Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1528–1572)
Jeanne d´Albret (1528–1572) war die bedeutendste Frau in der Geschichte der Hugenotten im 16. Jahrhundert. Besonders in ihrem Witwenstand, in den letzten zehn Jahren ihres Lebens, baute sie eine reformierte Kirche in Béarn auf und war das politische Oberhaupt der Hugenotten im dritten Religionskrieg (1568–1570). Nach 1570 versuchte sie, die Reformierten zu schützen und ihnen einen gesicherten Platz in der Gesellschaft zu verschaffen. Sie handelte für die Hugenotten den Friedensschluss von St. Germain 1570 aus, und durch die Heirat ihres Sohnes Heinrich (später Heinrich IV. von Frankreich) mit Margarete von Valois, Schwester des Königs Karl IX. von Frankreich, strebte sie eine enge Verbindung von Hugenotten und Katholiken an.
Keine andere Frau hatte eine solche Machtposition unter den Hugenotten in Frankreich inne. Sie war respektiert und gefürchtet in Rom und Madrid, alliiert mit Elizabeth von England und befreundet mit Katharina von Medici – keine unkomplizierte Freundschaft zwischen zwei starke Frauen.
Sie sorgte dafür, dass ihre Kinder – Heinrich und Katharina – im reformierten Glauben erzogen wurden. Jahrelang kämpfte Heinrich als Anführer der Hugenotten und von einer Machtbasis in Südfrankreich aus um die französische Krone, bis er 1589 König von Frankreich wurde und schließlich 1593 zum katholischen Glauben übertrat, um das Land zu befrieden.
Jeanne d´Albret war nicht nur Mutter ihres berühmten Sohnes, sie war auch selbst eine machtvolle Frau in Frankreich, da ihre Position als Anführerin der Hugenotten ihr einen Einfluss weit über die Grenzen ihres kleinen Königreiches zusicherte.
Jugend und Ehe (1528-1555)
Jeanne d´Albret wurde am 7. November 1528 auf dem Schloss Blois von Margarete und Heinrich II. von Navarra geboren. Ihre Mutter wusste angeblich, dass sie eine Tochter gebären würde, ihr sehnlichster Wunsch war freilich nach einem Sohn. Jeanne blieb das einzige Kind aus dieser Ehe, Margarete von Navarra gebar zwar kurz danach einen Sohn, der als Kleinkind starb, und alle übrigen Hoffnungen auf Schwangerschaften zerschlugen sich.
Die kleine Prinzessin konnte von ihrem Vater das Königreich Navarra erben, weil dort das salische Gesetz, das in Frankreich weibliche Thronerben verbot, nicht gültig war. Außerdem war das vicomté Béarn selbständig. Deswegen waren die zwei Großmächte Spanien und Frankreich zutiefst an diesen Grenzregionen interessiert. Frankreich wollte seine Südgrenze verteidigen, und Spanien beide Seiten der Pyrenäen besitzen, um in Frankreich einfallen zu können. Zudem war die väterliche Familie von Albret Großgrundbesitzer in Südwestfrankreich und damit Vasall des französischen Königs. Das frühere Aquitanien hatte mehrere hundert Jahre der englischen Krone gehört und war spät von England aufgegeben worden. Im 16. Jahrhundert wurde das Gebiet meistens als Guyenne bezeichnet.
In ihren jungen Jahren wuchs Jeanne in der Normandie auf. Ihre Mutter, Margarete von Navarra, hatte die Aufgabe, die königlichen Kinder ihres Bruders, Franz I., zu erziehen. Sie gab Jeanne in die Obhut ihrer Freundin Aymée de Lafayette, Vogtin von Caen. Man behauptet, sie sei die Vorlage für die Figur Longarine in Heptameron (vgl. Nielsen). Nach meiner Auffassung sind die Erzähler/innen im Heptameron, die sogenannten devisants, eher Typen als historische Persönlichkeiten, die Figur der Longarine ist allerdings eine sehr sympathische Frau mit Humor und Pfiff. Wenn Aymée de Lafayette die Vorlage zu Longarine abgegeben haben soll, deutet alles darauf hin, dass Margarete sie sehr schätzte und meinte, ihre Tochter sei bei ihr gut aufgehoben.
Jeanne wuchs in einem landadligen Milieu auf, umgeben von Wald, Wiesen und Tieren, mit den Mitgliedern der Familie von Aymée de Lafayette als Bezugspersonen, bis sie zehn Jahre alt war. Ihre Mutter sah sie selten, aber jedes Mal, wenn sie krank war, war Margarete sofort zur Stelle. 1538 ließ Franz I. sie nach Plessis-lez-Tours bei der Loire übersiedeln, da sie jetzt ein Alter erreicht hatte, wo sie auf dem Heiratsmarkt von Interesse war. Der König konnte über seine Verwandte entscheiden und Ehen arrangieren, wie es ihm passte.
1540 war es für Jeanne so weit. Herzog Wilhelm der Reiche von Kleve-Jülich-Berg hatte 1538 das Herzogtum Geldern geerbt. Sein Erbanspruch wurde von Kaiser Karl V. angefochten und auf dem Reichstag zu Regensburg wurde dem Kaiser Geldern zugeteilt. 1539 folgte Wilhelm seinem Vater auf dem Thron nach, und um sich vor den Ansprüchen des Kaisers zu schützen, arrangierte er eine Ehe mit Heinrich VIII. von England für seine Schwester Anna, und selbst verbündete er sich mit Franz I. Als Unterpfand für dieses Bündnis sollte er Jeanne d´Albret heiraten.
Was jetzt passierte, ist absolut ungewöhnlich: Jeanne weigerte sich. Die Zwölfjährige ließ ihrem Onkel wissen, dass sie den Herzog nicht heiraten möchte, und sie ließ zwei Schreiben aufsetzen, in welchen sie erklärte, dass sie gegen ihren Willen zu dieser Ehe gezwungen worden sei. Natürlich konnte sie sich nicht auf Dauer gegen den Willen des Königs auflehnen, aber bei der Hochzeitszeremonie am 14. Juni 1541 weigerte sie sich, zum Altar zu schreiten, stattdessen musste sie getragen werden. Ihr Jawort war nicht hörbar und wegen ihres Alters wurde die Ehe nicht vollzogen, der Herzog setzte nur symbolisch ein Bein in ihr Bett. Nach der Hochzeit kehrte er zurück nach Düsseldorf, während Jeanne vorläufig in Frankreich blieb.
1543 griff Kaiser Karl Kleve-Jülich-Berg an, der Herzog wurde geschlagen und musste Geldern Karl V. überlassen. Am Frieden von Venlo im September 1543 hob er das Bündnis mit Franz I. auf und verbündete sich stattdessen mit dem Kaiser. Damit war auch die französische Ehe hinfällig geworden, 1545 wurde sie vom Papst wegen Nichtvollzug annulliert, und der Herzog vermählte sich mit einer Nichte des Kaisers.
Nach kanonischem Recht durfte bei einer Eheschließung keine Zwang im Spiel sei. Die Eheleute mussten ihr Gelübde frei abgeben. Damals konnten junge Frauen aus adligen oder königlichen Familien sich ihre Ehepartner nicht selbst aussuchen, sondern wurden als politische Garanten vermählt, und die meisten fanden sich damit ab, weil das ihr Standesbild entsprach. Jeannes Ablehnung, so wie ihre Kenntnis des kanonischen Rechts, ist erklärungsbedürftig.
Eine mögliche Erklärung ist, dass ihre Eltern für sie eine Ehe mit dem Kronprinzen Philipp von Spanien anstrebten. Königin von Spanien war natürlich prestigeträchtiger als Herzogin von Kleve zu sein, aber vor allem erhoffte sich ihr Vater damit den spanischen Teil von Navarra zurückzugewinnen. 1512 hatten die Spanier Navarra, das Baskenland, bis zu den Pyrenäen erobert und den Albrets nur das winzige Gebiet auf der französischen Seite gelassen. Seitdem überlegten sich die Könige von Navarra, wie sie zu ihrem ganzen Erbe kommen konnten, und eine Ehe zwischen dem Infanten von Spanien und der zukünftigen Königin von Navarra würde genau dies herbeiführen.
Jeanne war möglicherweise auch beeinflusst von einer Erklärung der Ständeversammlung von Béarn, die eine auswärtige Ehe für ihre Kronprinzessin ablehnte.
Sah Jeanne d´Albret ihre Zukunft gefährdet durch eine Ehe mit dem Herzog von Kleve? Oder tat sie, was ihre Eltern wünschten, statt des Königs Willen zu erfüllen? Stammten ihre Kenntnisse des kanonischen Rechts von denen? Margareta von Navarra schrieb ihrem Bruder, sie habe keine Ahnung, was in das Mädchen gefahren sei, aber stimmt das? Hat sie Jeanne mit ihrer Ablehnung der Ehe geholfen aus Liebe (Cholakian & Cholakian), oder aus Ehrgeiz? Es besteht kein Zweifel, dass königliche Kinder damals frühreif waren und in jungen Jahren schon an ihre späteren Aufgaben geführt wurden, trotzdem ist die Zähigkeit und Sturheit des Mädchens erstaunlich.
1547 starb Franz I. und als Jeanne zwanzig Jahre alt war, bot der Nachfolger, Heinrich II. von Frankreich, ihr gleich zwei Heiratskandidaten an: den Herzog Franz von Aumale (der spätere erzkatholische Herzog Franz von Guise) und Anton von Bourbon, Herzog von Vendôme. Der letztere war Erbprinz und vielleicht deshalb für Jeanne die bessere Partie, obwohl er relativ arm war. Er war hochgewachsen – was für einen Bourbon eher selten war – und charmant, wie alle Männer in seiner Familie scheint er ein unverbesserlicher Schürzenjäger gewesen zu sein. Heinrich IV. von Frankreich, der vert galant, hatte seine ausgelebte Sexualität nicht von Fremden, ebenso wenig wie sein militärisches Können und seinen Mut.
Jeanne und Anton von Bourbon heirateten 1548 und sie war überglücklich. Heinrich II. schrieb in einem Brief, dass er selten eine Braut erlebt habe, die immer nur lachte. Diese Ehe war aus Liebe geschlossen, und Anton von Bourbon nahm seine Frau mit, als er in den Krieg zog. Der Kriegsschauplatz war Flandern, und da der Herzog Güter in Nordfrankreich besaß, zog Jeanne in den ersten Jahren ihrer Ehe von Schloss zu Schloss, immer in der Hoffnung, dass sie und Anton von Bourbon sich treffen könnten.
1551 gebar sie ihren ersten Sohn und gab ihn an Aymée de Lafayette, die sie selbst erzogen hatte. Ob nun Frau de Lafayette alt oder übervorsichtig geworden war, der kleine Herzog von Beaumont starb als Kleinkind, angeblich weil er von Wärme erstickt worden sei.
Bald wurde Jeanne wieder schwanger, und während ihr ältester Sohn in Nordfrankreich geboren war, sollte das zweite Kind in Béarn zu Welt kommen. Sie unternahm die lange Reise nach Süden und kam gerade rechtzeitig in Pau an, 14 Tage bevor sie von ihrem zweiten Sohn, Heinrich, auf dem Schloss in Pau entbunden wurde. Es wurde entschieden, dass dieser Junge in Pau bleiben sollte. Der Großvater, Heinrich d´Albret, wollte wahrscheinlich mit diesem kleinen Prinzen die Erbfolge in Béarn und Navarra sichern. Die Legenden von der rauen Erziehung Heinrichs seitens des Großvaters können jedoch nicht wahr sein, allein weil das Kind die ersten Jahre von Ammen betreut wurde, und der Großvater starb, als es zwei Jahre alt war. Es scheint in Béarn Sitte gewesen zu sein, die Lippen des Täuflings mit Rotwein und Knoblauch einzureiben, eine Taufe à la Gascogne, aber die Mär, dass Heinrich barfuß unter den Hirten in den Bergen aufgewachsen sein soll, ist reine Legende. Der spätere Hauslehrer Heinrichs, Palma Cayet, schrieb, als Heinrich schon König von Frankreich war, seine Biographie, und daher stammt der Bericht vom Opa und von seiner rauen Erziehung. Dieser Kindheitsbericht ist eher Propaganda des Königs, wie er gerne gesehen werden möchte.
Tatsächlich kam Heinrich in die Obhut der Familie de Miossens, die auf dem Schloss Coarraze wohnte. Die Frau, Suzanne de Bourbon-Miossens, war eine Cousine von Jeanne. Heinrich wurde demnach genau wie seine Mutter als Landadliger erzogen, und er wuchs in einer Familie mit anderen Söhnen auf, die als Erwachsene seine Gefolgsleute werden sollten. Als seine Mutter den Thron erbte, wurde er schon als Kleinkind als Kronprinz behandelt.
Die zwei Jahre zwischen Heinrichs Geburt 1553 und ihre Thronbesteigung 1555 verbrachte Jeanne wiederum in Nordfrankreich in der Nähe ihres Gatten. In dieser Zeit gebar sie einen dritten Jungen, der jedoch nicht lange lebte. Es muss hinzugefügt werden, dass Anton von Bourbon 1554 einen außerehelichen Sohn, Karl von Bourbon, mit einer Hofdame bekam. Jeanne hatte bereits mehrere Onkel, die illegitim waren, und sie scheint den kleinen Karl in ihrer Familie aufgenommen zu haben. Er wurde später Erzbischof von Rouen.
Erst als der Vater gestorben war, zog sie als Königin nach Pau und obwohl sie die Erbin war, ließ sich ihr Mann als König huldigen, was die Ständeversammlung eigentlich gar nicht wollte, dennoch ordneten sie sich dem Willen Jeannes unter.
Königin an der Seite von Anton von Bourbon (1555–1560)
Ihr Vater hatte Jeanne ein blühendes Land hinterlassen. Er hatte Industrien nach Béarn geholt, das Steuersystem effektiv gestaltet und für den religiösen Frieden gesorgt. Große Einkünfte entstanden auch durch seine Posten als Gouverneur und Admiral der französischen Krone in Guyenne. Anton von Bourbon bekam diese Posten nach seinem verstorbenen Schwiegervater, und später hat sein Sohn, Heinrich von Navarra, sie übernommen. Jeanne und Antoine standen als die größten Grundbesitzer Südwestfrankreichs finanziell sehr gut da.
1555 find Calvin seine missionarische Tätigkeit in Frankreich an. Reformierte gab es in Südwestfrankreich zu diesem Zeitpunkt längst, weil Margareta von Navarra sie mit Predigern unterstützt hatte und Gérard Roussel, einen Reformkatholiken, als Bischof in Orthez, eingesetzt hatte. Dieser Roussel war einmal Weggefährte Calvins gewesen, und dieser warf ihm vor, nicht konsequent genug zu sein, als er die Stelle als katholischer Bischof trotz seiner reformatorischen Sympathien annahm (CStA I,1).
Als Königin hatte Jeanne bei ihrer Krönung versprechen müssen, die katholische Religion zu verteidigen. Am selben Tag, nachdem sie diesen feierlichen Eid abgelegt hatte, schrieb sie an einen Vasallen, dem vicomte von Gourdon, und erzählte ihm, sie wolle über die Förderung des reformierten Glaubens im kleinem Kreis heimlich beraten. Dieser Brief ist Teil eines Briefwechsels mit zwei vicomtes de Gourdon, Vater und Sohn, die die gesamte Regierungszeit Jeannes überdauerte. Die Briefsammlung wurde im vorigen Jahrhundert entdeckt und gibt viele neue Einsichten in die Vorhaben und die Beweggründe Jeannes. Da die entdeckten Briefe uns nur als teilweise fehlerhafte Kopien vorliegen, haben viele Forscher die Briefe als Fälschungen abgetan (Text und Diskussion bei Bryson).
Der erste Brief vom August 1555 teilt uns mit, dass Jeanne schon zu diesem Zeitpunkt reformierte Sympathien deutlich aussprach. Sie schrieb dem vicomte, dass ihre Mutter sich zwischen den zwei Religionen nicht habe entscheiden können, und dass sie selbst aus Furcht vor ihrem Vater bislang nicht gewagt habe, sich offen zum Protestantismus zu bekennen. Das Edikt von Chateaubriant von 1551 verbot eindeutig jede „Ketzerei“ und deshalb schlug sie vor, die Reformierten sollten sich heimlich auf dem Schloss Odos treffen.
Es gibt sonst keine Quellen, die belegen könnten, dass Jeanne mit dem reformierten Glauben in Berührung kam. Es gab in ganz Frankreich zu der Zeit kleine zerstreute Gemeinden, sowie Prediger und Kolporteure, die reformatorische Bücher schmuggelten. Die wiederholten Verbote des Königs konnten das nicht unterbinden, sie führten nur dazu, dass Protestanten, wie Jeanne, sich heimlich treffen mussten.
In den Jahren nach 1555 verbreitete sich der reformierte Glaube mehr und mehr im Hochadel. Auch Anton von Bourbon wurde davon ergriffen, brachte reformierte Prediger nach Béarn und als er und Jeanne 1558 mit Heinrich nach Paris zogen, nahm er an großen psalmensingenden Demonstrationen außerhalb der Stadtmauern von Paris teil. Calvin war darüber hoch erfreut, denn er setzte in seiner Missionsarbeit gerne auf hochrangige Persönlichkeiten. Jeanne dagegen verhielt sich während dieser Zeit bedeckt.
In Paris kam sie mit ihrem vierten Kind, einer Tochter namens Katharina, nieder. Das kleine Mädchen war das einzige Kind, das bei Jeanne aufwachsen durfte, obwohl sie (natürlich) Erzieherinnen und Gouvernanten hatte.
Anton von Bourbon fiel nicht nur mit protestantischen Sympathien auf, sondern wie sein Schwiegervater versuchte er, den spanischen Teil von Navarra zurückzugewinnen. Heinrich d´Albret hatte seinen Besitz gut und gewinnbringend regiert, während Anton von Bourbon seiner Frau die Regierungsgeschäfte überließ, und selbst nur versuchte, ein größeres Königsreich für sich zu gewinnen. So konnte der spanische König Philipp ihm einen Tausch, erst mit dem Herzogtum Milano und später mit Sardinien, anbieten. Damit hätte Spanien den Sprung über die Pyrenäen geschafft und Südfrankreich bedrohen können. Wir würden solches Taktieren mit dem Feind Hochverrat nennen, damals räumte man freilich Adligen große Freiheiten ein, sich einen Herren auszusuchen, aber Anton von Bourbon wurde auch von den Zeitgenossen als unzuverlässig und unverantwortlich angesehen, und nicht zuletzt war er so politisch ungeschickt, dass es an Dummheit grenzte (Sutherland 1984).
Im Sommer 1559 starb Heinrich II. von Frankreich unerwartet. Sein Sohn Franz II. folgte ihm als nur fünfzehnjähriger Knabe auf dem Thron. In dieser Situation war die traditionelle Lösung, dass der erste erwachsene Erbprinz, Anton von Bourbon, ihn unterstützen sollte, und Calvin ermahnte ihn eindringlich, dieses Amt zu übernehmen und dabei den Hugenotten zu helfen. Anton von Bourbon verspielte diese Chance und überließ die Regierungsgeschäfte der Familie von Guise, besonders dem Herzog von Guise und dem Kardinal von Lorraine, die beide die antiketzerische Politik des verstorbenen Königs weiterführen wollten. Nach dem Tod Heinrichs II. bekannten sich mehrere hochrangige Adlige offen zum Protestantismus und es gab im März 1560 sogar einen hugenottischen Komplott, den König zu entführen und von seinen „schlechten Ratgebern“ zu trennen. Anton von Bourbon und sein jüngerer Bruder, der Prinz von Condé, beide notorische Reformierte, wurden wegen diesem Angriff auf den König angeklagt. Anton von Bourbon versprach Besserung, während sein Bruder, der Prinz Ludwig von Condé zum Tode verurteilt wurde. Nur der plötzliche Tod des jungen Königs rettete ihn vor der Hinrichtung. Da der neue König, Karl IX., ein zehnjähriges Kind war, brauchte Frankreich einen Regenten, nämlich den ranghöchsten Erbprinz Anton von Bourbon. Wiederum ergriff dieser nicht die Chance. Katharina von Medici ließ sich stattdessen als Regentin einsetzen und Anton von Bourbon wurde zum Generalstatthalter ernannt. Die Hugenotten mit Calvin an der Spitze waren zutiefst enttäuscht. In diesen Jahren hatte der reformierte Glaube großen Zulauf, es wurde von mehreren Tausend Gottesdienstbesuchern überall in Frankreich berichtet, von Abendmahlgottesdiensten, die zwei Tage dauerten und von Bekehrungen am Hof und im Hochadel.
1560 verließ Jeanne Paris, um zurück nach Pau zu fahren. Theodorus Beza, der engste Mitarbeiter Calvins, besuchte sie dort, und es entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit, die bis Jeannes Tod dauerte. Beza versorgte sie mit Predigern und Beratern für ihr Land. Im Dezember 1560 unternahm Jeanne den entscheidenden Schritt und bekehrte sich öffentlich zum reformierten Glauben. Während ihr Gatte nicht in der Lage war, sich an die Spitze der Hugenotten zu setzen, wurde sie jetzt die leitende Hugenottin in Frankreich.
Reformierte Königin (1560–1568)
Jeanne d´Albret war zweifelsohne eine tief religiöse Frau. Lange Zeit hatte sie äußerste Diskretion walten lassen, zwar mit ihrem Gatten reformierte Prediger gehört, aber sich niemals offen zum reformierten Glauben bekannt. Erst nachdem Anton von Bourbon sich mit dem Posten als lieutenant générale abgefunden hatte, kam sie aus der Deckung.
Es war eine Zeit, wo alle große Hoffnungen bzw. Ängste für den Protestantismus in Frankreich hegten. Drei wichtige Katholiken – der Herzog von Guise, der Konstabel von Montmorency und der Marschall St. André – schlossen sich zusammen, um Frankreich gegen die Reformierten zu schützen. Sie planten den Sturz von Anton von Bourbon und einen Angriff auf Genf mit der Hilfe des Herzogs von Savoyen, zu dessen Besitz Genf bis 1534 gehört hatte. Dieses Triumvirat war der erste Vorbote der katholischen Liga, die später Heinrich IV. hartnäckig bekämpfte (Sutherland 1973).
1560 war noch zu erwarten, dass der Protestantismus nach Frankreich gekommen war, um zu bleiben. Jeanne war sich sehr bewusst, welche Gefahren ihr von Spanien, vom Papst und von der mächtigen Familie von Guise drohten. Sie hatte noch die Hoffnung, dass der junge König Karl IX., Katharina von Medici und ihr Kanzler, der tolerante Michel de l´Hôpital, die Reformierten unterstützen würden, zumal die Königinmutter sich selbst von denen von Guise bedrängt fühlte.
Diese letzte Hoffnung erwies sich als trügerisch, aber niemals wich Jeanne später vom einmal eingeschlagenen Kurs ab. Sie konnte weder geldwerte Vorteile noch politisches Kapital aus ihren Glauben schlagen, dafür hielt sie konsequent an ihrer Überzeugung fest.
In Béarn machte sie erste vorsichtige Schritte, um das Land zu reformieren. Es gab schon Reformierte dort, und Prediger hatten angefangen, den neuen Glauben zu verbreiten, Jeanne aber träumte von einem reformierten Land, und fing langsam und vorsichtig an, diesen Traum zu verwirklichen.
Der erste Schritt war, den reformierten Glauben dem Katholizismus rechtlich gleich zu stellen. Die Kirchen wurden für beide Religionen geöffnet (das sogenannte simultaneum) und aus den Kirchen in Lescar und Pau wurden Bilder und Statuen entfernt, allerdings nicht in Form eines Bildersturms, sondern von den Behörden. Jeanne beschlagnahmte das kirchliche Vermögen nicht für sich selbst, sondern investierte es in Sozialfürsorge und Bildung.
Es ist klar, dass sie den reformierten Glauben einführen wollte, aber zu keinem Zeitpunkt vefolgte sie Andersgläubige, geschweige denn verbrannte sie. Immer setzte sie auf Überredung.
Im August 1561 begab sie sich wieder zum Hof. Überall wurde sie stürmisch von Hugenotten begrüßt, als ob sie „der Messias sei“, bemerkte verärgert der spanische Gesandte. Katharina von Medici hatte zu einem Religionsgespräch eingeladen. Dieses Gespräch fand in Poissy außerhalb Paris statt. Seitens der Krone war gewiss an eine Versöhnung oder gar einen Ausgleich zwischen den Religionen gedacht, die reformierten Teilnehmer mit Beza an der Spitze mochten jedoch keine Kompromisse eingehen. Beza wurde unterstützt von Calvin in Genf, der selbst zu krank war, um mitzukommen. Calvin war mit den Auftritten und Reden Bezas zufrieden, während z.B. der Admiral Coligny Beza als reichlich provokant wahrnahm.
Im Herbst 1562 blieb Jeanne mit ihren Kindern beim Hofe. Katharina von Medici suchte auch nach den Religionsgesprächen eine Übereinkunft mit den Protestanten, was in dem Edikt vom 17. Januar 1562 – auch Edikt von St. Germain genannt – gipfelte. Dieses Edikt, an dem der Kanzler Michel de l´Hôpital und Beza beteiligt waren, erlaubte es den Hugenotten, außerhalb der Städte Gottesdienste zu halten. Es war das günstigste Edikt, das sie jemals erlangen sollten, das Edikt von Nantes 1598 war ihm sehr ähnlich, aber nicht ganz so großzügig. Der Unterschied war, dass Heinrich IV. dafür sorgte, dass das Edikt von Nantes durchgeführt wurde, während alle frühere Edikte, so wohlgemeint sie auf dem Papier auch waren, von katholischen Behörden unterlaufen wurden, und der König zu schwach war, um für ihre Durchführung zu sorgen.
Im März 1562 massakrierte der Herzog von Guise eine reformierte Gemeinde, die innerhalb des Städtchens Wassy Gottesdienst feierte. Damit war die Versöhnungspolitik Katharinas von Medici gescheitert. Die Hugenotten unter dem Prinzen von Condé griffen zu den Waffen und Anton von Bourbon bat Jeanne den Hof zu verlassen. Er behielt seinen Sohn Heinrich bei sich, entließ aber dessen hugenottischen Hauslehrer. Jeanne beschwor ihren Sohn, nicht zur Messe zu gehen, und der junge Prinz hielt sich wohl auch ein paar Wochen daran, musste sich aber schließlich fügen. Nach ihrem Fortgang vom Hofe trat Jeanne eine monatelange abenteuerliche Reise durch Frankreich an, so gefährlich, dass die ersten Briefen von der Hand Heinrichs seine Ängste um seine Mutter bezeugen. Ihre kleine Tochter Katharina durfte sie behalten.
Im ersten Religionskrieg führte Anton von Bourbon die königlichen katholischen Truppen gegen die Hugenotten. Bei der Belagerung von Rouen wurde er verwundet und starb am 17. November. Der junge Heinrich blieb am Hofe in der Obhut Katharinas von Medici, die allerdings Jeanne gestattete, ihm wieder reformierte Hauslehrer zu geben. Sie sollte ihn erst 1564 wiedersehen.
Die Kirche in Béarn und Navarra
Ihre große Aufgabe sah Jeanne darin, die Reformation in Béarn durchzuführen.
Calvin stellte ihr Jean Raymond Merlin zur Seite, den früheren Professor für Hebräisch in Lausanne, wo er Kollege von Beza, dem Professor für Griechisch, und von Pierre Viret, dem Rektor der Akademie, gewesen war. Pierre Viret arbeitete nach seiner Zeit in Lausanne und Genf vor allem in Frankreich, besonders in den Kirchen von Lyons und Nîmes. Später sollte er für Jeanne d´Albret ihre Akademie in Orthez aufbauen. Merlin war übrigens mit einer Tochter von Marie Dentière verheiratet, derjenigen, die vor Jahren Jeanne eine selbstgeschriebene hebräische Grammatik zugesandt hatte (vgl. Graesslé13f.; Nielsen).
Merlin ging voll Eifer an die Aufgabe, eine reformierte Kirche in Béarn aufzubauen. Es gab viele Reformierte in Südfrankreich, aber meistens unter städtischen Eliten und Handwerkern. Die Reformierten waren meistens des Lesens fähig, vor allem des Lesen französischer Texte. In Südwestfrankreich sprach die Bevölkerung die langue d´oc, die alte oczitanische Sprache, in irgendeiner Form. Die Gascogne hatte ihre Sprache, in der ein Neues Testament und fünfzig Psalmen übersetzt wurden, und Béarn hatte béarnais sogar als Amtssprache. Hinzu kam, dass die Bevölkerung in Navarra Baskisch sprach. Wenn Merlin das ganze Land reformieren sollte, musste er diese Sprachbarrieren überwinden, denn die Landbevölkerung musste erreicht und für die Reformation gewonnen werden.
Jeanne d´Albret beauftragte eine Übersetzung des Neuen Testaments ins Baskische, und eine Übertragung der Psalmen, der Zehn Gebote, der Liturgie und des Katechismus Calvins in die Sprache Béarns. Der Anwalt, später Pastor, Arnaud de la Salette, stellte 1571 diese Übersetzung fertig, und obwohl sie erst 1583 gedruckt wurde, darf man annehmen, dass in der Zwischenzeit Manuskriptkopien verwendet wurden. Pastoren, die die béarnesische oder die baskische Sprache beherrschten, wurde händeringend gesucht, und von den Anderen wurde ausdrücklich verlangt, dass sie es lernen sollten. Katecheten, die vermutlich Landeskinder waren, wurden in die Gemeinden geschickt.
Allmählich verbot Jeanne katholische Riten und Gebräuche, zuerst die Fronleichnamsprozessionen, danach Maibäume und Jahrmärkte. Dann wurde die Messe abgeschafft. Der Dom von Lescar und die Kirche St. Martin in Pau wurden leergeräumt, und die dort befindlichen Schätze verkauft.
Für Merlin konnte dies nicht schnell genug gehen. In seinen Briefen an Calvin klagte er seine Not: die Bevölkerung sei stur – diese Holzköpfe! - und die Königin zu langsam und vorsichtig (CO 20, Nr. 3988 & Nr. 4061). Merlin hatte übrigens auch früher in Montargis Probleme mit Renée de France gehabt, Herzogin von Ferrara, die in ihrem Gebiet so vorsichtig war wie Jeanne in Béarn (vgl. Lambin, 2). Jeanne bekam Klagen auf der jährlichen Ständeversammlung, wo die Katholiken über den Verlust alter Freiheiten und Rechte klagten. In den sechziger Jahren musste sie mehrmals Aufstände niederschlagen.
Der Nachfolger für Merlin war Pierre Viret, der enge Freund Calvins. Er war Pastor und Rektor für die Akademie in Lausanne – mit Beza und Merlin als Kollegen – gewesen. Wegen eines Streits mit dem Stadtrat in Bern, übersiedelten 1559 alle Professoren nach Genf, um dort in der neu errichteten Akademie zu unterrichten. Von Genf begab Viret sich nach Frankreich, wo er in Lyon als Pastor arbeitete, danach leitete er die Nationalsynode in Nîmes und schließlich folgte er dem Ruf nach Béarn. Seine wesentlichste Aufgabe war es, die Akademie in Orthez aufzubauen. Die Fächer Theologie, Hebräisch, Griechisch, Philosophie und Mathematik wurden dort unterrichtet, während es keine Anzeigen für Professuren in Jura und Medizin gibt.
Vor ihrer akademischen Laufbahn absolvierten die Jungen eine fünfjährigen Ausbildung in einer Lateinschule (collège), während die Grundschule sowohl Jungen wie Mädchen unterrichtete, die Mädchen allerdings getrennt mit weiblichen Lehrkräften. Damit wurde das kleine Béarn das erste Land Europas, welches kostenlosen Unterricht für Mädchen zusicherte, und zwar mit der interessanten Begründung, dass sie so im Stande waren, ihr Brot zu verdienen und sich der Gesellschaft nützlich zu machen („Pareil rolle sera aussy faict des filles qui sont en bas aage et qui n´ont nul moyen de vivre et de s´entretenir, par toutes les églises, afin que de mesmes deniers et en écolle séparée elles soient enseignées, nourries et tenues par des femmes sages et pudiques, par leur industrie pouvoir aprés se nourrir et entretenir et servir au public“. Art. 32 der Verfassung der Akademie von 1566, zitiert nach Desplat 2004). Desplat unterstreicht die säkulare Ausrichtung der Ausbildung. Allgemein wird behauptet, der Zweck des Unterrichts in protestantischen Ländern sei, die Bevölkerung des Lesens der Bibel und des Katechismus zu befähigen. Hier werden nur die Vorteile eines Schulunterrichts für die Gesellschaft betont.
Die Akademie wurde 1566 geöffnet. Die ersten protestantischen Akademiegründungen in Frankreich fanden in Nîmes (1562) und Montpellier statt. Vorrangiges Ziel war es, die Kirchen mit Pastoren zu versorgen, da die Akademie in Genf die steigende Nachfrage der Gemeinden kaum nachkommen konnte. Da Papst Pius V. die katholischen Universitäten angewiesen hatte, Protestanten die Abschlüsse zu verweigern (Maag 2002, 140), brauchten junge Hugenotten ihre eigenen Universitäten, die dann auch gegründet wurden, vor allem in Leiden und Heidelberg, aber auch in Frankreich und benachbarten Gebieten wie Béarn, Orange und Sedan, die alle zu diesem Zeitpunkt unabhängig waren.
Jeanne hatte sehr gute Gründe, langsam und überlegt vorzugehen. Der Kardinal von Armagnac ließ sie wissen, dass sie die Bevölkerung Béarns in Ruhe lassen sollte, ihre Untertanen wollten ihren Katholizismus nicht aufgeben. Jeanne antwortete, dass sie in Béarn nur Gott über sich habe, dort könne sie ihrem Gewissen folgen, und in ihrem Land werde niemand wegen seines Glaubens verfolgt. Das letzte war ihr ein Anliegen, denn 1571 schrieb sie an ihren Statthalter, den Baron d´Arros, dass in ihrem Land niemand zum Glauben je gezwungen worden war und es auch nicht werden sollte („...intention n´a point esté et n´est encores qu´ilz soyent contraints par force et violence de se reanger à ladite Religion“, d´Aas 2002, 452).
Als sie sich bei der Einführung der Reformation in ihren Ländern unnachgiebig zeigte, zitierte der Papst sie nach Rom zwecks eines Ketzerprozesses. Da sie dieser Einladung nicht folgte, exkommunizierte er sie. Der Bann war eine ernste Bedrohung, da jeder katholische Herrscher jetzt das Recht hatte, ihre Länder an sich zu reißen und sie abzusetzen, eine Chance, die Philipp II. von Spanien sich nicht entgehen lassen würde. Katharina von Medici verteidigte deshalb Jeanne, weil sie keine spanische Präsenz auf der französischen Seite der Pyrenäen dulden wollte. Außerdem war sie eine Verfechterin der gallikanischen Freiheit der französischen Kirche und meinte deshalb, der Papst solle sich nicht in die Angelegenheiten der Kirche einmischen.
Königin der Hugenotten
Nach dem ersten Religionskrieg (1562-63) ließ Katharina von Medici den jungen Karl IX. mündig erklären und führte ihn mit dem Hof auf eine große Frankreichreise, die mehrere Jahre dauerte. Der Zweck dieser Reise war es, den König dem Volk zu zeigen, und damit die Loyalität der Bevölkerung zu erhalten. Jeanne wurde als Vasallin einberufen und stieß Ende Mai 1564 zum Zug in Macon.
Ihr Sohn Heinrich nahm auch Teil an diese Reise und seinetwegen stritten die zwei Königinnen sich, weil Jeanne ihn bei ihren protestantischen Gottesdiensten dabei haben wollte, und Katharina wünschte, dass er mit der königlichen Familie zur Messe gehe. Schließlich sandte Karl IX. Jeanne zu ihrem Besitz in Vendôme, während Heinrich als Gouverneur von Guyenne den Zug begleitete und in den Städten für den feierlichen Empfang des Königs sorgte.
Jeanne durfte nicht mit nach Bayonne, wo Katharina ihrer Tochter Elizabeth, Königin von Spanien, begegnen wollte. Philipp II. sandte als seinen Gesandten den Herzog von Alba, der auf dem Weg in die Niederlande war. Die Hugenotten waren später überzeugt, dass Alba und die Königinmutter in Bayonne ihre Ausrottung geplant hatten. Sicher ist, dass Alba in den Niederlanden mit aller Härte gegen die Protestanten vorging, und es ist durchaus möglich, dass er versuchte, Katharina auf seinen mörderischen Kurs einzustimmen. Schon 1568 – also vor der Bartholomäusnacht! – schrieb Jeanne, dass die Waffen, die gegen die Hugenotten verwendet werden sollten, in Bayonne geschmiedet worden seien (Ample déclaration).
Jeanne und Heinrich trafen sich später in Paris. 1566 ersuchte sie erneut um Erlaubnis, mit ihren beiden Kindern nach Béarn zu fahren, was ausgeschlagen wurde. Sie erhielt aber Erlaubnis, ihren Sohn in seinen französischen Ländereien herumzuführen, und Anfang 1567 reiste sie dann mit ihm nach Vendôme, und von dort setzte sie sich unerlaubt ab nach Béarn. Damit machte sie laut des Biographen Heinrichs, Pierre Babelon, aus einem französischen Prinzen einen Ausländer, und vor allem einen Hugenotten.
Von 1567 an arbeitete Jeanne für die Zukunft ihres Sohnes. Ihre Lebensaufgabe, schrieb sie selbst, sei: Gott, Königtum und ihr Blut. Mit Gott war die reformierte Religion, die wahre Kirche Gottes, gemeint. Mit dem König ihr Status als Vasallin und – trotz Béarn – als Französin, und mit dem „Blut“, die Familie, zuallererst ihr Sohn Heinrich. Er sollte von jetzt an kein Höfling mehr sein, sondern die Aufgaben eines Regenten lernen. Als ein Aufstand in Navarra niedergeschlagen worden war, wurde er dorthin geschickt, um die Basken zu befrieden. Als 14jähriger hielt er für seine Untertanen eine Rede, in welcher er ihr Fehlverhalten geißelte, ihnen die Gunst der Königin zusicherte, falls sie sich verbessern würden, und seinen berühmten Charme mit seinem Autoritätsanspruch verband.
Im Herbst 1567 versuchten die Hugenotten, die sich von der Aufrüstung des Königs bedroht fühlten, Karl IX. in ihre Gewalt zu bringen. Die Entführung missglückte, und die königliche Familie suchte, beschützt von den schweizerischen Söldnern, die die Ängste der Hugenotten verursacht hatten, Zuflucht in Paris. Die Hugenotten belagerten die Stadt. Im November wurden sie vor den Toren von St. Denis geschlagen und mussten sich in die Provinz zurückziehen, wo sie den Kampf bis zum Friedenschluss von Longjumeau im März 1568 fortsetzen.
Der Friedensvertrag war an sich nicht ungünstig für die Hugenotten, nur haperte es wie immer mit der Umsetzung. Katholische Behörden waren über die für die Hugenotten günstigen Bedingungen empört und setzten sie nicht um. Der Protestant La Noue schrieb in seinen Erinnerungen, dass der Krieg zwar viel Unheil bringe, aber dieser elende kleine Friedensvertrag sei viel schlimmer für die Reformierten, die in ihren Häuser umgebracht wurden, ohne dass sie sich zu wehren wagten („ …une guerre est misérable et qu´elle apporte avec soy beaucoup des maux…cette méchante petite paix est beaucoup pire pour ceux de la Réligion, qu´on assassinoit en leur maisons, et ne s´osoyent encores défendre“, d´Aas 2002, 382) Im Laufe des Sommers 1568 versuchten die Gruppierungen noch einmal miteinander zu reden, Karl IX. sandte einen Botschafter nach Béarn, und Jeanne verfasste ein Sendschreiben an den König mit dem Antrag, den Frieden in Guyenne wiederherzustellen.
In der Zwischenzeit fühlten sich der Prinz von Condé und der Admiral Coligny auf ihre Schlösser in Bourgogne zunehmend bedroht. Der Herzog von Alba wollte in den Niederlanden mit Feuer und Schwert den Protestantismus auszurotten, und Flüchtlinge berichteten ihnen von seinem Terror. Am 23. August 1568 flüchteten sie mit ihren Familien und Angehörigen über die Loire nach La Rochelle. Die Überquerung der Loire erinnerte fast an den biblischen Durchzug durchs Schilfmeer: so viele Hugenotten hatten sich angeschlossen, dass der Zug fast wie eine Völkerwanderung aussah, und die Loire hatte in der Augusthitze einen so niedrigen Wasserstand, dass Sandbanken in der Mitte auftauchten. Dementsprechend sangen alle Psalm 114 vom Auszug der Israeliten aus Ägypten, als sie hinüber waren. Die Parallele wurde noch einmal deutlich, als die königlichen Truppen, die sie verfolgten, wegen plötzlich einsetzenden Hochwassers den Fluss nicht überqueren konnten.
In dieser Situation war Jeanne zutiefst gespalten. Bislang hatte sie die Kriege moralisch unterstützt, aber nicht selbst teilgenommen. Falls es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen sollte, konnte sie immer mit ihren Kindern in der uneinnehmbaren Festung Navarrenx Zuflucht suchen. Sie hatte jedoch ihren Sohn, der als zukünftiger Führer der Hugenotten das Kriegshandwerk lernen sollte, und so musste sie wählen, ob sie in Béarn unter ihrem Volk bleiben oder sich den Hugenotten anschließen sollte: „ich hatte den Krieg im Bauch“ schrieb sie danach („J´eu la guerre en mes entrailles“, Ample declaration). Sie setzte den Baron d´Arros als Statthalter ein, und Anfang September begab sie sich in Eilmarsch nach La Rochelle (Cocula 2004). Dort konnte sie ihren Sohn dem Prinzen von Condé überantworten. Sie schrieb unterwegs eine Reihe Briefe an Karl IX., an Katharina von Medici, an ihren Schwager, den Kardinal von Bourbon und an die Königin Elizabeth von England, um ihren Entschluss zu begründen. Angekommen in La Rochelle schrieb sie eine Erklärung („Ample declaration“) um der Öffentlichkeit zu erklären, warum sie sich der hugenottischen Armee zugesellte.
Die Hugenotten unter ihren Anführer aus der königlichen Familie wollten nicht als Aufrührer dastehen. Sie behaupteten, die erzkatholische Partei sei schuld daran, dass königliche Befehle nicht vollzogen wurden. Die Katholiken mit ihren Verbindungen nach Spanien und Rom seien Landesverräter. Die Politik des Kardinals von Lorraine verdient laut Sutherland (1974) keinen anderer Namen. Wenn Jeanne vom Frieden sprach, meinte sie eine Duldung der Hugenotten in Frankreich. Die Forderungen der Hugenotten waren immer dieselbe: Erlaubnis, Gottesdienste zu feiern, Gerichte mit zur Hälfte hugenottischen Richtern, sichere Zufluchtsstädte – deren Anzahl schwankte in den Verhandlungen – und Zugang zu Ausbildung und Beamtenstellen gleichrangig mit den Katholiken. Die Provinz Languedoc unter dem moderat katholischen Gouverneur Montmorency-Damville war ein friedlicher Ort in den Religionskriegen, weil Damville den Hugenotten solche Rechte einräumte, und die katholische Bevölkerung sich damit abfand.
Im März 1569 fand eine Schlacht bei Jarnac statt. Der Prinz von Condé kämpfte mit, wurde verwundet und nach der Schlacht ermordet. Es gelang Admiral Coligny, die hugenottischen Truppen zusammenzuhalten, aber der Verlust des Prinzen war ein herber Schlag. Heinrich von Navarra war jetzt der ranghöchste Prinz, und zusammen mit seinem Vetter, dem gleichaltrigen Heinrich von Condé, wurde er jetzt Oberbefehlshaber über die Armee der Prinzen. In Wirklichkeit lag die Verantwortung für die Kriegsführung bei dem erfahrenen Admiral, und die beiden Prinzen wurden seine Pagen genannt.
Jeanne blieb in La Rochelle, während Coligny mit den Prinzen im Krieg war, und sie konnte, unterstützt von einem Rat adliger Hugenotten, die „Regierungsgeschäfte“ regeln. Sie schrieb an England und nach Deutschland. Sie unterzeichnete Erlässe, versuchte Geld für das Heer aufzutreiben, pfändete ihren schönsten Schmuck für einen Kriegsdarlehen an Elizabeth von England und ließ ein Kriegsschiff namens „Die Hugenottin“ bauen.
So wie sie immer behauptete, nicht gegen den König, sondern gegen seine schlechten Ratgeber zu kämpfen, so behauptete Karl IX., dass sie in La Rochelle von den Hugenotten gefangen gehalten wurde, und er ließ den Baron Terride mit einer „Befreiungsarmee“ in Béarn einfallen. In kürzester Zeit waren ganz Béarn und Navarra erobert und zum Katholizismus zurückgeführt. Nur der Baron d`Arros hielt im Navarrenx stand. Um ihre Länder zurückzuerobern, sandte Jeanne den Graf von Montgommery mit einer „Hilfsarmee“ nach Navarrenx. In noch kürzerer Zeit als Terride gebraucht hatte, verjagte er ihn aus Béarn. Die Befreiung von Terride wurde in Pau mit einem Festgottesdienst gefeiert, wobei Pierre Viret über Psalm 124, 7: „Unsere Seele ist aus dem Netz des Vogelfängers entkommen“ predigte.
Vom Winter 1569 bis zum Frühjahr 1570 führte Coligny sein Heer mit den Prinzen Heinrich von Navarra und Heinrich von Condé durch ganz Südfrankreich und von Provence nach Norden, bis er Paris bedrohte. Der König hatte kein Geld mehr, um Krieg zu führen, und musste notgedrungen Friedensverhandlungen einleiten. Im August 1570 wurde dann der Frieden von St. Germain geschlossen. Wiederum war Jeanne d´Albret diejenige, die auf Augenhöhe mit dem König verhandeln konnte. Der Vertragstext erklärt immer wieder, dass der König die Bedingungen seiner Tante erfüllen wollte (Sutherland 1980, Potter 1997).
Jeanne blieb vorläufig in La Rochelle. Im April 1571 fand dort die Nationalsynode der reformierten Kirchen Frankreichs statt. Theodor Beza kam aus Genf angereist, um die Synode zu leiten. Pierre Viret wollte teilnehmen, starb aber vorher, vermutlich hatte seine Gesundheit in der Gefangenschaft unter Baron Terride gelitten. Auf der Synode wurde das französische Glaubensbekenntnis von 1559 neu verhandelt und die endgültige Fassung als „Bekenntnis von La Rochelle“ beschlossen. Darüber hinaus wurde eine Kirchenordnung für Béarn beschlossen, und die Synode diskutierte Fragen, die Jeanne d´Albret gestellt hatte. Als Ersatz für Pierre Viret bekam sie Nicolas des Gallars zur Seite gestellt. Er war Calvins Sekretär gewesen, danach hatte er die „Strangers´ Church“, die Kirche für Ausländer in London, als Nachfolger für Johannes à Lasco geleitet und dann an Bezas Seite im Colloquium von Poissy 1561 gestanden. Er war Pastor in Orléans gewesen und wurde jetzt Seelsorger für Jeanne d´Albret und ihr theologischer Ratgeber für die Kirche in ihrem Land.
Er war eine gute Wahl, denn während Beza sehr an dem Konzept von Genf hing und ein presbyteriales Kirchenverständnis (Kingdon 1967) hatte, war des Gallars in England gewesen, als Königin Elizabeth nach dem Tod ihrer katholischen Schwester die anglikanische Kirche einführte. Außerdem behauptet Bernard Roussel (2004), dass er das Buch Martin Bucers „De regno Christi“ von 1550 mitbrachte. Dieses Buch ist dem englischen König Edward VI. gewidmet und beschreibt, wie ein König eine reformierte Kirche leiten kann. Damit hatte des Gallars ein Konzept für eine von einer Fürstin geleitete Kirche, die dann in den Jahren als Heinrich und Katharina von Navarra das Erbe der Mutter verwalteten, Bestand hatte.
Während Jeanne in La Rochelle noch weilte, ereilte sie ein Angebot von Katharina von Medici, ob ihren Sohn Heinrich die Tochter Katharinas heiraten mochte. Hugenotten und Katholiken würden sich versöhnen und die Häuser Valois und Bourbon sich nahekommen. Dieses Angebot war zu verlockend, um es auszuschlagen, aber Jeanne traute Katharina nicht so recht, jedenfalls wollte sie nicht gleich nach Paris ziehen, um über die Ehe zu verhandeln.
Stattdessen fuhr sie nach Pau zurück, führte die neu beschlossene Kirchenordnung ein und kümmerte sich um ihre Länder. Die Tuberkulose machte sich bemerkbar und sie wollte zur Kur in die Bergen fahren. Währenddessen zogen sich die Eheverhandlungen hin, bis Jeanne endlich im Frühjahr 1572 nach Paris zog. In den Briefen an ihren Sohn hört man von den Verhandlungen, von ihrer Missbilligung des höfischen Lebens und von ihrem Ärger mit Katharina. Jeanne wollte so viele Rechte wie möglich für ihren Sohn und die Hugenotten aushandeln. Am Ende musste sie es aufgeben, Margareta von Valois, Margot genannt, zum reformierten Glauben zu bekehren. Dafür hoffte sie aber, dass das Brautpaar nach Béarn ziehen würde. Eine königliche Mischehe war etwas ganz Neues und musste in Detail besprochen und geplant werden. Jeanne handelte das Meistmögliche für ihren Sohn aus und im April 1572 wurde eine Einigung erzielt. Heinrich sollte allerdings noch eine Weile in Béarn bleiben und Jeanne bereitete in Paris die Hochzeit vor.
Die zähen Verhandlungen im Frühjahr hatten viel Kraft gekostet, Jeanne hielt sich aber tapfer. Im Juni brach sie zusammen und starb am 9. Juni an der Tuberkulose, die sie seit Jahren geplagt hatte. Später entstanden Gerüchte, sie sei von Katharina von Medici vergiftet worden. Diese sollte ihr ein Paar Handschuhe, die von ihrem privaten Giftmischer präpariert worden seien, geschenkt haben. Da Katharina nach den Massakern von St. Bartholomäus, die in der Periode von August bis November 1572 stattfanden, von den Hugenotten als der Inbegriff des Bösen dargestellt wurde, gehört der Giftmord an Jeanne d´Albret zu den Verleumdungen.
Heinrich traf erst etwas später in Paris ein. Im Testament Jeannes hatte sie sich gewünscht, in Béarn bei ihrem Vater beerdigt zu werden. Ihr Sohn setzte sich über ihren letzten Willen hinweg: sie wurde nach Vendôme geführt und neben ihrem Mann, Anton von Bourbon, bestattet.
Trotz ihre Fähigkeiten wurde sie eine Fußnote in der Geschichte Frankreichs: ihr Sohn wurde zwar als Heinrich IV. König von Frankreich, aber er wurde katholisch und aus den Hugenotten wurde, dank des Ediktes von Nantes 1598, eine geduldete Minderheit. Die Kirche, die Jeanne in Béarn aufgebaut hatte, wurde unter ihrem Enkelsohn, Ludwig XIII., verboten. 1685 wurde dann das Edikt von Nantes aufgehoben, und die Reformierten wurden grausam verfolgt. Viele flüchteten, viele konvertierten und viele wurden umgebracht. Die großen Hoffnungen, die die Hugenotten um Jahr 1560, als Jeanne konvertierte, hegten, erwiesen sich als trügerisch.
Wenn auch letztlich nicht erfolgreich, war sie dennoch bewundernswert. Mit dem Admiral Coligny zusammen hatte sie den Frieden von St. Germain errungen, dann eine Landeskirche aufgebaut und ihre Kinder gefördert. Sie war die reformierte Präsenz in der königlichen Familie und in ihren letzten Jahren wurde sie die Königin der Hugenotten.
Stammtafeln der Familie von Valois und der Familie von Bourbon (PDF)
Literatur
Quellen:
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Judika: Markus 10, 35-40 – das geistliche Reich Christi und menschliche Luftschlösser
von Johannes Calvin
Markus 10, 35-40
35 Da gingen zu ihm Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus , und sprachen: Meister, wir wollen, daß du uns tuest, was wir dich bitten werden. 36 Er sprach zu ihnen: Was wollt ihr, daß ich euch tue? 37 Sie sprachen zu ihm: Gib uns, daß wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit. 38 Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr wißt nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde? 39 Sie sprachen zu ihm: Ja, das können wir. Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr werdet zwar den Kelch trinken, den ich trinke, und getauft werden mit der Taufe, mit der ich getauft werde; 40 zu sitzen aber zu meiner Rechten und zu meiner Linken steht mir nicht zu euch zu geben, sondern welchen es bereitet ist.
Diese Geschichte ist ein wunderbarer Spiegel menschlicher Eitelkeit. Sie zeigt, daß auch in rechtem, frommem Eifer oft Ehrgeiz oder ein anderer Fehler des Fleisches stecken kann, so daß die Nachfolger Christi ganz anderswohin schauen, als sie sollten. Wir irren völlig vom Ziel ab, wenn wir uns nicht an ihm, dem Einen, genügen lassen und außer ihm und seinen Verheißungen nach diesem und jenem suchen. Es genügt nicht, wenn wir nur am Anfang unser Herz in Einfalt Christus anheimgeben, wenn diese Lauterkeit nicht bleibt, da uns oft mitten auf dem Wege böse Neigungen entgegentreten und uns auf Abwege führen. Man kann bestimmt annehmen, daß die beiden Zebedaiden Christus am Anfang mit aufrichtigem Herzen anhingen; aber sobald sie merkten, daß sie bei ihm eine besondere Gunst genossen, und von der nahen Herrschaft hörten, lassen sie sich sofort zu verkehrten Wünschen hinreißen und wollen nicht mehr bei ihrer Pflicht bleiben. Wenn das aber schon bei diesen zwei besten Jüngern vorkommt, wie sorgfältig müssen dann wir erst auf unseren Weg achten, wenn wir nicht aus der Richtung kommen wollen. Wir müssen bei jeder sich bietenden entsprechenden Gelegenheit uns davor hüten, daß nicht die Suche nach Ruhm unsere fromme Gesinnung beeinträchtigt. Obgleich Matthäus und Markus den Worten nach in manchem auseinanderweichen, stimmen sie doch in dem Hauptgedanken überein. Matthäus erzählt, die Frau des Zebedäus sei gekommen und habe für ihre Söhne gebeten, im Reich Christi die ersten Plätze einnehmen zu dürfen. Markus läßt die beiden Jünger selber fragen. Wahrscheinlich haben sie klugerweise ihre Mutter vorgeschoben, da diese kühner zu bitten wagte, während sie selbst die Scheu zurückhielt. Daß die Bitte jedoch von ihnen ausging, zeigt sich daran, daß Christus ihnen und nicht ihrer Mutter antwortet. Indem die Mutter durch ihren Kniefall zu verstehen gibt, daß sie etwas erbitten wolle, bevor sie noch ihr Anliegen ausspricht, oder, nach der Version des Markus, indem die Jünger selbst Christus ganz allgemein zu bewegen suchen, er möge ihnen alles erfüllen, was sie von ihm erbitten würden, zeigen sie an dieser zurückhaltenden Einleitung ihr schlechtcs Gewissen.
Matth. 20, 21. „Laß diese meine zwei Söhne sitzen in deinem Reich.“ Immerhin ist an den Zebedaiden zu loben, daß sie auf ein Reich Christi hoffen, obwohl sich damals nicht einmal der geringste Schatten davon abzeichnete. Sic sehen ihn nur als Verachteten, als den Menschen in der niedrigen Knechtsgestalt, sie beobachten auch, wie die Welt auf ihn herabsieht und ihn schmäht. Trotzdem sind sie davon überzeugt, daß Christus in kurzer Zeit ein herrliches Reich aufrichten werde, weil er es sie so gelehrt hatte. Es ist ein eindrückliches Beispiel für Glauben, und doch sehen wir hier, wie leicht der gute Same, sobald er in unsere Herzen gesät ist, verdirbt; sie stellten sich nämlich ein vergängliches Königreich vor und ließen sich bald von ihrer Torheit dahin bringen, daß sie dort die ersten Plätze für sich beanspruchten. Auf dem Untergrund eines recht lobenswerten Glaubens war also diese falsche Begierde entstanden; darum müssen wir den Herrn nicht nur bitten, daß er uns die Augen öffnet, sondern auch, daß er uns beständig leitet und unsere Augen auf das rechte Ziel gerichtet hält. Wir müssen ihn nicht nur um Glauben bitten, sondern auch, daß er ihn von allem rein erhält, was nicht zu ihm paßt.
Matth. 20, 22. „Ihr wißt nicht, was ihr bittet.“ Aus einem doppelten Grund war ihre Unwissenheit zu verurteilen. Einmal erstrebten sie in ihrem Ehrgeiz mehr, als ihnen zustand; und zum andern hatten sie sich aus dem himmlischen Reich Christi ein Luftschloß gebaut. Was das erste angeht, so überschreitet jeder seine Grenzen, der nicht damit zufrieden ist, daß Gott ihn aus Gnade zu seinem Kind angenommen hat, und noch höher hinaus will; er ist in seiner Unbescheidenheit undankbar gegen Gott. Schon das ist völlig unangemessen, das geistliche Reich Christi nach dem Maß unseres Fleisches einzuschätzen. Und je mehr solche müßigen Hirngespinste dem menschlichen Geist behagen, um so mehr müssen wir uns davor hüten. Wir sehen ja auch, daß die Bücher der Scholastiker voll sind von solchen trügerischen Gaukeleien.
„Könnt ihr den Kelch trinken?“ Um den Ehrgeiz der beiden Jünger zurechtzuweisen und sie von ihrem verkehrten Wunsch abzubringen, stellt Christus ihnen das Kreuz und alle Drangsale vor Augen, die die Kinder Gottes auf sich nehmen müssen. Er wollte sagen: Habt ihr etwa schon soviel freie Zeit von dem gegenwärtigen Kriegsdienst, daß ihr euch jetzt schon mit der Ordnung des Triumphzuges befassen könnt? Wenn sie nämlich den Aufgaben ihrer Berufung nachgekommen wären, hätten sie nie auf solch einen verschrobenen Einfall kommen können. Christus will also mit diesem Satz alle, die vor der Zeit nach der Siegespalme greifen, zum Nachdenken über die Pflichten ihrer Frömmigkeit bringen. Und mit diesem Zügel wird unsere Ehrsucht sicherlich am besten gezähmt; denn solange wir in der Welt als Fremdlinge leben, ist unsere Lage so, daß dauernd leere Verlockungen auf uns eindringen. Tausend Gefahren umgehen uns; bald greift uns der Feind durch die verschiedensten Hinterhalte an, bald geht er mit offener Gewalt gegen uns vor. Ist ein Mensch nicht mehr als töricht, der sich inmitten so vieler Todesgefahren in scheinbarer Sicherheit mit Genuß einen Triumphzug ausmalt? Der Herr befiehlt zwar den Seinen, sie sollten des Sieges gewiß sein und noch mitten im Tode Triumphlieder singen, da sie sonst keinen Mut hätten, mit Ausdauer zu kämpfen. Aber es ist doch etwas anderes, sich in der von Gott geschenkten Hoffnung auf Belohnung eifrig zum Kampf zu lösten und ihm alle seine Anstrengungen zu widmen, oder den Kampf außer Acht zu lassen und, unbekümmert um den Feind und die Gefahren, sogleich zum Sieg schreiten zu wollen, den wir doch erst zur gegebenen Zeit erwarten sollen. Hinzu kommt, daß diese falsche Voreiligkeit die Menschen meistens von ihrer Berufung ablenkt. Denn je feiger einer im Krieg ist, desto gieriger stürzt er sich auf die Beute; genauso strebt im Reich Christi der am meisten auf den ersten Platz, der hier aller Mühsal und Arbeit aus dem Weg geht. Mit Recht weist Christus also alle, die von eitlem Ruhm erfüllt sind, in ihre Schranken. Die Krone liegt für niemanden bereit, der nicht ehrlich gekämpft hat; und vor allem wird niemand am Leben und an der Herrschaft Christi teilhaben, der nicht vorher auch ein Genosse seiner Leiden und seines Todes gewesen ist. Das Bild von der Taufe ist hier sehr geeignet. Denn durch die Taufe sollen die Gläubigen ja /ur Verleugnung ihrer selbst, zur Kreuzigung des alten Menschen und schließlich zum Tragen des Kreuzes gebracht werden. Bei dem Wort „Kelch“ ist es unsicher, ob der Herr damit auf das Geheimnis des heiligen Mahles angespielt hat; da das Mahl jedoch noch gar nicht eingesetzt war, ist es einfacher, an das Maß der Leiden zu denken, das Gott einem jeden bestimmt hat. Denn da es in seinem Ermessen liegt, jedem einzelnen seine Last aufzuerlegen, so wie ein Hausvater jedem seine Portion zuweist und austeilt, heißt es hier, Gott gebe einen Kelch zu trinken. In diesen Worten liegt übrigens auch ein ungemeiner Trost, der die Bitterkeit des Kreuzes lindern kann, da sich Christus im Leiden mit uns zusammenschließt. Was kann man mehr wünschen, als alles mit dem Sohn Gottes gemeinsam zu haben? Was auf den ersten Blick zum Tod zu führen scheint, muß uns dann zum Heil und zum Leben ausschlagen. Wer also völlig vom Kreuz verschont zu bleiben wünscht und sich sogar seiner Taufe entzieht, wie kann man den noch zu Christi Jüngern rechnen? Denn das bedeutet nichts anderes, als schon die ersten Grundbedingungen des Christseins nicht zu erfüllen. Sooft die Taufe erwähnt wird, sollen wir daran denken, daß wir mit der Bestimmung und dem Ziel getauft sind, daß das Kreuz auf unseren Schultern liege. Wenn Johannes und Jakobus sich so sicher damit großtun, sie seien bereit, den Kelch zu trinken, so zeigen sie damit nur das Selbstvertrauen des Fleisches. Denn solange wir außer Schußweite sind, glauben wir alles zu können. Nicht lange danach hat das klägliche Ende ihre Unbesonnenheit gezeigt. Doch ein Gutes hatten sie an sich, daß sie, als sie vor die Wahl gestellt wurden, sich zum Tragen des Kreuzes bereit erklärten.
Matth. 20, 23. „Meinen Kelch sollt ihr zwar trinken.“ Da sie Jünger waren, mußten sie dem Bild des Meisters ähnlich werden. So kündigt Christus ihnen an, was sie erwarten würde, um sie zur Geduld zu rüsten: und zwar spricht er in der Person der beiden Jünger alle an. Denn wenn auch das Geschick vieler Gläubigen nicht auf Gewalt und blutigen Tod hinausläuft, so ist doch allen gemeinsam, daß sie dem Bild Christi gleich werden müssen (vgl. Paulus in Röm. 8, 29). Darum sind sie ihr Leben lang wie Schafe, die zur Schlachtung bestimmt sind.
Das Sitzen zu meiner Rechten und Linken zu geben steht mir nicht zu. Mit dieser Antwort verringert Christus seine Macht nicht, sondern er erinnert nur daran, daß ihm das Amt vom Vater überhaupt nicht übertragen sei, jedem seinen eigenen, bestimmten Platz im Himmelreich zuzuweisen. Er kam zwar, um all die Seinen zum ewigen Leben zu sammeln; aber es muß uns genügen, daß das durch sein Blut erworbene Erbe auf uns wartet. Inwiefern aber die einen höher stehen als die andern, kommt uns nicht zu zu fragen, und Gott wollte es uns durch Christus auch nicht kundtun, sondern es sollte aufgeschoben bleiben bis zur letzten Offenbarung. Nun verstehen wir, was Christus sagen will. Er spricht hier also gar nicht über seine Macht, sondern möchte nur, daß wir bedenken, wozu er vom Vater gesandt wurde und was in seiner Befugnis Hege. Er unterscheidet also seinen Auftrag zu lehren genau von dem geheimen Ratschluß Gottes. Eine nützliche Ermahnung, damit wir lernen, nüchtern zu sein, und nicht versuchen, in die verborgenen Geheimnisse Gottes einzudringen. Vor allem sollen wir nicht übermäßig neugierig sein, den Zustand im zukünftigen Leben zu erforschen; denn es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden, wenn uns Gott seinem Bild ähnlich machen wird (vgl. 1. Joh. 3, 2). Auf der anderen Seite ist zu beachten, daß diese Stelle nicht eine Gleichheit unter den Kindern Gottes behauptet, nachdem sie in die himmlische Herrlichkeit aufgenommen sind; vielmehr wird jedem einzelnen der Grad an Ehren verheißen, der ihm durch Gottes ewigen Ratschluß bestimmt ist.
Markus 10, 41-45
41 Und da das die Zehn hörten, wurden sie unwillig über Jakobus und Johannes. 42 Da rief Jesus sie zu sich und sprach zu ihnen: Ihr wißt, daß die weltlichen Fürsten ihre Völker niederhalten, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt. 43 Aber so soll es nicht sein unter euch; sondern wer groß sein will unter euch, der sei euer Diener; 44 und wer unter euch will der Erste sein, der sei aller Knecht. 45 Denn auch des Menschen Sohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene und gebe sein Leben zur Erlösung für viele.
Matth. 20, 24. „Da das die Zehn hörten.“ Lukas scheint diesen Streit in eine andere Zeit zu verlegen. Doch wer sein 22. Kapitel sorgfältig betrachtet, wird deutlich sehen, daß dort zu verschiedenen Zeiten gehaltene Redestücke ohne Rücksicht auf ihre zeitliche Reihenfolge zusammengestellt wurden. Der Streit um den Vorrang, den Lukas erwähnt, kann also durchaus auch dadurch entstanden sein, daß die Zebedaiden die ersten Plätze im Reich Christi beanspruchen. Und trotzdem war die Entrüstung der anderen in keiner Weise gerechtfertigt. Denn da Christus bereits die törichte Ehrsucht der beiden scharf getadelt hatte, so daß sie beschämt von ihm weggingen, schadete es ja den übrigen Zehn nicht mehr, daß die beiden sich in ihrer Torheit etwas gewünscht hatten, was sie nicht bekommen konnten. Denn obwohl sie sich zu Recht über den Ehrgeiz der beiden ärgerten hätte ihnen doch ihre Zurückweisung genügen müssen. Aber der Herr will bei dieser Gelegenheit auch die in ihnen verborgene Krankheit aufdecken Keiner von ihnen trat nämlich gern vor einem andern zurück; jeder hegte heimlich bei sich die Hoffnung auf den ersten Platz. So beneideten sie sich untereinander und stritten sich, und eine böse Gier herrschte in allen. Wenn nun schon einfache, geringe Leute diesen Fehler an sich hatten, der bei der geringsten Gelegenheit hervorbrach, wie sehr müssen wir uns dann hüten, wo bei uns genügend Brennstoff vorhanden ist, um das verborgene Feuer zu nähren! So sehen wir wie unter den Mächtigen und Geehrten der Ehrgeiz wuchert und zu hellen Flammen ausschlägt, wenn nicht der Geist der Demut, der aus dem Himmel kommt, den von Natur im Menschen wohnenden Stolz vernichtet.
Matth. 20, 25. „Ihr wißt: Die Fürsten ballen ihre Völker nieder.“ Zuerst wird uns gesagt, daß Christus die Jünger zu sich rief, um ihnen unter Ausschluß der Öffentlichkeit Vorhaltungen zu machen. Daraus schließen wir, daß sie sich über ihre Gier schämten und sich darum nicht offen über ihre beiden Gefährten beklagten; jeder knurrte dafür etwas in sich hinein und erhob sich heimlich über den andern. Übrigens redet Christus nicht allgemein darüber, was für eine tödliche Krankheit die Ehrsucht ist, sondern er erinnert einfach daran, daß nichts törichter sei als sich über nichts zu zanken. Denn er zeigt, daß eine Vorrangstellung, wie sie zur Ursache des Streites unter ihnen geworden war, in seinem Reich gar nicht besteht. Darum täuscht sich jeder, der dieses Wort auf alle Frommen ohne Unterschied ausdehnt; denn Christus lehrt bloß, aufgrund des vorliegenden Falles, daß sich die Apostel nur lächerlich machen, wenn sie sich in der Stellung, die sie haben, über den Grad ihrer Macht oder Ehre streiten, da doch das Lehramt, zu dem sie bestimmt waren, gar nicht mit weltlicher Herrschaft zu vergleichen ist. Ich muß allerdings sagen, daß diese Lehre sowohl für Privatleute wie für Könige und Behörden wichtig ist; denn niemand verdient zur Herde Christ! gezahlt zu werden, der nicht bei dem Meister der Demut soviel gelernt hat, daß er für sich selbst nichts in Anspruch nimmt, sondern sich unterordnet, damit brüderliche Liebe gepflegt werden kann. Die eigentliche Absicht Christi an dieser Stelle ist jedoch, wie schon gesagt, die geistliche Leitung seiner Gemeinde von den weltlichen Herrschaften zu unterscheiden, damit die Apostel nicht auf den Gedanken kämen, Gunsterweisungen, wie sie bei Hof üblich waren, zu verteilen. Denn unter den Vornehmen steigt jeder zu Macht und Einfluß empor, der beim König in Gunst steht. Christus jedoch stellt Hirten über seine Gemeinde, damit sie dienen, nicht damit sie herrschen. So widerlegt sich auch der Irrtum der Wiedertäufer, die die Könige und öffentliche Beamte nicht zu Gottes Gemeinde rechnen, weil Christus behauptet habe, seine Jünger seien anders als sie. Denn wenn hier schon ein Vergleich gezogen wird, dann nicht zwischen Christen und Nichtchristen, sondern zwischen Ämtern. Außerdem hat Christus gar nicht so sehr bestimmte Persönlichkeiten im Auge als die allgemeine Verfassung der Gemeinde. Denn es könnte doch sein, daß ein Besitzer von Ländereien oder ein Herr einer Stadt aufgrund dringender Notwendigkeit zugleich auch ein Lehramt übernimmt. Christus genügte es einfach, hier darüber zu sprechen, was das Apostelamt mit sich bringe und was nicht zu ihm passe. Doch fragt es sich, warum Christus, der doch verschiedene Ordnungen in seiner Gemeinde eingerichtet hat, an dieser Stelle alle Rangunterschiede zurückweist. Denn es sieht hier doch so aus, als wolle er alle herabdrücken oder wenigstens einander gleichstellen, so daß keiner den andern überragt, während die natürlichen Verhältnisse etwas ganz anderes fordern. Wenn Paulus die Leitung der Gemeinde darstellt, so beurteilt er die verschiedenen Ämter so, daß er das Apostelamt dem Hirtenamt voranstellt (vgl. 1. Kor. 12, 28); und ebenso weist er Timotheus und Titus aufgrund ihres klaren göttlichen Auftrages an, gegenüber den andern die führende Stellung zu ergreifen (vgl. z. B. 1. Tim. 5, 19; Tit. 1, 5). Ich meine dazu, daß, genau betrachtet, auch die Könige eigentlich nach Recht und Gesetz nicht herrschen, sondern nur dienen dürften. Doch darin unterscheidet sich gerade das Apostelamt von irdischer Herrschaft, daß Könige und Behörden trotz ihres Dienens nicht daran gehindert werden, auch zu herrschen und mit prächtigem Glanz und Pomp über ihre Untertanen erhaben zu sein. So waren David, Hiskia und andere ihnen ähnliche Könige zwar gern die Diener von jedermann, und doch waren sie mit Zepter, Diadem, Throneswürde und anderen Ehrenzeichen geschmückt. Mit der Leitung der Gemeinde verträgt sich allerdings nichts Derartiges, weil den Hirten von Christus nur aufgetragen ist, daß sie Diener sein sollen, während sie sich des Herrschens zu enthalten haben. Auch das ist bemerkenswert, daß hier weniger von der Gesinnung der Herrschenden als von der Sache selbst die Rede ist. Christus unterscheidet die Apostel vom Stand der Könige, nicht etwa, weil es den Königen erlaubt wäre, sich zu überheben, sondern weil die Stellung der Könige eine ganz andere ist, als sie das Apostelamt mit sich bringt. Während nun also beide Stände demütig sein sollen, müssen die Apostel besonders auf die Form achten, die der Herr für die Leitung seiner Gemeinde gewählt hat. Was den Wortlaut betrifft, so bedeutet der Ausdruck des Matthäus: „Die Mächtigen tun ihren Völkern Gewalt“ dasselbe wie die Worte des Lukas: „Sie werden gnädige Herren genannt“. Christus hätte auch sagen können: Die Könige leben im Überfluß und verfügen über großen Reichtum, so daß sie freigebig damit umgehen können. Denn wenn die Könige auch ihre Macht genießen und sie sie doch lieber auf Schrecken als auf Zustimmung des Volkes gründen, umgeben sie sich gern mit dem Ruhm der Großzügigkeit. Von dieser Gepflogenheit des Wiederausteilens bekamen sie im Hebräischen ihren Namen (Nedibim), denn Steuern und Abgaben bezogen sie nur dazu, um den notwendigen Aufwand für die höfischen Gunsterweisungen zu bestreiten.
Matth. 20, 26. „So soll es nicht sein unter euch.“ Ganz offenbar tadelt Christus mit diesem Wort den törichten Wahn, von dem die Apostel befangen waren. Töricht und falsch träumt ihr von einem Reich, sagt er, vor dem ich nur Abscheu empfinde. Wenn ihr also wirklich mir treue Dienste leisten wollt, dann müßt ihr euch völlig umstellen; jeder von euch soll wetteifern, wie er dem andern dienen kann. Übrigens ist der Befehl Jesu, jeder, der groß sein wolle, müsse ein Diener werden, im übertragenen Sinn zu verstehen. Denn der Ehrgeiz duldet es gar nicht, daß man sich den Brüdern hingibt, geschweige denn sich ihnen unterstellt. Wer nach Ehren strebt, mag zwar knechtisch schmeicheln; aber er hat nichts weniger im Sinn als zu dienen. Die Meinung Christi ist deutlich: Da jeder Mensch in Liebe zu sich selbst gefangen ist, muß dieses Gefühl in eine andere Richtung gelenkt werden. Christus wollte sagen: Eure einzige Größe, Auszeichnung und Würde sei die Unterordnung unter eure Brüder; das soll euer Vorrang sein, daß ihr allen dient.
Matth. 20, 28. „Gleichwie des Menschen Sohn.“ An seinem eigenen Beispiel bestätigt Christus das gerade Gesagte: Er nahm freiwillig Knechtsgcstalt an und erniedrigte sich selbst, wie es auch bei Paulus steht (vgl. Phil. 2, 7). Um noch deutlicher zu zeigen, wie weit er selbst von Größe entfernt ist, erinnert er sie an seinen Tod. Er hätte auch sagen können: Euch, die ich mir auserwählt habe, damit ihr mir die an Ehre Nächsten seid, treibt eine schlimme Herrschsucht. Ich aber, nach dessen Beispiel ihr euer Leben formen sollt, bin nicht gekommen, um mich zu überheben oder mir irgend etwas Königliches anzueignen; vielmehr habe ich zusammen mit der niedrigen, verachteten Gestalt des Fleisches noch die Schmach des Kreuzes auf midi genommen. Man mag einwenden, Christus sei dann vom Vater dazu erhöht worden, damit sich vor ihm jedes Knie beuge. Aber er spricht im Augenblick nur von der Zeit seiner Erniedrigung. Darum wird bei Lukas noch hinzugefügt, er habe unter den Jüngern die Rolle eines Dieners gespielt (vgl. Luk. 22, 27). Damit ist nicht gemeint, daß er ihnen an Aussehen, Rang oder der Sache selbst nach unterlegen war; denn er wollte immer als Meister und Herr von ihnen angesehen werden, sondern daß er aus der himmlischen Herrlichkeit zu einer solchen Bescheidenheit herabgestiegen ist, damit er ihre Schwachheit auf sich nehme. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, daß hier ein Schluß von einem Größeren auf ein Kleineres vorliegt, wie es bei Johannes heißt (13, 14): „Wenn nun ich, euer Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, so sollt ihr auch euch untereinander die Füße waschen."
„Und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele.“ Seinen Tod erwähnt Christus dazu, um die Jünger aus ihrem falschen Traum von einer irdischen Herrschaft aufzuwecken. Zugleich wird klar und richtig die Bedeutung und Frucht dieses Sterbens herausgestellt, wenn Christus erklärt, daß sein Leben der Kaufpreis für unsere Erlösung sei. Daraus folgt, daß unsere Versöhnung mit Gott umsonst geschieht und der Preis dafür nur in Christi Tod zu finden ist. Damit wird mit einem Wort das unsinnige Gerede der Papisten von ihren Genugtuungen abgetan. Da Christus uns durch seinen Tod zum Eigentum erworben hat, nimmt ihm diese seine Erniedrigung nichts von seiner unermeßlichen Herrlichkeit, sondern sie zeigt sie gerade besonders deutlich. Das Wort viele meint nicht eine bestimmte Zahl, sondern die große Menge all derer, denen Christus allein gegenübersteht. So ist das Wort „viele" auch in Röm. 5, 15 zu verstehen, wo Paulus nicht an einen bestimmten Teil der Menschheit, sondern an alle Menschen zusammen denkt.
Aus: Calvin, Auslegung der Heiligen Schrift, Die Evangelienharmonie 2. Teil, Neukirchener Verlag 1974, S. 149ff.
Wir sind verzweifelt, dass wir so vieles nicht ändern können, nicht einmal uns selbst und ohnmächtige Wut verzehrt auch manchmal unser Vertrauen zu dir.