für sich zu gewinnen. So konnte der spanische König Philipp ihm einen Tausch, erst mit dem Herzogtum Milano und später mit Sardinien, anbieten. Damit hätte Spanien den Sprung über die Pyrenäen geschafft und Südfrankreich bedrohen können. Wir würden solches Taktieren mit dem Feind Hochverrat nennen, damals räumte man freilich Adligen große Freiheiten ein, sich einen Herren auszusuchen, aber Anton von Bourbon wurde auch von den Zeitgenossen als unzuverlässig und unverantwortlich angesehen, und nicht zuletzt war er so politisch ungeschickt, dass es an Dummheit grenzte (Sutherland 1984).
Im Sommer 1559 starb Heinrich II. von Frankreich unerwartet. Sein Sohn Franz II. folgte ihm als nur fünfzehnjähriger Knabe auf dem Thron. In dieser Situation war die traditionelle Lösung, dass der erste erwachsene Erbprinz, Anton von Bourbon, ihn unterstützen sollte, und Calvin ermahnte ihn eindringlich, dieses Amt zu übernehmen und dabei den Hugenotten zu helfen. Anton von Bourbon verspielte diese Chance und überließ die Regierungsgeschäfte der Familie von Guise, besonders dem Herzog von Guise und dem Kardinal von Lorraine, die beide die antiketzerische Politik des verstorbenen Königs weiterführen wollten. Nach dem Tod Heinrichs II. bekannten sich mehrere hochrangige Adlige offen zum Protestantismus und es gab im März 1560 sogar einen hugenottischen Komplott, den König zu entführen und von seinen „schlechten Ratgebern“ zu trennen. Anton von Bourbon und sein jüngerer Bruder, der Prinz von Condé, beide notorische Reformierte, wurden wegen diesem Angriff auf den König angeklagt. Anton von Bourbon versprach Besserung, während sein Bruder, der Prinz Ludwig von Condé zum Tode verurteilt wurde. Nur der plötzliche Tod des jungen Königs rettete ihn vor der Hinrichtung. Da der neue König, Karl IX., ein zehnjähriges Kind war, brauchte Frankreich einen Regenten, nämlich den ranghöchsten Erbprinz Anton von Bourbon. Wiederum ergriff dieser nicht die Chance. Katharina von Medici ließ sich stattdessen als Regentin einsetzen und Anton von Bourbon wurde zum Generalstatthalter ernannt. Die Hugenotten mit Calvin an der Spitze waren zutiefst enttäuscht. In diesen Jahren hatte der reformierte Glaube großen Zulauf, es wurde von mehreren Tausend Gottesdienstbesuchern überall in Frankreich berichtet, von Abendmahlgottesdiensten, die zwei Tage dauerten und von Bekehrungen am Hof und im Hochadel.
1560 verließ Jeanne Paris, um zurück nach Pau zu fahren. Theodorus Beza, der engste Mitarbeiter Calvins, besuchte sie dort, und es entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit, die bis Jeannes Tod dauerte. Beza versorgte sie mit Predigern und Beratern für ihr Land. Im Dezember 1560 unternahm Jeanne den entscheidenden Schritt und bekehrte sich öffentlich zum reformierten Glauben. Während ihr Gatte nicht in der Lage war, sich an die Spitze der Hugenotten zu setzen, wurde sie jetzt die leitende Hugenottin in Frankreich.
Reformierte Königin (1560–1568)
Jeanne d´Albret war zweifelsohne eine tief religiöse Frau. Lange Zeit hatte sie äußerste Diskretion walten lassen, zwar mit ihrem Gatten reformierte Prediger gehört, aber sich niemals offen zum reformierten Glauben bekannt. Erst nachdem Anton von Bourbon sich mit dem Posten als lieutenant générale abgefunden hatte, kam sie aus der Deckung.
Es war eine Zeit, wo alle große Hoffnungen bzw. Ängste für den Protestantismus in Frankreich hegten. Drei wichtige Katholiken – der Herzog von Guise, der Konstabel von Montmorency und der Marschall St. André – schlossen sich zusammen, um Frankreich gegen die Reformierten zu schützen. Sie planten den Sturz von Anton von Bourbon und einen Angriff auf Genf mit der Hilfe des Herzogs von Savoyen, zu dessen Besitz Genf bis 1534 gehört hatte. Dieses Triumvirat war der erste Vorbote der katholischen Liga, die später Heinrich IV. hartnäckig bekämpfte (Sutherland 1973).
1560 war noch zu erwarten, dass der Protestantismus nach Frankreich gekommen war, um zu bleiben. Jeanne war sich sehr bewusst, welche Gefahren ihr von Spanien, vom Papst und von der mächtigen Familie von Guise drohten. Sie hatte noch die Hoffnung, dass der junge König Karl IX., Katharina von Medici und ihr Kanzler, der tolerante Michel de l´Hôpital, die Reformierten unterstützen würden, zumal die Königinmutter sich selbst von denen von Guise bedrängt fühlte.
Diese letzte Hoffnung erwies sich als trügerisch, aber niemals wich Jeanne später vom einmal eingeschlagenen Kurs ab. Sie konnte weder geldwerte Vorteile noch politisches Kapital aus ihren Glauben schlagen, dafür hielt sie konsequent an ihrer Überzeugung fest.
In Béarn machte sie erste vorsichtige Schritte, um das Land zu reformieren. Es gab schon Reformierte dort, und Prediger hatten angefangen, den neuen Glauben zu verbreiten, Jeanne aber träumte von einem reformierten Land, und fing langsam und vorsichtig an, diesen Traum zu verwirklichen.
Der erste Schritt war, den reformierten Glauben dem Katholizismus rechtlich gleich zu stellen. Die Kirchen wurden für beide Religionen geöffnet (das sogenannte simultaneum) und aus den Kirchen in Lescar und Pau wurden Bilder und Statuen entfernt, allerdings nicht in Form eines Bildersturms, sondern von den Behörden. Jeanne beschlagnahmte das kirchliche Vermögen nicht für sich selbst, sondern investierte es in Sozialfürsorge und Bildung.
Es ist klar, dass sie den reformierten Glauben einführen wollte, aber zu keinem Zeitpunkt vefolgte sie Andersgläubige, geschweige denn verbrannte sie. Immer setzte sie auf Überredung.
Im August 1561 begab sie sich wieder zum Hof. Überall wurde sie stürmisch von Hugenotten begrüßt, als ob sie „der Messias sei“, bemerkte verärgert der spanische Gesandte. Katharina von Medici hatte zu einem Religionsgespräch eingeladen. Dieses Gespräch fand in Poissy außerhalb Paris statt. Seitens der Krone war gewiss an eine Versöhnung oder gar einen Ausgleich zwischen den Religionen gedacht, die reformierten Teilnehmer mit Beza an der Spitze mochten jedoch keine Kompromisse eingehen. Beza wurde unterstützt von Calvin in Genf, der selbst zu krank war, um mitzukommen. Calvin war mit den Auftritten und Reden Bezas zufrieden, während z.B. der Admiral Coligny Beza als reichlich provokant wahrnahm.
Im Herbst 1562 blieb Jeanne mit ihren Kindern beim Hofe. Katharina von Medici suchte auch nach den Religionsgesprächen eine Übereinkunft mit den Protestanten, was in dem Edikt vom 17. Januar 1562 – auch Edikt von St. Germain genannt – gipfelte. Dieses Edikt, an dem der Kanzler Michel de l´Hôpital und Beza beteiligt waren, erlaubte es den Hugenotten, außerhalb der Städte Gottesdienste zu halten. Es war das günstigste Edikt, das sie jemals erlangen sollten, das Edikt von Nantes 1598 war ihm sehr ähnlich, aber nicht ganz so großzügig. Der Unterschied war, dass Heinrich IV. dafür sorgte, dass das Edikt von Nantes durchgeführt wurde, während alle frühere Edikte, so wohlgemeint sie auf dem Papier auch waren, von katholischen Behörden unterlaufen wurden, und der König zu schwach war, um für ihre Durchführung zu sorgen.
Im März 1562 massakrierte der Herzog von Guise eine reformierte Gemeinde, die innerhalb des Städtchens Wassy Gottesdienst feierte. Damit war die Versöhnungspolitik Katharinas von Medici gescheitert. Die Hugenotten unter dem Prinzen von Condé griffen zu den Waffen und Anton von Bourbon bat Jeanne den Hof zu verlassen. Er behielt seinen Sohn Heinrich bei sich, entließ aber dessen hugenottischen Hauslehrer. Jeanne beschwor ihren Sohn, nicht zur Messe zu gehen, und der junge Prinz hielt sich wohl auch ein paar Wochen daran, musste sich aber schließlich fügen. Nach ihrem Fortgang vom Hofe trat Jeanne eine monatelange abenteuerliche Reise durch Frankreich an, so gefährlich, dass die ersten Briefen von der Hand Heinrichs seine Ängste um seine Mutter bezeugen. Ihre kleine Tochter Katharina durfte sie behalten.
Im ersten Religionskrieg führte Anton von Bourbon die königlichen katholischen Truppen gegen die Hugenotten. Bei der Belagerung von Rouen wurde er verwundet und starb am 17. November. Der junge Heinrich blieb am Hofe in der Obhut Katharinas von Medici, die allerdings Jeanne gestattete, ihm wieder reformierte Hauslehrer zu geben. Sie sollte ihn erst 1564 wiedersehen.
Die Kirche in Béarn und Navarra
Ihre große Aufgabe sah Jeanne darin, die Reformation in Béarn durchzuführen.
Calvin stellte ihr Jean Raymond Merlin zur Seite, den früheren Professor für Hebräisch in Lausanne, wo er Kollege von Beza, dem Professor für Griechisch, und von Pierre Viret, dem Rektor der Akademie, gewesen war. Pierre Viret arbeitete nach seiner Zeit in Lausanne und Genf vor allem in Frankreich, besonders in den Kirchen von Lyons und Nîmes. Später sollte er für Jeanne d´Albret ihre Akademie in Orthez aufbauen. Merlin war übrigens mit einer Tochter von Marie Dentière verheiratet, derjenigen, die vor Jahren Jeanne eine selbstgeschriebene hebräische Grammatik zugesandt hatte (vgl. Graesslé13f.; Nielsen).
Merlin ging voll Eifer an die Aufgabe, eine reformierte Kirche in Béarn aufzubauen. Es gab viele Reformierte in Südfrankreich, aber meistens unter städtischen Eliten und Handwerkern. Die Reformierten waren meistens des Lesens fähig, vor allem des Lesen französischer Texte. In Südwestfrankreich sprach die Bevölkerung die langue d´oc, die alte oczitanische Sprache, in irgendeiner Form. Die Gascogne hatte ihre Sprache, in der ein Neues Testament und fünfzig Psalmen übersetzt wurden, und Béarn hatte béarnais sogar als Amtssprache. Hinzu kam, dass die Bevölkerung in Navarra Baskisch sprach. Wenn Merlin das ganze Land reformieren sollte, musste er diese Sprachbarrieren überwinden, denn die Landbevölkerung musste erreicht und für die Reformation gewonnen werden.
Jeanne d´Albret beauftragte eine Übersetzung des Neuen Testaments ins Baskische, und eine Übertragung der Psalmen, der Zehn Gebote, der Liturgie und des Katechismus Calvins in die Sprache Béarns. Der Anwalt, später Pastor, Arnaud de la Salette, stellte 1571 diese Übersetzung fertig, und obwohl sie erst 1583 gedruckt wurde, darf man annehmen, dass in der Zwischenzeit Manuskriptkopien verwendet wurden. Pastoren, die die béarnesische oder die baskische Sprache beherrschten, wurde händeringend gesucht, und von den Anderen wurde ausdrücklich verlangt, dass sie es lernen sollten. Katecheten, die vermutlich Landeskinder waren, wurden in die Gemeinden geschickt.
Allmählich verbot Jeanne katholische Riten und Gebräuche, zuerst die Fronleichnamsprozessionen, danach Maibäume und Jahrmärkte. Dann wurde die Messe abgeschafft. Der Dom von Lescar und die Kirche St. Martin in Pau wurden leergeräumt, und die dort befindlichen Schätze verkauft.
Für Merlin konnte dies nicht schnell genug gehen. In seinen Briefen an Calvin klagte er seine Not: die Bevölkerung sei stur – diese Holzköpfe! - und die Königin zu langsam und vorsichtig (CO 20, Nr. 3988 & Nr. 4061). Merlin hatte übrigens auch früher in Montargis Probleme mit Renée de France gehabt, Herzogin von Ferrara, die in ihrem Gebiet so vorsichtig war wie Jeanne in Béarn (vgl. Lambin, 2). Jeanne bekam Klagen auf der jährlichen Ständeversammlung, wo die Katholiken über den Verlust alter Freiheiten und Rechte klagten. In den sechziger Jahren musste sie mehrmals Aufstände niederschlagen.
Der Nachfolger für Merlin war Pierre Viret, der enge Freund Calvins. Er war Pastor und Rektor für die Akademie in Lausanne – mit Beza und Merlin als Kollegen – gewesen. Wegen eines Streits mit dem Stadtrat in Bern, übersiedelten 1559 alle Professoren nach Genf, um dort in der neu errichteten Akademie zu unterrichten. Von Genf begab Viret sich nach Frankreich, wo er in Lyon als Pastor arbeitete, danach leitete er die Nationalsynode in Nîmes und schließlich folgte er dem Ruf nach Béarn. Seine wesentlichste Aufgabe war es, die Akademie in Orthez aufzubauen. Die Fächer Theologie, Hebräisch, Griechisch, Philosophie und Mathematik wurden dort unterrichtet, während es keine Anzeigen für Professuren in Jura und Medizin gibt.
Vor ihrer akademischen Laufbahn absolvierten die Jungen eine fünfjährigen Ausbildung in einer Lateinschule (collège), während die Grundschule sowohl Jungen wie Mädchen unterrichtete, die Mädchen allerdings getrennt mit weiblichen Lehrkräften. Damit wurde das kleine Béarn das erste Land Europas, welches kostenlosen Unterricht für Mädchen zusicherte, und zwar mit der interessanten Begründung, dass sie so im Stande waren, ihr Brot zu verdienen und sich der Gesellschaft nützlich zu machen („Pareil rolle sera aussy faict des filles qui sont en bas aage et qui n´ont nul moyen de vivre et de s´entretenir, par toutes les églises, afin que de mesmes deniers et en écolle séparée elles soient enseignées, nourries et tenues par des femmes sages et pudiques, par leur industrie pouvoir aprés se nourrir et entretenir et servir au public“. Art. 32 der Verfassung der Akademie von 1566, zitiert nach Desplat 2004). Desplat unterstreicht die säkulare Ausrichtung der Ausbildung. Allgemein wird behauptet, der Zweck des Unterrichts in protestantischen Ländern sei, die Bevölkerung des Lesens der Bibel und des Katechismus zu befähigen. Hier werden nur die Vorteile eines Schulunterrichts für die Gesellschaft betont.
Die Akademie wurde 1566 geöffnet. Die ersten protestantischen Akademiegründungen in Frankreich fanden in Nîmes (1562) und Montpellier statt. Vorrangiges Ziel war es, die Kirchen mit Pastoren zu versorgen, da die Akademie in Genf die steigende Nachfrage der Gemeinden kaum nachkommen konnte. Da Papst Pius V. die katholischen Universitäten angewiesen hatte, Protestanten die Abschlüsse zu verweigern (Maag 2002, 140), brauchten junge Hugenotten ihre eigenen Universitäten, die dann auch gegründet wurden, vor allem in Leiden und Heidelberg, aber auch in Frankreich und benachbarten Gebieten wie Béarn, Orange und Sedan, die alle zu diesem Zeitpunkt unabhängig waren.
Jeanne hatte sehr gute Gründe, langsam und überlegt vorzugehen. Der Kardinal von Armagnac ließ sie wissen, dass sie die Bevölkerung Béarns in Ruhe lassen sollte, ihre Untertanen wollten ihren Katholizismus nicht aufgeben. Jeanne antwortete, dass sie in Béarn nur Gott über sich habe, dort könne sie ihrem Gewissen folgen, und in ihrem Land werde niemand wegen seines Glaubens verfolgt. Das letzte war ihr ein Anliegen, denn 1571 schrieb sie an ihren Statthalter, den Baron d´Arros, dass in ihrem Land niemand zum Glauben je gezwungen worden war und es auch nicht werden sollte („...intention n´a point esté et n´est encores qu´ilz soyent contraints par force et violence de se reanger à ladite Religion“, d´Aas 2002, 452).
Als sie sich bei der Einführung der Reformation in ihren Ländern unnachgiebig zeigte, zitierte der Papst sie nach Rom zwecks eines Ketzerprozesses. Da sie dieser Einladung nicht folgte, exkommunizierte er sie. Der Bann war eine ernste Bedrohung, da jeder katholische Herrscher jetzt das Recht hatte, ihre Länder an sich zu reißen und sie abzusetzen, eine Chance, die Philipp II. von Spanien sich nicht entgehen lassen würde. Katharina von Medici verteidigte deshalb Jeanne, weil sie keine spanische Präsenz auf der französischen Seite der Pyrenäen dulden wollte. Außerdem war sie eine Verfechterin der gallikanischen Freiheit der französischen Kirche und meinte deshalb, der Papst solle sich nicht in die Angelegenheiten der Kirche einmischen.
Königin der Hugenotten
Nach dem ersten Religionskrieg (1562-63) ließ Katharina von Medici den jungen Karl IX. mündig erklären und führte ihn mit dem Hof auf eine große Frankreichreise, die mehrere Jahre dauerte. Der Zweck dieser Reise war es, den König dem Volk zu zeigen, und damit die Loyalität der Bevölkerung zu erhalten. Jeanne wurde als Vasallin einberufen und stieß Ende Mai 1564 zum Zug in Macon.
Ihr Sohn Heinrich nahm auch Teil an diese Reise und seinetwegen stritten die zwei Königinnen sich, weil Jeanne ihn bei ihren protestantischen Gottesdiensten dabei haben wollte, und Katharina wünschte, dass er mit der königlichen Familie zur Messe gehe. Schließlich sandte Karl IX. Jeanne zu ihrem Besitz in Vendôme, während Heinrich als Gouverneur von Guyenne den Zug begleitete und in den Städten für den feierlichen Empfang des Königs sorgte.
Jeanne durfte nicht mit nach Bayonne, wo Katharina ihrer Tochter Elizabeth, Königin von Spanien, begegnen wollte. Philipp II. sandte als seinen Gesandten den Herzog von Alba, der auf dem Weg in die Niederlande war. Die Hugenotten waren später überzeugt, dass Alba und die Königinmutter in Bayonne ihre Ausrottung geplant hatten. Sicher ist, dass Alba in den Niederlanden mit aller Härte gegen die Protestanten vorging, und es ist durchaus möglich, dass er versuchte, Katharina auf seinen mörderischen Kurs einzustimmen. Schon 1568 – also vor der Bartholomäusnacht! – schrieb Jeanne, dass die Waffen, die gegen die Hugenotten verwendet werden sollten, in Bayonne geschmiedet worden seien (Ample déclaration).
Jeanne und Heinrich trafen sich später in Paris. 1566 ersuchte sie erneut um Erlaubnis, mit ihren beiden Kindern nach Béarn zu fahren, was ausgeschlagen wurde. Sie erhielt aber Erlaubnis, ihren Sohn in seinen französischen Ländereien herumzuführen, und Anfang 1567 reiste sie dann mit ihm nach Vendôme, und von dort setzte sie sich unerlaubt ab nach Béarn. Damit machte sie laut des Biographen Heinrichs, Pierre Babelon, aus einem französischen Prinzen einen Ausländer, und vor allem einen Hugenotten.
Von 1567 an arbeitete Jeanne für die Zukunft ihres Sohnes. Ihre Lebensaufgabe, schrieb sie selbst, sei: Gott, Königtum und ihr Blut. Mit Gott war die reformierte Religion, die wahre Kirche Gottes, gemeint. Mit dem König ihr Status als Vasallin und – trotz Béarn – als Französin, und mit dem „Blut“, die Familie, zuallererst ihr Sohn Heinrich. Er sollte von jetzt an kein Höfling mehr sein, sondern die Aufgaben eines Regenten lernen. Als ein Aufstand in Navarra niedergeschlagen worden war, wurde er dorthin geschickt, um die Basken zu befrieden. Als 14jähriger hielt er für seine Untertanen eine Rede, in welcher er ihr Fehlverhalten geißelte, ihnen die Gunst der Königin zusicherte, falls sie sich verbessern würden, und seinen berühmten Charme mit seinem Autoritätsanspruch verband.
Im Herbst 1567 versuchten die Hugenotten, die sich von der Aufrüstung des Königs bedroht fühlten, Karl IX. in ihre Gewalt zu bringen. Die Entführung missglückte, und die königliche Familie suchte, beschützt von den schweizerischen Söldnern, die die Ängste der Hugenotten verursacht hatten, Zuflucht in Paris. Die Hugenotten belagerten die Stadt. Im November wurden sie vor den Toren von St. Denis geschlagen und mussten sich in die Provinz zurückziehen, wo sie den Kampf bis zum Friedenschluss von Longjumeau im März 1568 fortsetzen.
Der Friedensvertrag war an sich nicht ungünstig für die Hugenotten, nur haperte es wie immer mit der Umsetzung. Katholische Behörden waren über die für die Hugenotten günstigen Bedingungen empört und setzten sie nicht um. Der Protestant La Noue schrieb in seinen Erinnerungen, dass der Krieg zwar viel Unheil bringe, aber dieser elende kleine Friedensvertrag sei viel schlimmer für die Reformierten, die in ihren Häuser umgebracht wurden, ohne dass sie sich zu wehren wagten („ …une guerre est misérable et qu´elle apporte avec soy beaucoup des maux…cette méchante petite paix est beaucoup pire pour ceux de la Réligion, qu´on assassinoit en leur maisons, et ne s´osoyent encores défendre“, d´Aas 2002, 382) Im Laufe des Sommers 1568 versuchten die Gruppierungen noch einmal miteinander zu reden, Karl IX. sandte einen Botschafter nach Béarn, und Jeanne verfasste ein Sendschreiben an den König mit dem Antrag, den Frieden in Guyenne wiederherzustellen.
In der Zwischenzeit fühlten sich der Prinz von Condé und der Admiral Coligny auf ihre Schlösser in Bourgogne zunehmend bedroht. Der Herzog von Alba wollte in den Niederlanden mit Feuer und Schwert den Protestantismus auszurotten, und Flüchtlinge berichteten ihnen von seinem Terror. Am 23. August 1568 flüchteten sie mit ihren Familien und Angehörigen über die Loire nach La Rochelle. Die Überquerung der Loire erinnerte fast an den biblischen Durchzug durchs Schilfmeer: so viele Hugenotten hatten sich angeschlossen, dass der Zug fast wie eine Völkerwanderung aussah, und die Loire hatte in der Augusthitze einen so niedrigen Wasserstand, dass Sandbanken in der Mitte auftauchten. Dementsprechend sangen alle Psalm 114 vom Auszug der Israeliten aus Ägypten, als sie hinüber waren. Die Parallele wurde noch einmal deutlich, als die königlichen Truppen, die sie verfolgten, wegen plötzlich einsetzenden Hochwassers den Fluss nicht überqueren konnten.
In dieser Situation war Jeanne zutiefst gespalten. Bislang hatte sie die Kriege moralisch unterstützt, aber nicht selbst teilgenommen. Falls es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen sollte, konnte sie immer mit ihren Kindern in der uneinnehmbaren Festung Navarrenx Zuflucht suchen. Sie hatte jedoch ihren Sohn, der als zukünftiger Führer der Hugenotten das Kriegshandwerk lernen sollte, und so musste sie wählen, ob sie in Béarn unter ihrem Volk bleiben oder sich den Hugenotten anschließen sollte: „ich hatte den Krieg im Bauch“ schrieb sie danach („J´eu la guerre en mes entrailles“, Ample declaration). Sie setzte den Baron d´Arros als Statthalter ein, und Anfang September begab sie sich in Eilmarsch nach La Rochelle (Cocula 2004). Dort konnte sie ihren Sohn dem Prinzen von Condé überantworten. Sie schrieb unterwegs eine Reihe Briefe an Karl IX., an Katharina von Medici, an ihren Schwager, den Kardinal von Bourbon und an die Königin Elizabeth von England, um ihren Entschluss zu begründen. Angekommen in La Rochelle schrieb sie eine Erklärung („Ample declaration“) um der Öffentlichkeit zu erklären, warum sie sich der hugenottischen Armee zugesellte.
Die Hugenotten unter ihren Anführer aus der königlichen Familie wollten nicht als Aufrührer dastehen. Sie behaupteten, die erzkatholische Partei sei schuld daran, dass königliche Befehle nicht vollzogen wurden. Die Katholiken mit ihren Verbindungen nach Spanien und Rom seien Landesverräter. Die Politik des Kardinals von Lorraine verdient laut Sutherland (1974) keinen anderer Namen. Wenn Jeanne vom Frieden sprach, meinte sie eine Duldung der Hugenotten in Frankreich. Die Forderungen der Hugenotten waren immer dieselbe: Erlaubnis, Gottesdienste zu feiern, Gerichte mit zur Hälfte hugenottischen Richtern, sichere Zufluchtsstädte – deren Anzahl schwankte in den Verhandlungen – und Zugang zu Ausbildung und Beamtenstellen gleichrangig mit den Katholiken. Die Provinz Languedoc unter dem moderat katholischen Gouverneur Montmorency-Damville war ein friedlicher Ort in den Religionskriegen, weil Damville den Hugenotten solche Rechte einräumte, und die katholische Bevölkerung sich damit abfand.
Im März 1569 fand eine Schlacht bei Jarnac statt. Der Prinz von Condé kämpfte mit, wurde verwundet und nach der Schlacht ermordet. Es gelang Admiral Coligny, die hugenottischen Truppen zusammenzuhalten, aber der Verlust des Prinzen war ein herber Schlag. Heinrich von Navarra war jetzt der ranghöchste Prinz, und zusammen mit seinem Vetter, dem gleichaltrigen Heinrich von Condé, wurde er jetzt Oberbefehlshaber über die Armee der Prinzen. In Wirklichkeit lag die Verantwortung für die Kriegsführung bei dem erfahrenen Admiral, und die beiden Prinzen wurden seine Pagen genannt.
Jeanne blieb in La Rochelle, während Coligny mit den Prinzen im Krieg war, und sie konnte, unterstützt von einem Rat adliger Hugenotten, die „Regierungsgeschäfte“ regeln. Sie schrieb an England und nach Deutschland. Sie unterzeichnete Erlässe, versuchte Geld für das Heer aufzutreiben, pfändete ihren schönsten Schmuck für einen Kriegsdarlehen an Elizabeth von England und ließ ein Kriegsschiff namens „Die Hugenottin“ bauen.
So wie sie immer behauptete, nicht gegen den König, sondern gegen seine schlechten Ratgeber zu kämpfen, so behauptete Karl IX., dass sie in La Rochelle von den Hugenotten gefangen gehalten wurde, und er ließ den Baron Terride mit einer „Befreiungsarmee“ in Béarn einfallen. In kürzester Zeit waren ganz Béarn und Navarra erobert und zum Katholizismus zurückgeführt. Nur der Baron d`Arros hielt im Navarrenx stand. Um ihre Länder zurückzuerobern, sandte Jeanne den Graf von Montgommery mit einer „Hilfsarmee“ nach Navarrenx. In noch kürzerer Zeit als Terride gebraucht hatte, verjagte er ihn aus Béarn. Die Befreiung von Terride wurde in Pau mit einem Festgottesdienst gefeiert, wobei Pierre Viret über Psalm 124, 7: „Unsere Seele ist aus dem Netz des Vogelfängers entkommen“ predigte.
Vom Winter 1569 bis zum Frühjahr 1570 führte Coligny sein Heer mit den Prinzen Heinrich von Navarra und Heinrich von Condé durch ganz Südfrankreich und von Provence nach Norden, bis er Paris bedrohte. Der König hatte kein Geld mehr, um Krieg zu führen, und musste notgedrungen Friedensverhandlungen einleiten. Im August 1570 wurde dann der Frieden von St. Germain geschlossen. Wiederum war Jeanne d´Albret diejenige, die auf Augenhöhe mit dem König verhandeln konnte. Der Vertragstext erklärt immer wieder, dass der König die Bedingungen seiner Tante erfüllen wollte (Sutherland 1980, Potter 1997).
Jeanne blieb vorläufig in La Rochelle. Im April 1571 fand dort die Nationalsynode der reformierten Kirchen Frankreichs statt. Theodor Beza kam aus Genf angereist, um die Synode zu leiten. Pierre Viret wollte teilnehmen, starb aber vorher, vermutlich hatte seine Gesundheit in der Gefangenschaft unter Baron Terride gelitten. Auf der Synode wurde das französische Glaubensbekenntnis von 1559 neu verhandelt und die endgültige Fassung als „Bekenntnis von La Rochelle“ beschlossen. Darüber hinaus wurde eine Kirchenordnung für Béarn beschlossen, und die Synode diskutierte Fragen, die Jeanne d´Albret gestellt hatte. Als Ersatz für Pierre Viret bekam sie Nicolas des Gallars zur Seite gestellt. Er war Calvins Sekretär gewesen, danach hatte er die „Strangers´ Church“, die Kirche für Ausländer in London, als Nachfolger für Johannes à Lasco geleitet und dann an Bezas Seite im Colloquium von Poissy 1561 gestanden. Er war Pastor in Orléans gewesen und wurde jetzt Seelsorger für Jeanne d´Albret und ihr theologischer Ratgeber für die Kirche in ihrem Land.
Er war eine gute Wahl, denn während Beza sehr an dem Konzept von Genf hing und ein presbyteriales Kirchenverständnis (Kingdon 1967) hatte, war des Gallars in England gewesen, als Königin Elizabeth nach dem Tod ihrer katholischen Schwester die anglikanische Kirche einführte. Außerdem behauptet Bernard Roussel (2004), dass er das Buch Martin Bucers „De regno Christi“ von 1550 mitbrachte. Dieses Buch ist dem englischen König Edward VI. gewidmet und beschreibt, wie ein König eine reformierte Kirche leiten kann. Damit hatte des Gallars ein Konzept für eine von einer Fürstin geleitete Kirche, die dann in den Jahren als Heinrich und Katharina von Navarra das Erbe der Mutter verwalteten, Bestand hatte.
Während Jeanne in La Rochelle noch weilte, ereilte sie ein Angebot von Katharina von Medici, ob ihren Sohn Heinrich die Tochter Katharinas heiraten mochte. Hugenotten und Katholiken würden sich versöhnen und die Häuser Valois und Bourbon sich nahekommen. Dieses Angebot war zu verlockend, um es auszuschlagen, aber Jeanne traute Katharina nicht so recht, jedenfalls wollte sie nicht gleich nach Paris ziehen, um über die Ehe zu verhandeln.
Stattdessen fuhr sie nach Pau zurück, führte die neu beschlossene Kirchenordnung ein und kümmerte sich um ihre Länder. Die Tuberkulose machte sich bemerkbar und sie wollte zur Kur in die Bergen fahren. Währenddessen zogen sich die Eheverhandlungen hin, bis Jeanne endlich im Frühjahr 1572 nach Paris zog. In den Briefen an ihren Sohn hört man von den Verhandlungen, von ihrer Missbilligung des höfischen Lebens und von ihrem Ärger mit Katharina. Jeanne wollte so viele Rechte wie möglich für ihren Sohn und die Hugenotten aushandeln. Am Ende musste sie es aufgeben, Margareta von Valois, Margot genannt, zum reformierten Glauben zu bekehren. Dafür hoffte sie aber, dass das Brautpaar nach Béarn ziehen würde. Eine königliche Mischehe war etwas ganz Neues und musste in Detail besprochen und geplant werden. Jeanne handelte das Meistmögliche für ihren Sohn aus und im April 1572 wurde eine Einigung erzielt. Heinrich sollte allerdings noch eine Weile in Béarn bleiben und Jeanne bereitete in Paris die Hochzeit vor.
Die zähen Verhandlungen im Frühjahr hatten viel Kraft gekostet, Jeanne hielt sich aber tapfer. Im Juni brach sie zusammen und starb am 9. Juni an der Tuberkulose, die sie seit Jahren geplagt hatte. Später entstanden Gerüchte, sie sei von Katharina von Medici vergiftet worden. Diese sollte ihr ein Paar Handschuhe, die von ihrem privaten Giftmischer präpariert worden seien, geschenkt haben. Da Katharina nach den Massakern von St. Bartholomäus, die in der Periode von August bis November 1572 stattfanden, von den Hugenotten als der Inbegriff des Bösen dargestellt wurde, gehört der Giftmord an Jeanne d´Albret zu den Verleumdungen.
Heinrich traf erst etwas später in Paris ein. Im Testament Jeannes hatte sie sich gewünscht, in Béarn bei ihrem Vater beerdigt zu werden. Ihr Sohn setzte sich über ihren letzten Willen hinweg: sie wurde nach Vendôme geführt und neben ihrem Mann, Anton von Bourbon, bestattet.
Trotz ihre Fähigkeiten wurde sie eine Fußnote in der Geschichte Frankreichs: ihr Sohn wurde zwar als Heinrich IV. König von Frankreich, aber er wurde katholisch und aus den Hugenotten wurde, dank des Ediktes von Nantes 1598, eine geduldete Minderheit. Die Kirche, die Jeanne in Béarn aufgebaut hatte, wurde unter ihrem Enkelsohn, Ludwig XIII., verboten. 1685 wurde dann das Edikt von Nantes aufgehoben, und die Reformierten wurden grausam verfolgt. Viele flüchteten, viele konvertierten und viele wurden umgebracht. Die großen Hoffnungen, die die Hugenotten um Jahr 1560, als Jeanne konvertierte, hegten, erwiesen sich als trügerisch.
Wenn auch letztlich nicht erfolgreich, war sie dennoch bewundernswert. Mit dem Admiral Coligny zusammen hatte sie den Frieden von St. Germain errungen, dann eine Landeskirche aufgebaut und ihre Kinder gefördert. Sie war die reformierte Präsenz in der königlichen Familie und in ihren letzten Jahren wurde sie die Königin der Hugenotten.
Stammtafeln der Familie von Valois und der Familie von Bourbon (PDF)
Literatur
Quellen:
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Weltfrieden und Massenvernichtungswaffen passen nicht zusammen
Die Friedenserklärung des Moderamens in der Diskussion
Im April des Jahres 1982 beauftragte die Hauptversammlung des Reformierten Bundes einen Ausschuß, "unter Zugrundelegung der bisher vorliegenden reformierten Stellungnahmen zur Friedensfrage" eine Vorlage zum Schwerpunktthema "Frieden" für die Vollversammlung des Reformierten Weltbundes in Ottawa (August 1982) vorzulegen. In relativ kurzer Zeit wurde diese Vorlage erarbeitet. Das Manuskript sollte vervielfältigt werden. Doch bot sich in letzter Stunde die Möglichkeit einer Drucklegung an.
Niemand von uns hatte beabsichtigt oder erwartet, daß die Erklärung "Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche" einen so großen Zuspruch und Widerspruch finden würde, wie es im Sommer 1982 geschah. Aus einer Vorlage für die Vollversammlung in Ottawa war plötzlich eine Stellungnahme geworden, mit der sich zahlreiche Gemeinden, Synoden, Pfarrerkonvente und vor allem junge Christen identifizierten, und der zugleich viel Kritik entgegengetragen wurde.
Doch wird niemand behaupten können, diese Erklärung sei ohne jede in den Gemeinden diskutierte Voraussetzung als schöpferisches Produkt einer "radikalen Minorität" herausgebracht worden. Alle Fragen, auch und vor allem die umstrittene Bekenntnisfrage, waren in einem Schreiben vom Oktober 1981 den Mitgliedern des Reformierten Bundes vorgetragen worden (Brief betr. "Diskussion um die Erhaltung des Friedens"). Auch hatte der Landeskirchentag der Nordwestdeutschen Reformierten Kirche klare Aussagen zum Thema "atomare Rüstung" formuliert. Weiter ist hinzuweisen auf die Diskussion in der Reformierten Kirche der Niederlande und auf die seit 1958 bekannten Dokumente (Thesen der Kirchlichen Bruderschaften; Gutachten von dreißig Hochschullehrern), auf die später einzugehen ist.
Vor allem wird von Anfang an festzuhalten sein, daß keiner der Mitverfasser der Thesen des Moderamens beabsichtigt hat, ein Bekenntnis zu formulieren. Das umstrittene Dokument bezeichnet sich selbst als eine "Erklärung" und will auch so und nicht anders verstanden sein. Allerdings weist diese Erklärung auf die Unvereinbarkeit atomarer Rüstung mit dem Bekenntnis der Kirche nachdrücklich hin und stellt damit die Bekenntnisfrage (These 1) - eine Frage also, die nicht individuellem Ermessen anempfohlen ist. Die christliche Kirche ist gefragt, wo und wie sie ihre Sendung und Verantwortung wahrnimmt, "Licht der Welt" und "Salz der Erde" zu sein in einer weltpolitischen Entwicklung, in deren zentralem Spannungsfeld wir leben. Sie ist gefragt, ob sie das Gewissen der Politiker und der politischen Parteien ist, oder der Vollzugsbeistand in einem Geschehen, das in Vancouver 1983 als "Verbrechen gegen die Menschheit" bezeichnet worden ist.
I
Kritik und Widerspruch hat die Feststellung des "status confessionis" hervorgerufen. Mit Besorgnis beobachten wir, daß in der Auseinandersetzung mit der Erklärung des Moderamens des Reformierten Bundes der (vieldeutige) Begriff aus dem Kontext seiner inhaltlichen Näherbestimmunge herausgelöst und auf ein Verständnis des "status confessionis" bezogen wird, wie es im 16. Jh. maßgebend war. Auf diese Weise wird nicht nur eine unangemessene Rede vom (konfessionellen) "Bekenntnisstand der Kirche" eingeführt bzw. die kirchenrechtliche Konsequenz der Feststellung eines "status confessionis" hochgespielt, es wird auch und vor allem auf die Bedrohung oder gar Infragestellung der Einheit der Kirche hingewiesen. Zur Klärung der Situation sei folgendes festgestellt:
- Seit dem 16. Jh. stimmen alle Hinweise auf den "status confessionis" darin überein, daß die Unvereinbarkeit von Reden und Handlungen in der Kirche mit dem Bekenntnis des Glaubens deutlich und unausweichlich, vor allem aber in ihren weitreichenden Konsequenzen, angezeigt wird.
- Während jedoch im 16. Jh. der "status confessionis" auf das reformatorische Bekenntnis bezogen war und die Unvereinbarkeit von kirchlichen Riten und kultischen Praktiken mit dem "Bekenntnisstand" herausstellte, damit aber auch eine einschneidende Trennung einleitete, hat sich im 20. Jh. ein neuer Bezug des alten Begriffs und ein solches Verständnis des "status confessionis" herausgebildet, ohne dessen Beachtung die Erklärung des Moderamens in dieser wichtigen Sache nicht angemessen beurteilt werden kann.
- In ihrer Verantwortung für Gottes Schöpfung und das Menschsein des Menschen wird seit 1933 der "status confessionis" im Sinne einer Feststellung der Unvereinbarkeit von Reden und Handlungen (bzw. Unterlassungen) in der Kirche dort erkannt und zur Sprache gebracht, wo z. B. auf die Verfolgung der Juden (D. Bonhoeffer 1933), auf die Bedrohung der Welt durch atomare Massenvernichtungsmittel (K. Barth, Kirchl. Bruderschaften, Gutachten der dreißig Hochschullehrer 1958) oder auf die Apartheid (Luth. Weltkongreß in Daressalam 1977, Reformierter Weltbund 1982) hingewiesen wurde. In allen diesen Fällen handelte es sich um Unvereinbarkeit der angezeigten Ereignisse mit dem Evangelium bzw. dem Bekenntnis des Glaubens an den dreieinigen Gott.
- Wiederholt haben Mitglieder des Moderamens darauf hingewiesen, daß die Rede vom "status confessionis" in der Erklärung aus dem Jahre 1982 bewußt und inhaltlich nachweisbar an die Thesen der Kirchlichen Bruderschaften zu den atomaren Massenvernichtungsmitteln aus dem Jahre 1958 anknüpft und erinnert.
- Das evangelische Verständnis von "status confessionis" in der Frage der atomaren Massenvernichtungsmittel beabsichtigt und erwirkt seit 1958 keine sofortige Trennung ("status separationis") im Sinne der aus dem 16. Jh. stammenden Tradition, sondern eine ernste Mahnung und eine dringende Einladung an alle Christen, die Unvereinbarkeit der die Schöpfung Gottes und die Menschlichkeit des Menschen zerstörenden Massenvernichtungsmittel mit dem Bekenntnis zum dreieinigen Gott, dem Schöpfer und Erlöser, zu erkennen und entsprechend zu handeln. Dabei würde es gelten, in umfassendem Sinn die Bindungen und Bannungen der Kirche in der Welt der Politik wahrzunehmen und unter der befreienden Macht des Evangeliums umzukehren. "Ohne die Erlösung der Kirchen aus ihrer Gebundenheit an die Interessen der herrschenden Klassen, Rassen und Staaten gibt es keine heilbringende Kirche. Ohne Befreiung der Kirchen und der Christen aus der Komplizenschaft mit institutioneller Ungerechtigkeit und Gewalt kann es für die Menschheit keine befreiende Kirche geben ..." (Weltkirchenkonferenz in Bangkok 1972).
- Die Dynamik und Dauer des schon im Jahre 1958 in Gang gesetzten Prozesses der Umkehr und des Umdenkens läßt sich mit dem von W. Huber eingeführten Begriff "processus confessionis" ("Prozeß des Bekennens") angemessen bezeichnen. Wer in der Einführung dieses Begriffs oder den unter 5. dargelegten Vorgängen eine "Erweichung" angeblich härterer Ausgangspositionen in unserer Erklärung sieht, urteilt im Bann eines status-confessionis-Verständnisses des 16. Jh., das der Erklärung des Moderamens nie zugrunde lag. Es sei ausdrücklich hingewiesen auf die Neuauflage des Heftes 70 der "Theol. Existenz heute" durch H. Simon.
- Dem Exekutivausschuß des Reformierten Weltbundes ist zuzustimmen, wenn er definiert: "Unter dem Begriff "status confessionis" verstehen wir, daß in der jeweiligen Frage die Treue zu Jesus Christus eine eindeutige Antwort erfordert; jede Abweichung davon würde das gemeinsame Bekenntnis der reformierten Kirchen ernsthaft gefährden. Es geht nicht um besondere Glaubensbekenntnisse reformierter Tradition, sondern um die grundlegende Glaubensaussage "Jesus Christus ist der Herr". Mit der Benennung des "status confessionis" wird zum Ausdruck gebracht, "daß die Kirchen in dieser Frage eine eindeutige Position beziehen müssen." Hierzu: RKZ 5/1983 S.114.
- Angesichts der getroffenen Feststellung ist es unverständlich, wenn von einer Zerstörung der Einheit der Kirche gesprochen wird und Kategorien und Konsequenzen des 16. Jh. in Ansatz gebracht werden. Vor allem wird zu bedenken sein:
a) daß die allein in Jesus Christus und im Glaubensgehorsam seiner Gemeinde gegründete Einheit der Kirche ständig verwechselt wird mit dem institutionellen Zusammenschluß der Volkskirche bzw. der EKD, die ja doch ihr Kirche-Sein auch noch bestreitet.
b) daß die Feststellung und gewissenhafte Beachtung des "status confessionis" in der Frage der Massenvernichtungsmittel längst quer durch alle Konfessionen in ihrem verschiedenen "Bekenntnisstand" hindurchgeht,
c) daß die ökumenische Erklärung zu den atomaren Massenvernichtungsmitteln (Produktion, Rüstung, Bereitstellung, Drohung, Einsatz) als "Verbrechen gegen die Menschheit" der eigentliche Inhalt der Glauben und Handeln aller Christen betreffenden Herausforderung ist, die mit dem alten Begriff "status confessionis" in ihrem Ernst und in ihrer Tragweite angemessen unterstrichen werden kann.
Zur Erklärung des Moderamens äußerte sich in einer Pressekonferenz vom September 1982 der Versöhnungsbund folgendermaßen: "Diese Thesen sind ... alles andere als eine Belastung der kirchlichen Gemeinschaft. Sie müssen vielmehr als Anlaß verstanden werden, daß auch die anderen Kirchen innerhalb der EKD den bisherigen Kompromiß doppelsinniger und unverbindlicher Äußerungen verlassen, den biblischen Friedensauftrag neu überdenken und zu einem gemeinsamen Nein gegenüber den Massenvernichtungsmitteln kommen."
II
Heftig war die Kritik, die der Erklärung des Moderamens aus dem Rat der EKD und der Kirchenleitung der VELKD entgegengebracht wurde. Da war von "steilen" theologischen Aussagen die Rede, von einem "Mißbrauch des Christusbekenntnisses" zu politischen Zwecken und - immer wieder - von einer Zerstörung der Einheit der Kirche. Schnell wurde deutlich, daß diese Kritik motiviert war durch eine neuzeitlich-dualistisch geprägte Unterscheidung der beiden Reiche, wie sie von Luther eingeführt worden war. Streng voneinander abgehoben werden in solcher Lehrausprägung das geistliche Reich des Evangeliums und der Kirche auf der einen, und das weltliche Reich der Politik und des Staates auf der anderen Seite.
Wird eine solche Unterscheidung eingeführt, dann lautet das Ergebnis im Blick auf die Thesen des Moderamens: "Wir können dem Aufruf des reformierten Moderamens nicht zustimmen, politische Entscheidungen - selbst solche auf Leben und Tod - zu Bekenntnisfragen der Kirche zu erheben" (These IV der VELKD vom 10. September 1982). Der im Einflußbereich der VELKD stehende Rat der EKD hat sich angeschlossen mit der Formulierung: "Fragen innerweltlichen Überlebens, so wichtig sie sind, dürfen nicht mit den Fragen des Glaubens verwechselt und zu Bekenntnisfragen gemacht werden."
Es kann in diesem Beitrag die Auseinandersetzung mit der neuzeitlich-dualistischen Version der Zwei-Reiche-Lehre nicht geführt werden. Aber es muß doch aufmerksam gemacht werden auf den scharfen Widerspruch, der diese Lehre getroffen hat, und zwar aus den Erfahrungen des Kirchenkampfes und der politischen Herausforderungen nach dem 2. Weltkrieg. Nicht der reformierte Karl Barth, sondern Hans-Joachim Iwand, der Lutheraner, soll hier zitiert werden. In seinem Aufsatz "Die politische Existenz des Christen unter dem Auftrag und der Verheißung des Evangeliums von Jesus Christus" geht Iwand aus von der unbedingt zu erkennenden Gefahr des Mißbrauchs des Christlichen für die und in der Politik (Um den rechten Glauben, 1959, 183).
Es gibt die Vermischung der beiden Reiche, wie die Reformatoren sagten, und es gibt ein Schwärmertum, welches aus dem Evangelium ein Programm und aus der Freiheit des Glaubensgehorsam ein Gesetz macht. Doch "kann damit nicht gesagt sein, daß wir das Recht und die Freiheit hätten, das Wort Gottes da, wo es mitten hineintrifft in unsere politische Existenz, abzulenken und zum Verstummen zu bringen. Gottes Wort will alle Räume unseres Lebens, in denen wir uns bewegen, mit seinem Gericht und seiner Verheißung treffen. Sobald wir einen Bezirk vor ihm verschließen, kann es auch in allen anderen Bezirken nicht mehr wirken, ist es nicht mehr sein Wort, sondern unser Wort, sind wir nicht mehr von ihm geleitet, sondern haben uns seiner bemächtigt und wenden es an, wo es uns paßt, und unterdrücken seine Mahnung, wo sie uns bedenklich und unseren menschlichen Wünschen und Hoffnungen hinderlich scheint" (183).
Iwand unterschied zwischen der - auf Luther zurückgehenden – "qualitativen Bedeutsamkeit" der Lehre von den beiden Reichen und dem Mißbrauch der Unterscheidung in "quantitative Begrenzungen". Es ist kennzeichnend für den neuzeitlich-dualistischen Ansatz der Zwei-Reiche-Lehre, daß die quantitative Begrenzung bestimmend ist. Dem Wirken des Wortes Gottes wird eine Schranke gesetzt vor dem gesamten Terrain des Politischen. Damit erhalten die weltlichen Ordnungen als Eigengesetzlichkeiten einen besonderen, unangreifbaren Status. Die pragmatischen Verhältnisse im "Raum" des Politischen haben ihre eigene Würde und können allenfalls durch einen kirchlichen Beitrag zur "politischen Kultur" angesprochen werden (vgl. die Denkschrift der EKD "Frieden wahren, fördern und erneuen" 1981).
Es ist erschreckend zu sehen, wie wenig die als "lutherisch" bezeichneten Äußerungen unserer Tage die Problematik der Zwei-Reiche-Lehre reflektieren. Die ersten Widersprüche gegen die Erklärung des Moderamens zeichneten sich dadurch aus, daß sie formal und emotional verliefen. Die eigentlichen Sachprobleme wurden gar nicht berührt. Kirchenpolitische Erwägungen standen im allgemeinen Raster der Zwei-Reiche-Lehre.
Doch allmählich konkretisierte sich die Kritik. Was zuerst generell "Mißbrauch des Christusbekenntnisses" genannte wurde, bezog sich auf die Versöhnungslehre in der These 1 unserer Erklärung. Von einer unbiblischen, ontologisierenden Versöhnungslehre wurde gesprochen. Man bemängelte - allen Ernstes - den Satz "Gott hat die ganze gottfeindliche Welt mit sich versöhnt", obwohl dieser Satz 2. Kor. 5, 19 bezeugt: "Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selbst". Die von der Versöhnungslehre Karl Barths deutlich herausgearbeitete Unterscheidung zwischen diesem "de iure" der göttlichen Tat und dem "de facto" der noch nicht vernommenen und noch nicht aufgenommenen Versöhnungsbotschaft wurde von den Kritikern nicht erkannt, obwohl in These 1 auch das andere steht: "Er hat seine Gemeinde in die Welt gesandt, das Wort von der Versöhnung auszurichten" (vgl. 2. Kor. 5, 20). Daß eine Ethik der Versöhnung nur vom "de iure" der göttlichen Tat her entwickelt werden kann, müßte in der Diskussion noch deutlicher als bisher herausgestellt werden. Hier liegen, was die Grundsatzdebatte angeht, noch viele unerledigte Aufgaben.
Dies betrifft auch die stark attackierte "Staatstheorie" der Thesen des Moderamens. Es wurde der Vorwurf erhoben, die Autorität des Staates würde unterminiert, wenn z. B. vom Staat als von einer "widergöttlichen Gewalt" gesprochen werde. Aber der Kontext zeigt deutlich, wie diese Aussage zu verstehen ist. Da wird erklärt, in der noch nicht erlösten Welt sei der Staat - wie die Kirche - von der Macht des Bösen bedroht. Deutlicher: "wo er Massenvernichtungsmittel in seine Machtmittel einbezieht, - da wird er zu einer solchen widergöttlichen Macht" (Zu These V). M.a.W. nicht die Thesen des Moderamens "unterminieren" die Autorität des Staates, sondern der die Massenvernichtungsmittel in sein Machtpotential einbeziehende Staat unterminiert sich selbst. Davon ist frei und deutlich zu sprechen. Wir haben die Schutzgrenze der devoten Staatsanerkennung, die durch Jahrhunderte im Christentum religiös sanktioniert war, zu durchbrechen. Es ist reformiertes Erbe, den Widerspruch gegen einen Staat zu erheben, der seine Kompetenzen überschreitet (Th. Beza, De iure magistratuum).
Doch die Wurzel allen Übels ist die Naivität, mit der die grauenhaften Massenvernichtungsmittel in ein traditionelles Bild von Militärstrategie, von "Schutz" und "Verteidigung", einfach eingefügt werden. "Das Langsamste auf dieser Welt ist die Entwicklung des menschlichen Denkens. Unsere Technik ist uns um große Schritte voraus. Unsere Phantasie, unsere Vorstellungen, unser Vorstellungsvermögen ist zurückgeblieben. Unser Denken verläuft in den Bahnen vergangener Zeiten. Wir reden von Dingen, die es nicht mehr gibt. Wir legen Denkmuster an Vorgänge, die ohne Vorgang sind. Die Wirklichkeit ist stärker als unsere Vorstellungskraft" (Kardinal König, FAZ 3.3.1982 5.10).
Wenn die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen die Herstellung und die Drohung der Massenvernichtungsmittel ein "Verbrechen gegen die Menschheit" nennt, dann geht der Rat der EKD in dieser Einschätzung aus Loyalität gegenüber den Politikern, die sich doch nicht als "Verbrecher" bezeichnen lassen, nicht mit. Doch die Zusammenhänge liegen tiefer und rufen uns alle zu Buße und Umkehr auf. Der Atomphysiker Max Born sagte: "Ich scheue mich nicht, das Wort Verbrechen zu gebrauchen. Und doch will ich keinen einzelnen Verbrecher nennen. Es handelt sich um eine Gesamtschuld, um den Verfall des sittlichen Bewußtseins, an dem wir alle mitschuldig sind. ..." (Spiegel 24.4.1957 S. 15).
III
Gegenstand der Kritik waren und sind diejenigen Passagen in den Thesen des Moderamens, in denen politische Analysen und militär-politische Konsequenzen erkennbar sind. Die Frage nach dem Recht und der Bedeutung der politischen Vernunft wird in diesem Zusammenhang nachdrücklich gestellt. Dabei wird freilich von Beginn an zu bestreiten sein, daß dort, wo politische Macht ist, auch stets politische Vernunft waltet. Es herrscht unter uns eine große Scheu vor dem Eingeständnis, daß gottlose und die Menschheit bedrohende Sachzwänge die sog. politische Macht weitgehend entmächtigt und die "politische Vernunft" entsprechend ausgerodet haben.
In der Einschätzung der politischen Lage können christlicher Glaube und politische Vernunft einander nicht widersprechen, z. B. in der Analyse, die George F. Kennan vorgetragen hat: "Für mich ist die Atombombe die nutzloseste Waffe, die je erfunden wurde. Man kann sie zu keinem vernünftigen Zweck verwenden. Sie ist nicht einmal ein wirksamer Schutz gegen sich selbst. Sie ist nichts als ein Ding, mit dem man in einem Moment der Wut oder der Panik so entsetzliche Vernichtungsschläge führen kann, wie sie kein Mensch, der bei Sinnen ist, je auf dem Gewissen haben möchte."
Und zu den absurden und widersinnigen Mengen "Overkill", der millionenfachen Sprengkraft der Bombe von Hiroshima schreibt Kennan: "Wer nicht begreift, daß die Gefahr nicht darin liegt, daß ein anderer möglicherweise mehr Raketen und Sprengköpfe hat als wir, sondern darin, da ß es unfaßliche Mengen hochgiftiger Sprengkörper überhaupt gibt, zudem in so schwächlichen und zittrigen und unzuverlässigen Händen wie den unseren oder denen unserer Gegner oder denen irgendeines anderen einfachen Menschenwesens: Wer diese Dinge nicht begreift, wird uns niemals hinausführen aus dem immer dunkler und drohender werdenden Wald von Wirrungen, in dem wir uns alle verirrt haben" (Im Schatten der Atombombe, S. 261).
Aber was soll praktisch geschehen? Was kann geraten werden? Niemand kann und wird sich der Illusion hingeben, daß alle atomaren Potentiale auf einen Streich abgeschafft werden können. Was also trägt ein "Nein ohne jedes Ja" aus, wenn z. B. "kalkulierte, einseitige Abrüstungsmaßnahmen" als erste Schritte bezeichnet werden? Haben diejenigen nicht recht, die behaupten, im Grunde unterscheide sich die Erklärung des Moderamens nur in Nuancen von der Denkschrift der EKD, weil in beiden Fällen "erste Schritte" erwogen werden (v. Mutius, J. Fischer).
Doch die Neutralisierungstendenzen dieser Theologen übersehen hinsichtlich der politischen Konsequenzen die Bedeutsamkeit des Vorzeichens vor der Klammer aller praktisch möglichen "ersten Schritte". In der Denkschrift des EKD lautet dieses Vorzeichen: "Die Kirche muß auch heute, 22 Jahre nach den ‚Heidelberger Thesen‘, die Beteiligung am Versuch, einen Frieden in Freiheit durch Atomwaffen zu sichern, weiterhin als eine für Christus noch mögliche Handlungsweise anerkennen." Dies ist ein Ja zu den Massenvernichtungsmitteln mit einem langgestreckten "noch".
Entsprechend wurde in der Bundestagsdebatte um die sog. "Nachrüstung" das Votum der EKD als religiöse Ermächtigung zur Aufstellung der Pershing-II-Raketen zitiert. - Das Vorzeichen der Erklärung des Moderamens aber ist ein "Nein ohne jedes Ja", dessen Kraft und Wucht jeden praktisch möglichen Schritt anleitet und sich nicht - unter der Hand - in ein verdecktes Ja umprägen läßt. Vor allem schafft das "Nein ohne jedes Ja", im Gehorsam des Glaubens gesprochen, eine Ausgangslage, die zu neuen Überlegungen befreit, Phantasie freisetzt und zu Wagnissen der Versöhnung ermutigt. "Eure Rede aber sei: Ja, ja; - nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel" (Mat. 5, 37).
IV
Der frühere Generalsekretär des Weltrates der Kirchen, W. A. Visser't Hooft, hat schon vor zwei Jahrzehnten den "status confessionis" der Kirchen im Blick auf Hunger und wirtschaftliche Not in der Welt festgestellt. Im Zusammenhang mit der atomaren Aufrüstung sind wir noch einmal neu und nachhaltig darauf hingewiesen worden, daß atomare Rüstung schon jetzt tötet. Denn die Aufhäufung von atomaren Massenvernichtungsmitteln führt mit dem Bestreben, ein Gleichgewicht der Kräfte im Ost-West-Verhältnis herzustellen, in ein Ungleichgewicht hinsichtlich des Nord-Süd-Verhältnisses.
Es wird immer deutlicher, daß der mit ungeheurem Vernichtungspotential erstrebte Weltfrieden durch weltweite Ungerechtigkeit Tag für Tag untergraben wird. Realistisch ist die Einschätzung, daß gegenwärtig in unserer Welt in jeder Stunde ungefähr zweitausend Menschen an Hunger sterben, während in der gleichen Stunde um die zwei Millionen Dollar für die Rüstung ausgegeben werden. Diese Zahl wird sich bis zum Jahr 2000 - wenn in der Hochrüstung fortgefahren wird - noch verdoppeln. Skandal und Schuld des militärischen Sicherungssystem auf Kosten der Armen und Hungernden in unserer Welt sind unfaßlich. Doch ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden.
Von Stunde zu Stunde verlieren wir mehr die Chance auf Frieden. Dabei ist noch unkalkulierbar der Vorgang, daß die Ungerechtigkeit zu einem Herd des Aufbruchs, des Aufbegehrens einer mit dauernden Waffenlieferungen an das Netz des Sicherheitssystems angepaßten sog. dritten Welt werden wird, - der dritten Welt, in der der Besitz oder die Entwicklung der atomaren Potentiale bekanntlich durchaus im Bereich der Möglichkeit liegen. Es ist bemerkenswert, daß einer der Erfinder der Atom- und Wasserstoffbombe, Edward Teller, in diesen Konstellationen die große unerkannte und unbeachtete Gefahr der Weltzerstörung sieht.
Doch ist an dieser Stelle vor allem von der Schuld der Kirche zu sprechen, von unser aller Schuld, die wir den Zusammenhang von Gerechtigkeit und Frieden nicht nachhaltig ins Bewußtsein gerückt und mit entsprechenden konkreten Aktionen sichtbar gemacht haben. Wir reden von der Freiheit, die wir zu schützen und zu sichern haben, meinen aber mit "Freiheit" immer nur die eigene Freiheit zu maßlosem Wachstum; ignorieren jedoch das Minimum in Freiheit zum alltäglichen Existieren, das wir zahllosen Menschen rauben, indem wir mit unserem Sicherheitsdenken den durch Ungerechtigkeit und Ausbeutung aufgehäuften Wohlstand und unsere Ruhe zu schützen bestrebt sind. Wo immer, in der Phase nach der Aufstellung der Pershing-II-Raketen, Resignation und Verzweiflung sich ausbreiten wollen, da erkenne man die unermeßlichen Aufgaben, die Visser't Hooft mit der Feststellung des "status confessionis" angezeigt hat! Es gilt, in den Gemeinden einen "covenant for peace and justice" zu schließen und einander zu neuen Taten der Gerechtigkeit und des Friedens zu ermutigen.
Was in der Zukunft zu tun ist, zeichnet sich deutlich ab. Zuerst wird das nicht ermüdende Gebet der Gemeinde und jedes einzelnen Christen zu nennen sein, - ein Gebet, das nicht allgemein, sondern sehr konkret und mit genauer Bezeichnung der Not und der Kriege Gott anruft. Doch dieses Gebet kann und darf nicht an Gott delegieren, was die christliche Gemeinde zu sagen und zu tun berufen ist. So muß dem Gebet ein konkretes Handeln entsprechen und folgen. Theorie und Praxis aber sind unlöslich aufeinander bezogen. Die Theologie ist zu neuer Arbeit und neuem Denken herausgefordert. Sie kann und darf sich nicht in den traditionellen Schablonen bewegen.
Den Kritikern unserer Erklärung sind wir dankbar, daß offene Gespräche geführt wurden und auch fortgesetzt werden. Ja, wir bitten herzlich alle, die mit den Thesen des Moderamens nicht einverstanden sind oder in Einzelfragen Korrekturen für geboten halten, den Dialog mit uns nicht abzubrechen.
Aus: 100 Jahre Reformierter Bund. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart, hrsg. im Auftrage des Moderamens des Reformierten Bundes von Joachim Guhrt, Bad Bentheim 1984, 134-145
Hans-Joachim Kraus