Leiden an Gott, den Nächsten und sich selbst

Zum Sonntag Oculi ('Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist für das Reich Gottes nicht zu gebrauchen.' Lk 9,62)


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Dennis Schönberger

„Du Hüter des Lebens, du weißt, wie leicht unser Herz zerbricht: an der menschlichen Kälte in unsrer Gesellschaft, an der Unbeständigkeit von Liebe und Freundschaft, an den vielen alltäglichen Lügen. Oft fühlen wir uns wie zerschlagen, und ziehen uns in uns selbst zurück. Gott, lass uns deine Nähe spüren, heile den Schmerz der Enttäuschungen, erlöse uns aus der Verlorenheit unseres Lebens. Erbarme dich unser. Amen.“1 (Sylvia Bukowski)

Liebe Gemeinde,

ich lese uns erst den für den heutigen Sonntag Oculi vorgeschlagenen Predigttext vor. Wir sind noch in der Passionszeit. Oculi heißt Augen und erinnert uns an Ps 25,15: „Meine Augen sehen stets auf den HERRN.“ (LÜ) Der Bibeltext stammt aus dem Alten Testament, und stellt uns den Propheten und Menschen Jeremia vor Augen, dessen Gotteserfahrungen zwischen Not und Zuversicht schwanken. Aber sehen wir genauer hin. Ich lese eine Übersetzung2 vor, die in euren Ohren altertümlich klingt, sich dafür aber sehr an die hebräische Sprache anlehnt, die eine sehr ausdrucksstarke, sprich: anschauliche Sprache ist:

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Du hast mich betört, Jahwe,

und ich ließ mich betören,

du bist mir zu stark geworden

und du bist überlegen.

Nun bin ich zum Gelächter geworden den ganzen Tag,

jeder spottet meiner.

Ja, sooft ich rede, muss ich schreien,

„Gewalttat und Unterdrückung“ rufen;

Denn Jahwes Worte wurden mir

zum Schimpf und Hohn den ganzen Tag.

Dachte ich aber: Ich will seiner nicht mehr gedenken

und nicht mehr in seinem Namen reden

da war’s in meinem Herzen wie brennendes Feuer,

verhalten in meinen Gebeinen;

mühte ich mich, es zu ertragen,

ich kann es nicht.

Ich hörte ja das Gerede der Vielen:

„Grauen ringsum!

Zeigt ihn an! Wir wollen ihn anzeigen!“

Alle mir Befreundeten

lauern auf meinen Fall.

„Vielleicht lässt er sich betören,

so können wir ihn überwältigen

und Rache an ihm nehmen.“

Aber Jahwe ist mir wie ein gewaltiger Held.

Darum straucheln meine Verfolger

und gewinnen nicht,

kommen schmählich zu Schanden,

haben keine Einsicht –

Was mich an diesen Worten sofort beeindruckt hat, ist die schonungslos ehrliche Sprache dieses Menschen, die einen tiefen Einblick in seine Gefühlswelt gewährt. Er ringt mit seinem Gott.

Ich werde so verfahren, dass es zu einem Zwiegespräch zwischen uns und Jeremia kommen soll. Weshalb? Weil Jeremias Beziehung zu Gott und seinen Freunden sehr intim ist. Hier wird Tacheles geredet, es wird nichts ausgespart und die Sorgen und Konflikte werden konkret beim Namen genannt. Es wird heftig gestritten und nichts unter den Teppich gekehrt; und das ist gut biblisch, gut jüdisch. Sogar von Rachegelüsten ist die Rede. Im Folgenden teile ich den Text in fünf Szenen:

Szene 1

Der Gott Israels, ein betörendes Feuer. Interessant ist, dass dieser Gott reizend ist. Er provoziert und bezaubert diesen Mann. Kein Widerspruch! Und er: Obwohl er sich schwer tut mit diesem Gott, kann er nicht von ihm lassen, lässt er sich provozieren, ja er lässt sich verführen3. Was für eine vertraute Beziehung. Klingt beinah wie ein Liebesverhältnis. Wir müssen wissen: Dieser Gott hat diesem Menschen befohlen, ehe- und kinderlos zu sein zum Zeichen des kommenden Unheils.4 Wenn wundert es da noch, dass Jeremia zuerst – und völlig mit Recht – klagt. Ein reizender Gott, kein niedlicher Gott. Ein überlegener Gott, aber kein unterlegener Mensch.

Jeremia macht, das ist auffällig, sowohl Gott als auch sich selbst verantwortlich für diese Art der Überwältigung. Klar, sie geht von Gott aus, aber Jeremia lässt sie sich gefallen. Wieso nur? Weil er ein armes Würstchen ist? Der aufgeklärte Zeitgenosse sagt es uns auf den Kopf zu: Der Gott der Bibel wird doch eh nur von Kindern und Alten, von geistig Zurückgebliebenen und von seelisch Geängstigten, sich ihres eigenen Verstandes also nicht bedienen Menschen verehrt. Dieser Satz darf im Kant-Jahr durchaus einmal gewagt werden. Man gewinnt fast den Eindruck, die biblischen Texte sind halt doch Texte von gestern und haben uns entweder wenig, höchstes Historisches oder gar nichts zu sagen. Doch welcher Mensch gesteht sich selbst, dass ein Gott ihn betört hat? Kennt ihr einen Gott, den die Menschen erstaunlich finden, nicht weil er so all-mächtig ist, sondern so menschlich ist? Er lässt sich von einem Menschen wie du und ich auf den Kopf direkt zusagen: Du bist ein Verführer, du hast mich überwältigt, hast mich überfallen und dann von mir verlangt, dass ich niemals eine schöne Ehefrau bekommen und auch keine Familie gründen soll. Und warum diese soziale Benachteiligung? Weil du der wahre Gott bist? Woher weiß ich das? Und falls du es bist: Was nutzt es mir? Was hilft es mir? Bloß Spott und Schande. Für meine Botschaft haben alle anderen nur ein mildes Lächeln übrig – und das ist schon viel. Die meisten behandeln mich mit Häme. Sie halten mich für geisteskrank. Jeden Tag aufs Neue erlebe ich durch sie schwere Demütigungen. Das habe ich dir zu verdanken!

Ja, so dürfen auch wir reden, wenn wir’s mit diesem Gott ernst meinen. Das braucht De-Mut.

Szene 2

Was ist denn hier los? Es kommt von der Klage zur Anklage.5 Das kennen wir schon – Gott auf der Anklagebank des Menschen. Warum ist mir dies geschehen? Und warum wurde jenes nicht verhindert? Das gehört sich doch nicht für einen allwissenden Gott.

Jeremia traut sich, Gott zu belästigen. Seine Botschaft kann er gegenüber seinen Mitmenschen nicht mehr ruhig vortragen, sondern muss schreien, um überhaupt gehört zu werden. Vielleicht wird er von den anderen niedergeschrien. Immer dann, wenn er prophetisch auf Recht und Gerechtigkeit pocht, pochen muss, damit es mit der Gesellschaft nicht den Bach heruntergeht, wird er beschimpft und beleidigt. Da zeigt sich, wie heute, die Empörungsgesellschaft. Heute medial, oft genug versteckt. Unter einem Fake-Profil kann jeder über jeden herziehen, so lange und so oft es ihm oder ihr beliebt. Hetze und Hassreden sind im Netz verbreitet. Sogar deutsche Politiker, Menschen, die gewählt wurden, um unser Land verantwortungsvoll zu regieren, sind entweder auf der Hetzerseite oder die Gehetzten. Menschen mit einem Amt müssen heute ein dickes Fell haben. Bei Jeremia war der Streit wohl noch von Angesicht zu Angesicht, aber es scheint, hinter seinem Rücken reden die Leute über ihn. Wenn er von Gewalt redet, sprechen sie von Frieden und wenn er von Unterdrückung redet, sprechen sie von Freiheit.

Gegensätzlicher geht es kaum. Und dann das bittere Eingeständnis: Die machen mir das Leben so schwer, weil ich dein Wort verkündige. Gottes Wort als Gerichtswort – aber sie wollen lieber selber Richter sein, selber bestimmen, was gut und böse ist, wie Frieden und Freiheit in einer Gesellschaft funktionieren. Hier nun grätscht der Prophet brutal rein und sagt den Leuten direkt ins Gesicht: Was ihr für Frieden haltet, ist in den Augen Gottes Terror. Und was ihr für Freiheit haltet, ist in Wahrheit Abhängigkeit von den Mächtigen. Alexander Nawalny konnte davon ein Lied singen. Wegen dieser Botschaft litt auch Jeremia, schrie er, weinte er, war er fertig, da er fertig gemacht wurde. Hass macht fertig. Wird Zeit, den Hass fertig zu machen.

Szene 3

Nur zu verständlich und auch gar nicht unsympathisch: Wer derart gemobbt wird – wir erfahren gleich von wem –, der hält jetzt besser den Mund. Ja, noch mehr: Der denkt nicht mehr an Gott, nun ja, der tut zumindest so, als ob er nicht mehr an ihn denkt, so als gäbe es ihn gar nicht. Wie hieß er noch gleich: Jahwe! „Ich bin, der ich bin.“ (Ex 3,14) Kann er sich nicht mal verständlich ausdrücken? Was wundere ich mich eigentlich, dass seine Botschaft nur Widerspruch und Hohn erfährt? Der Gott Israels ist einfach eine Nummer zu hoch – nicht nur für mich. Aber nein! Hier fällt sich, das ist gut und das wünsche ich uns, der Prophet selbst ins Wort und sagt: Den Namen Gottes vergessen – wie könnte ich das? Er hat mir viel Gutes getan (Ps 116,13). Und doch: Ich kann das Mobbing nicht mehr ertragen. Dieser Name, dieser „Ich bin da“ (Ex 3,14), bringt mir nur Ärger. Ich wollte ihn verheimlichen, verschweigen, aber es gelang nicht. Dieser Name hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt wie kein anderer. Er beglückt und bedrückt mich. Ach!

Szene 4

Und als wäre das alles nicht schon genug – nochmal kräftig oben drauf gehauen auf meine so geschundene Seele. Die, die mich und Jahwe verspotten, die nur in den Kategorien Freund oder Feind, Sieg oder Niederlage, Freiheit oder Tod denken können, die nennen sich allen Ernstes meine Freunde. Ist es denn zu fassen? Damit kann ich nun gar nicht umgehen. Auch sie wollen mich betören, verführen, auf ihre Seite ziehen. Aber zu welchem Preis?

Wenn ich ihnen nicht zu willen bin, dann wollen sie mich bei den Behörden, beim König etwa oder beim Hohepriester, das sagen sie mir nicht einmal, anzeigen. Echt wahr – sie wollen mich öffentlich an den Pranger stellen. Sie haben Spaß daran, wenn es mir schlecht geht, sie wollen mir maximal schaden. Und das sollen Freunde sein? Sie geben sich mir gegenüber so aus. Aber stehen Freunde einem in der Not nicht bei, statt sich am Elend anderer aufzugeilen? In welche Gesellschaft bin ich da nur geraten? Denunzieren wollen sie mich. Das ist ihr Ziel. Ausliefern an die, die Macht über uns haben wollen, weil sie mit der Macht sympathisieren, diesem Abgott.

Sie erkennen nicht, dass ihre (All)machtsfantasien aus ihrer eigenen Ohnmacht erwachsen sind. Sie fühlen sich selber minderwertig und klein, und wollen nun, dass es allen so ergehe.

Sie erkennen nicht, dass Gottes Wort zuerst Gnade und eben so auch Gericht, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, Treue und Zurechtweisung ist. Was ist aus meinen angeblichen Freunden geworden? Feige Ankläger ihres Nächsten sind sie! Hatte ich ihnen nicht erst kürzlich gesagt: „Abgründig ist das Herz über alles und heillos ist es – wer kann es ergründen? (Jer 17,9). Nun, ich will nicht sagen, dass sie von Grund auf böse sind – aber ihre Anfälligkeit für Gewalt, Ehre, Religion und Familie, ihre Vergötterung alles Zeitlichen bestürzt und ärgert mich. Vielleicht ist es wahr, was einige sagen: Gott hat sich verborgen. Er ist seinen Erwählten nicht mehr nah.

Szene 5

Jahwe, ich habe dir alle Zweifel, alle Not, alles Leid offen und ehrlich geklagt. Ich wollte nichts auslassen. Wenn du wirklich bist, der du bist, wenn du wirklich da bist, komm mir zu Hilfe! Ja, mögen meine Freunde auch nicht mehr oder immer noch nicht wissen, wer du bist, ich weiß es wieder: Du bist mein Held! Ich weiß, du bist geduldig, du hältst viel aus und du lässt lange auf deine Rache warten, aber ich bitte dich um deines Namens willen: Lass mich deine Gerechtigkeit zu Lebzeiten sehen! Meine Freunde sollen hier und jetzt, oder wenigstens recht bald erleben, welche Folgen es hat, andere zu denunzieren, zu verspotten und zu mobben.

Ich weiß, dass ich dir alle Zweifel vorlegen kann. Ich habe es ja auch getan. Du verurteilst mich nicht dafür. Im Gegenteil! Ja, ich weiß auch, du bewahrst mich nicht vor, aber in Gefahren. Ich weiß, als ich mich auf dich einließ, würde ich viel ertragen müssen. Aber: Du hast mir nie mehr zu tragen gegeben, als ich tragen konnte. Zugrunde richten wollen mich meine angeblichen Freunde. Du bist meine einzige Hoffnung, weil ich Menschen kaum noch vertrauen kann, auch wenn ich gern würde.

Ich bitte dich, schenke deinem Volk wieder Menschen mit Gotterkenntnis. Dieser Generation fehlt sie.6 Diese harte Botschaft habe ich nun schon oft ausrichten müssen, und werde es weiter tun. In der Begegnung mit dir ist mir Schlimmes widerfahren, aber nichts kann so schlimm sein wie das Herz der Menschen, das von klein auf geneigt ist, Unrecht zu tun. Ich bitte dich für alle in deinem Volk: Lehre uns, dass der Augenblick zählt. Lass uns nicht zurück-, sondern vorwärts blicken. Schon zu lang verharren wir in der Rückschau auf unsere Vergehen. Du hast sie getilgt. Dir nachzufolgen ist nicht leicht, doch du stehst an meiner Seite; komme, was wolle. Und darum bekenne ich: „Singet dem Herrn, rühmet den Herrn, der des Armen Leben aus den Händen der Boshaften errettet!“ (Jer 20,13) Dies ist nicht mein letztes Wort. Wer mehr hören will, soll mein Buch lesen.

„Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, wird Herzen und Gedanken bewahren in Christus Jesus. Amen.“ (ZÜ)

1 Gebete zum Dritten Sonntag der Passionszeit – Oculi (aus: https://www.reformiert-info.de/Gebete_zum_3._Sonntag_der_Passionszeit___Okuli-17545-0-84-9.html; Stand: 22.02.2024).

2 Das Buch Jeremia (Kapitel 1-20), übers. u. erklärt v. Werner H. Schmidt (ATD, Bd. 20), Göttingen 2008, 333.

3 Calvin hält Jer 20,7 für „ironisch“ und Jer 20,14 (auch wenn dieser Vers nicht mehr zur vorgegebenen Perikope gehört) für eine „wahnsinnige Gotteslästerung“. Zu fragen ist, ob Calvin sich darüber im Klaren war, dass Jahwe ein leidenschaftlicher Gott ist (Anthropomorphismen) und seine Propheten durchaus unter dieser Leidenschaft litten, besonders Jeremia, der wie Hiob seine Geburt verflucht. Es scheint fast so, als wolle Calvins Auslegung dem Leser weiß machen, dass die Beziehung zwischen dem Gott Israels und seine berufenen Propheten in das Ordnungsschema von „Herr und Knecht“ zu pressen sei, vgl. Johannes Calvins Auslegung des Propheten Jeremia, übers. u. bearb. V. Ernst Kochs, in: Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift (Neue Reihe), Bd. 8: Der Prophet Jeremia, hg. v. Otto Weber, Neukirchen 1937, 313-319.

4 Vgl. Werner H. Schmidt, Das Buch Jeremia, a.a.O., 9.

5 Vgl. a.a.O., 13.

6 Vgl. a.a.O., 10.


Dennis Schönberger, 3. März 2024, Gummersbach Innenstadt