Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1528–1572)
Jeanne d´Albret (1528–1572) war die bedeutendste Frau in der Geschichte der Hugenotten im 16. Jahrhundert. Besonders in ihrem Witwenstand, in den letzten zehn Jahren ihres Lebens, baute sie eine reformierte Kirche in Béarn auf und war das politische Oberhaupt der Hugenotten im dritten Religionskrieg (1568–1570). Nach 1570 versuchte sie, die Reformierten zu schützen und ihnen einen gesicherten Platz in der Gesellschaft zu verschaffen. Sie handelte für die Hugenotten den Friedensschluss von St. Germain 1570 aus, und durch die Heirat ihres Sohnes Heinrich (später Heinrich IV. von Frankreich) mit Margarete von Valois, Schwester des Königs Karl IX. von Frankreich, strebte sie eine enge Verbindung von Hugenotten und Katholiken an.
Keine andere Frau hatte eine solche Machtposition unter den Hugenotten in Frankreich inne. Sie war respektiert und gefürchtet in Rom und Madrid, alliiert mit Elizabeth von England und befreundet mit Katharina von Medici – keine unkomplizierte Freundschaft zwischen zwei starke Frauen.
Sie sorgte dafür, dass ihre Kinder – Heinrich und Katharina – im reformierten Glauben erzogen wurden. Jahrelang kämpfte Heinrich als Anführer der Hugenotten und von einer Machtbasis in Südfrankreich aus um die französische Krone, bis er 1589 König von Frankreich wurde und schließlich 1593 zum katholischen Glauben übertrat, um das Land zu befrieden.
Jeanne d´Albret war nicht nur Mutter ihres berühmten Sohnes, sie war auch selbst eine machtvolle Frau in Frankreich, da ihre Position als Anführerin der Hugenotten ihr einen Einfluss weit über die Grenzen ihres kleinen Königreiches zusicherte.
Jugend und Ehe (1528-1555)
Jeanne d´Albret wurde am 7. November 1528 auf dem Schloss Blois von Margarete und Heinrich II. von Navarra geboren. Ihre Mutter wusste angeblich, dass sie eine Tochter gebären würde, ihr sehnlichster Wunsch war freilich nach einem Sohn. Jeanne blieb das einzige Kind aus dieser Ehe, Margarete von Navarra gebar zwar kurz danach einen Sohn, der als Kleinkind starb, und alle übrigen Hoffnungen auf Schwangerschaften zerschlugen sich.
Die kleine Prinzessin konnte von ihrem Vater das Königreich Navarra erben, weil dort das salische Gesetz, das in Frankreich weibliche Thronerben verbot, nicht gültig war. Außerdem war das vicomté Béarn selbständig. Deswegen waren die zwei Großmächte Spanien und Frankreich zutiefst an diesen Grenzregionen interessiert. Frankreich wollte seine Südgrenze verteidigen, und Spanien beide Seiten der Pyrenäen besitzen, um in Frankreich einfallen zu können. Zudem war die väterliche Familie von Albret Großgrundbesitzer in Südwestfrankreich und damit Vasall des französischen Königs. Das frühere Aquitanien hatte mehrere hundert Jahre der englischen Krone gehört und war spät von England aufgegeben worden. Im 16. Jahrhundert wurde das Gebiet meistens als Guyenne bezeichnet.
In ihren jungen Jahren wuchs Jeanne in der Normandie auf. Ihre Mutter, Margarete von Navarra, hatte die Aufgabe, die königlichen Kinder ihres Bruders, Franz I., zu erziehen. Sie gab Jeanne in die Obhut ihrer Freundin Aymée de Lafayette, Vogtin von Caen. Man behauptet, sie sei die Vorlage für die Figur Longarine in Heptameron (vgl. Nielsen). Nach meiner Auffassung sind die Erzähler/innen im Heptameron, die sogenannten devisants, eher Typen als historische Persönlichkeiten, die Figur der Longarine ist allerdings eine sehr sympathische Frau mit Humor und Pfiff. Wenn Aymée de Lafayette die Vorlage zu Longarine abgegeben haben soll, deutet alles darauf hin, dass Margarete sie sehr schätzte und meinte, ihre Tochter sei bei ihr gut aufgehoben.
Jeanne wuchs in einem landadligen Milieu auf, umgeben von Wald, Wiesen und Tieren, mit den Mitgliedern der Familie von Aymée de Lafayette als Bezugspersonen, bis sie zehn Jahre alt war. Ihre Mutter sah sie selten, aber jedes Mal, wenn sie krank war, war Margarete sofort zur Stelle. 1538 ließ Franz I. sie nach Plessis-lez-Tours bei der Loire übersiedeln, da sie jetzt ein Alter erreicht hatte, wo sie auf dem Heiratsmarkt von Interesse war. Der König konnte über seine Verwandte entscheiden und Ehen arrangieren, wie es ihm passte.
1540 war es für Jeanne so weit. Herzog Wilhelm der Reiche von Kleve-Jülich-Berg hatte 1538 das Herzogtum Geldern geerbt. Sein Erbanspruch wurde von Kaiser Karl V. angefochten und auf dem Reichstag zu Regensburg wurde dem Kaiser Geldern zugeteilt. 1539 folgte Wilhelm seinem Vater auf dem Thron nach, und um sich vor den Ansprüchen des Kaisers zu schützen, arrangierte er eine Ehe mit Heinrich VIII. von England für seine Schwester Anna, und selbst verbündete er sich mit Franz I. Als Unterpfand für dieses Bündnis sollte er Jeanne d´Albret heiraten.
Was jetzt passierte, ist absolut ungewöhnlich: Jeanne weigerte sich. Die Zwölfjährige ließ ihrem Onkel wissen, dass sie den Herzog nicht heiraten möchte, und sie ließ zwei Schreiben aufsetzen, in welchen sie erklärte, dass sie gegen ihren Willen zu dieser Ehe gezwungen worden sei. Natürlich konnte sie sich nicht auf Dauer gegen den Willen des Königs auflehnen, aber bei der Hochzeitszeremonie am 14. Juni 1541 weigerte sie sich, zum Altar zu schreiten, stattdessen musste sie getragen werden. Ihr Jawort war nicht hörbar und wegen ihres Alters wurde die Ehe nicht vollzogen, der Herzog setzte nur symbolisch ein Bein in ihr Bett. Nach der Hochzeit kehrte er zurück nach Düsseldorf, während Jeanne vorläufig in Frankreich blieb.
1543 griff Kaiser Karl Kleve-Jülich-Berg an, der Herzog wurde geschlagen und musste Geldern Karl V. überlassen. Am Frieden von Venlo im September 1543 hob er das Bündnis mit Franz I. auf und verbündete sich stattdessen mit dem Kaiser. Damit war auch die französische Ehe hinfällig geworden, 1545 wurde sie vom Papst wegen Nichtvollzug annulliert, und der Herzog vermählte sich mit einer Nichte des Kaisers.
Nach kanonischem Recht durfte bei einer Eheschließung keine Zwang im Spiel sei. Die Eheleute mussten ihr Gelübde frei abgeben. Damals konnten junge Frauen aus adligen oder königlichen Familien sich ihre Ehepartner nicht selbst aussuchen, sondern wurden als politische Garanten vermählt, und die meisten fanden sich damit ab, weil das ihr Standesbild entsprach. Jeannes Ablehnung, so wie ihre Kenntnis des kanonischen Rechts, ist erklärungsbedürftig.
Eine mögliche Erklärung ist, dass ihre Eltern für sie eine Ehe mit dem Kronprinzen Philipp von Spanien anstrebten. Königin von Spanien war natürlich prestigeträchtiger als Herzogin von Kleve zu sein, aber vor allem erhoffte sich ihr Vater damit den spanischen Teil von Navarra zurückzugewinnen. 1512 hatten die Spanier Navarra, das Baskenland, bis zu den Pyrenäen erobert und den Albrets nur das winzige Gebiet auf der französischen Seite gelassen. Seitdem überlegten sich die Könige von Navarra, wie sie zu ihrem ganzen Erbe kommen konnten, und eine Ehe zwischen dem Infanten von Spanien und der zukünftigen Königin von Navarra würde genau dies herbeiführen.
Jeanne war möglicherweise auch beeinflusst von einer Erklärung der Ständeversammlung von Béarn, die eine auswärtige Ehe für ihre Kronprinzessin ablehnte.
Sah Jeanne d´Albret ihre Zukunft gefährdet durch eine Ehe mit dem Herzog von Kleve? Oder tat sie, was ihre Eltern wünschten, statt des Königs Willen zu erfüllen? Stammten ihre Kenntnisse des kanonischen Rechts von denen? Margareta von Navarra schrieb ihrem Bruder, sie habe keine Ahnung, was in das Mädchen gefahren sei, aber stimmt das? Hat sie Jeanne mit ihrer Ablehnung der Ehe geholfen aus Liebe (Cholakian & Cholakian), oder aus Ehrgeiz? Es besteht kein Zweifel, dass königliche Kinder damals frühreif waren und in jungen Jahren schon an ihre späteren Aufgaben geführt wurden, trotzdem ist die Zähigkeit und Sturheit des Mädchens erstaunlich.
1547 starb Franz I. und als Jeanne zwanzig Jahre alt war, bot der Nachfolger, Heinrich II. von Frankreich, ihr gleich zwei Heiratskandidaten an: den Herzog Franz von Aumale (der spätere erzkatholische Herzog Franz von Guise) und Anton von Bourbon, Herzog von Vendôme. Der letztere war Erbprinz und vielleicht deshalb für Jeanne die bessere Partie, obwohl er relativ arm war. Er war hochgewachsen – was für einen Bourbon eher selten war – und charmant, wie alle Männer in seiner Familie scheint er ein unverbesserlicher Schürzenjäger gewesen zu sein. Heinrich IV. von Frankreich, der vert galant, hatte seine ausgelebte Sexualität nicht von Fremden, ebenso wenig wie sein militärisches Können und seinen Mut.
Jeanne und Anton von Bourbon heirateten 1548 und sie war überglücklich. Heinrich II. schrieb in einem Brief, dass er selten eine Braut erlebt habe, die immer nur lachte. Diese Ehe war aus Liebe geschlossen, und Anton von Bourbon nahm seine Frau mit, als er in den Krieg zog. Der Kriegsschauplatz war Flandern, und da der Herzog Güter in Nordfrankreich besaß, zog Jeanne in den ersten Jahren ihrer Ehe von Schloss zu Schloss, immer in der Hoffnung, dass sie und Anton von Bourbon sich treffen könnten.
1551 gebar sie ihren ersten Sohn und gab ihn an Aymée de Lafayette, die sie selbst erzogen hatte. Ob nun Frau de Lafayette alt oder übervorsichtig geworden war, der kleine Herzog von Beaumont starb als Kleinkind, angeblich weil er von Wärme erstickt worden sei.
Bald wurde Jeanne wieder schwanger, und während ihr ältester Sohn in Nordfrankreich geboren war, sollte das zweite Kind in Béarn zu Welt kommen. Sie unternahm die lange Reise nach Süden und kam gerade rechtzeitig in Pau an, 14 Tage bevor sie von ihrem zweiten Sohn, Heinrich, auf dem Schloss in Pau entbunden wurde. Es wurde entschieden, dass dieser Junge in Pau bleiben sollte. Der Großvater, Heinrich d´Albret, wollte wahrscheinlich mit diesem kleinen Prinzen die Erbfolge in Béarn und Navarra sichern. Die Legenden von der rauen Erziehung Heinrichs seitens des Großvaters können jedoch nicht wahr sein, allein weil das Kind die ersten Jahre von Ammen betreut wurde, und der Großvater starb, als es zwei Jahre alt war. Es scheint in Béarn Sitte gewesen zu sein, die Lippen des Täuflings mit Rotwein und Knoblauch einzureiben, eine Taufe à la Gascogne, aber die Mär, dass Heinrich barfuß unter den Hirten in den Bergen aufgewachsen sein soll, ist reine Legende. Der spätere Hauslehrer Heinrichs, Palma Cayet, schrieb, als Heinrich schon König von Frankreich war, seine Biographie, und daher stammt der Bericht vom Opa und von seiner rauen Erziehung. Dieser Kindheitsbericht ist eher Propaganda des Königs, wie er gerne gesehen werden möchte.
Tatsächlich kam Heinrich in die Obhut der Familie de Miossens, die auf dem Schloss Coarraze wohnte. Die Frau, Suzanne de Bourbon-Miossens, war eine Cousine von Jeanne. Heinrich wurde demnach genau wie seine Mutter als Landadliger erzogen, und er wuchs in einer Familie mit anderen Söhnen auf, die als Erwachsene seine Gefolgsleute werden sollten. Als seine Mutter den Thron erbte, wurde er schon als Kleinkind als Kronprinz behandelt.
Die zwei Jahre zwischen Heinrichs Geburt 1553 und ihre Thronbesteigung 1555 verbrachte Jeanne wiederum in Nordfrankreich in der Nähe ihres Gatten. In dieser Zeit gebar sie einen dritten Jungen, der jedoch nicht lange lebte. Es muss hinzugefügt werden, dass Anton von Bourbon 1554 einen außerehelichen Sohn, Karl von Bourbon, mit einer Hofdame bekam. Jeanne hatte bereits mehrere Onkel, die illegitim waren, und sie scheint den kleinen Karl in ihrer Familie aufgenommen zu haben. Er wurde später Erzbischof von Rouen.
Erst als der Vater gestorben war, zog sie als Königin nach Pau und obwohl sie die Erbin war, ließ sich ihr Mann als König huldigen, was die Ständeversammlung eigentlich gar nicht wollte, dennoch ordneten sie sich dem Willen Jeannes unter.
Königin an der Seite von Anton von Bourbon (1555–1560)
Ihr Vater hatte Jeanne ein blühendes Land hinterlassen. Er hatte Industrien nach Béarn geholt, das Steuersystem effektiv gestaltet und für den religiösen Frieden gesorgt. Große Einkünfte entstanden auch durch seine Posten als Gouverneur und Admiral der französischen Krone in Guyenne. Anton von Bourbon bekam diese Posten nach seinem verstorbenen Schwiegervater, und später hat sein Sohn, Heinrich von Navarra, sie übernommen. Jeanne und Antoine standen als die größten Grundbesitzer Südwestfrankreichs finanziell sehr gut da.
1555 find Calvin seine missionarische Tätigkeit in Frankreich an. Reformierte gab es in Südwestfrankreich zu diesem Zeitpunkt längst, weil Margareta von Navarra sie mit Predigern unterstützt hatte und Gérard Roussel, einen Reformkatholiken, als Bischof in Orthez, eingesetzt hatte. Dieser Roussel war einmal Weggefährte Calvins gewesen, und dieser warf ihm vor, nicht konsequent genug zu sein, als er die Stelle als katholischer Bischof trotz seiner reformatorischen Sympathien annahm (CStA I,1).
Als Königin hatte Jeanne bei ihrer Krönung versprechen müssen, die katholische Religion zu verteidigen. Am selben Tag, nachdem sie diesen feierlichen Eid abgelegt hatte, schrieb sie an einen Vasallen, dem vicomte von Gourdon, und erzählte ihm, sie wolle über die Förderung des reformierten Glaubens im kleinem Kreis heimlich beraten. Dieser Brief ist Teil eines Briefwechsels mit zwei vicomtes de Gourdon, Vater und Sohn, die die gesamte Regierungszeit Jeannes überdauerte. Die Briefsammlung wurde im vorigen Jahrhundert entdeckt und gibt viele neue Einsichten in die Vorhaben und die Beweggründe Jeannes. Da die entdeckten Briefe uns nur als teilweise fehlerhafte Kopien vorliegen, haben viele Forscher die Briefe als Fälschungen abgetan (Text und Diskussion bei Bryson).
Der erste Brief vom August 1555 teilt uns mit, dass Jeanne schon zu diesem Zeitpunkt reformierte Sympathien deutlich aussprach. Sie schrieb dem vicomte, dass ihre Mutter sich zwischen den zwei Religionen nicht habe entscheiden können, und dass sie selbst aus Furcht vor ihrem Vater bislang nicht gewagt habe, sich offen zum Protestantismus zu bekennen. Das Edikt von Chateaubriant von 1551 verbot eindeutig jede „Ketzerei“ und deshalb schlug sie vor, die Reformierten sollten sich heimlich auf dem Schloss Odos treffen.
Es gibt sonst keine Quellen, die belegen könnten, dass Jeanne mit dem reformierten Glauben in Berührung kam. Es gab in ganz Frankreich zu der Zeit kleine zerstreute Gemeinden, sowie Prediger und Kolporteure, die reformatorische Bücher schmuggelten. Die wiederholten Verbote des Königs konnten das nicht unterbinden, sie führten nur dazu, dass Protestanten, wie Jeanne, sich heimlich treffen mussten.
In den Jahren nach 1555 verbreitete sich der reformierte Glaube mehr und mehr im Hochadel. Auch Anton von Bourbon wurde davon ergriffen, brachte reformierte Prediger nach Béarn und als er und Jeanne 1558 mit Heinrich nach Paris zogen, nahm er an großen psalmensingenden Demonstrationen außerhalb der Stadtmauern von Paris teil. Calvin war darüber hoch erfreut, denn er setzte in seiner Missionsarbeit gerne auf hochrangige Persönlichkeiten. Jeanne dagegen verhielt sich während dieser Zeit bedeckt.
In Paris kam sie mit ihrem vierten Kind, einer Tochter namens Katharina, nieder. Das kleine Mädchen war das einzige Kind, das bei Jeanne aufwachsen durfte, obwohl sie (natürlich) Erzieherinnen und Gouvernanten hatte.
Anton von Bourbon fiel nicht nur mit protestantischen Sympathien auf, sondern wie sein Schwiegervater versuchte er, den spanischen Teil von Navarra zurückzugewinnen. Heinrich d´Albret hatte seinen Besitz gut und gewinnbringend regiert, während Anton von Bourbon seiner Frau die Regierungsgeschäfte überließ, und selbst nur versuchte, ein größeres Königsreich für sich zu gewinnen. So konnte der spanische König Philipp ihm einen Tausch, erst mit dem Herzogtum Milano und später mit Sardinien, anbieten. Damit hätte Spanien den Sprung über die Pyrenäen geschafft und Südfrankreich bedrohen können. Wir würden solches Taktieren mit dem Feind Hochverrat nennen, damals räumte man freilich Adligen große Freiheiten ein, sich einen Herren auszusuchen, aber Anton von Bourbon wurde auch von den Zeitgenossen als unzuverlässig und unverantwortlich angesehen, und nicht zuletzt war er so politisch ungeschickt, dass es an Dummheit grenzte (Sutherland 1984).
Im Sommer 1559 starb Heinrich II. von Frankreich unerwartet. Sein Sohn Franz II. folgte ihm als nur fünfzehnjähriger Knabe auf dem Thron. In dieser Situation war die traditionelle Lösung, dass der erste erwachsene Erbprinz, Anton von Bourbon, ihn unterstützen sollte, und Calvin ermahnte ihn eindringlich, dieses Amt zu übernehmen und dabei den Hugenotten zu helfen. Anton von Bourbon verspielte diese Chance und überließ die Regierungsgeschäfte der Familie von Guise, besonders dem Herzog von Guise und dem Kardinal von Lorraine, die beide die antiketzerische Politik des verstorbenen Königs weiterführen wollten. Nach dem Tod Heinrichs II. bekannten sich mehrere hochrangige Adlige offen zum Protestantismus und es gab im März 1560 sogar einen hugenottischen Komplott, den König zu entführen und von seinen „schlechten Ratgebern“ zu trennen. Anton von Bourbon und sein jüngerer Bruder, der Prinz von Condé, beide notorische Reformierte, wurden wegen diesem Angriff auf den König angeklagt. Anton von Bourbon versprach Besserung, während sein Bruder, der Prinz Ludwig von Condé zum Tode verurteilt wurde. Nur der plötzliche Tod des jungen Königs rettete ihn vor der Hinrichtung. Da der neue König, Karl IX., ein zehnjähriges Kind war, brauchte Frankreich einen Regenten, nämlich den ranghöchsten Erbprinz Anton von Bourbon. Wiederum ergriff dieser nicht die Chance. Katharina von Medici ließ sich stattdessen als Regentin einsetzen und Anton von Bourbon wurde zum Generalstatthalter ernannt. Die Hugenotten mit Calvin an der Spitze waren zutiefst enttäuscht. In diesen Jahren hatte der reformierte Glaube großen Zulauf, es wurde von mehreren Tausend Gottesdienstbesuchern überall in Frankreich berichtet, von Abendmahlgottesdiensten, die zwei Tage dauerten und von Bekehrungen am Hof und im Hochadel.
1560 verließ Jeanne Paris, um zurück nach Pau zu fahren. Theodorus Beza, der engste Mitarbeiter Calvins, besuchte sie dort, und es entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit, die bis Jeannes Tod dauerte. Beza versorgte sie mit Predigern und Beratern für ihr Land. Im Dezember 1560 unternahm Jeanne den entscheidenden Schritt und bekehrte sich öffentlich zum reformierten Glauben. Während ihr Gatte nicht in der Lage war, sich an die Spitze der Hugenotten zu setzen, wurde sie jetzt die leitende Hugenottin in Frankreich.
Reformierte Königin (1560–1568)
Jeanne d´Albret war zweifelsohne eine tief religiöse Frau. Lange Zeit hatte sie äußerste Diskretion walten lassen, zwar mit ihrem Gatten reformierte Prediger gehört, aber sich niemals offen zum reformierten Glauben bekannt. Erst nachdem Anton von Bourbon sich mit dem Posten als lieutenant générale abgefunden hatte, kam sie aus der Deckung.
Es war eine Zeit, wo alle große Hoffnungen bzw. Ängste für den Protestantismus in Frankreich hegten. Drei wichtige Katholiken – der Herzog von Guise, der Konstabel von Montmorency und der Marschall St. André – schlossen sich zusammen, um Frankreich gegen die Reformierten zu schützen. Sie planten den Sturz von Anton von Bourbon und einen Angriff auf Genf mit der Hilfe des Herzogs von Savoyen, zu dessen Besitz Genf bis 1534 gehört hatte. Dieses Triumvirat war der erste Vorbote der katholischen Liga, die später Heinrich IV. hartnäckig bekämpfte (Sutherland 1973).
1560 war noch zu erwarten, dass der Protestantismus nach Frankreich gekommen war, um zu bleiben. Jeanne war sich sehr bewusst, welche Gefahren ihr von Spanien, vom Papst und von der mächtigen Familie von Guise drohten. Sie hatte noch die Hoffnung, dass der junge König Karl IX., Katharina von Medici und ihr Kanzler, der tolerante Michel de l´Hôpital, die Reformierten unterstützen würden, zumal die Königinmutter sich selbst von denen von Guise bedrängt fühlte.
Diese letzte Hoffnung erwies sich als trügerisch, aber niemals wich Jeanne später vom einmal eingeschlagenen Kurs ab. Sie konnte weder geldwerte Vorteile noch politisches Kapital aus ihren Glauben schlagen, dafür hielt sie konsequent an ihrer Überzeugung fest.
In Béarn machte sie erste vorsichtige Schritte, um das Land zu reformieren. Es gab schon Reformierte dort, und Prediger hatten angefangen, den neuen Glauben zu verbreiten, Jeanne aber träumte von einem reformierten Land, und fing langsam und vorsichtig an, diesen Traum zu verwirklichen.
Der erste Schritt war, den reformierten Glauben dem Katholizismus rechtlich gleich zu stellen. Die Kirchen wurden für beide Religionen geöffnet (das sogenannte simultaneum) und aus den Kirchen in Lescar und Pau wurden Bilder und Statuen entfernt, allerdings nicht in Form eines Bildersturms, sondern von den Behörden. Jeanne beschlagnahmte das kirchliche Vermögen nicht für sich selbst, sondern investierte es in Sozialfürsorge und Bildung.
Es ist klar, dass sie den reformierten Glauben einführen wollte, aber zu keinem Zeitpunkt vefolgte sie Andersgläubige, geschweige denn verbrannte sie. Immer setzte sie auf Überredung.
Im August 1561 begab sie sich wieder zum Hof. Überall wurde sie stürmisch von Hugenotten begrüßt, als ob sie „der Messias sei“, bemerkte verärgert der spanische Gesandte. Katharina von Medici hatte zu einem Religionsgespräch eingeladen. Dieses Gespräch fand in Poissy außerhalb Paris statt. Seitens der Krone war gewiss an eine Versöhnung oder gar einen Ausgleich zwischen den Religionen gedacht, die reformierten Teilnehmer mit Beza an der Spitze mochten jedoch keine Kompromisse eingehen. Beza wurde unterstützt von Calvin in Genf, der selbst zu krank war, um mitzukommen. Calvin war mit den Auftritten und Reden Bezas zufrieden, während z.B. der Admiral Coligny Beza als reichlich provokant wahrnahm.
Im Herbst 1562 blieb Jeanne mit ihren Kindern beim Hofe. Katharina von Medici suchte auch nach den Religionsgesprächen eine Übereinkunft mit den Protestanten, was in dem Edikt vom 17. Januar 1562 – auch Edikt von St. Germain genannt – gipfelte. Dieses Edikt, an dem der Kanzler Michel de l´Hôpital und Beza beteiligt waren, erlaubte es den Hugenotten, außerhalb der Städte Gottesdienste zu halten. Es war das günstigste Edikt, das sie jemals erlangen sollten, das Edikt von Nantes 1598 war ihm sehr ähnlich, aber nicht ganz so großzügig. Der Unterschied war, dass Heinrich IV. dafür sorgte, dass das Edikt von Nantes durchgeführt wurde, während alle frühere Edikte, so wohlgemeint sie auf dem Papier auch waren, von katholischen Behörden unterlaufen wurden, und der König zu schwach war, um für ihre Durchführung zu sorgen.
Im März 1562 massakrierte der Herzog von Guise eine reformierte Gemeinde, die innerhalb des Städtchens Wassy Gottesdienst feierte. Damit war die Versöhnungspolitik Katharinas von Medici gescheitert. Die Hugenotten unter dem Prinzen von Condé griffen zu den Waffen und Anton von Bourbon bat Jeanne den Hof zu verlassen. Er behielt seinen Sohn Heinrich bei sich, entließ aber dessen hugenottischen Hauslehrer. Jeanne beschwor ihren Sohn, nicht zur Messe zu gehen, und der junge Prinz hielt sich wohl auch ein paar Wochen daran, musste sich aber schließlich fügen. Nach ihrem Fortgang vom Hofe trat Jeanne eine monatelange abenteuerliche Reise durch Frankreich an, so gefährlich, dass die ersten Briefen von der Hand Heinrichs seine Ängste um seine Mutter bezeugen. Ihre kleine Tochter Katharina durfte sie behalten.
Im ersten Religionskrieg führte Anton von Bourbon die königlichen katholischen Truppen gegen die Hugenotten. Bei der Belagerung von Rouen wurde er verwundet und starb am 17. November. Der junge Heinrich blieb am Hofe in der Obhut Katharinas von Medici, die allerdings Jeanne gestattete, ihm wieder reformierte Hauslehrer zu geben. Sie sollte ihn erst 1564 wiedersehen.
Die Kirche in Béarn und Navarra
Ihre große Aufgabe sah Jeanne darin, die Reformation in Béarn durchzuführen.
Calvin stellte ihr Jean Raymond Merlin zur Seite, den früheren Professor für Hebräisch in Lausanne, wo er Kollege von Beza, dem Professor für Griechisch, und von Pierre Viret, dem Rektor der Akademie, gewesen war. Pierre Viret arbeitete nach seiner Zeit in Lausanne und Genf vor allem in Frankreich, besonders in den Kirchen von Lyons und Nîmes. Später sollte er für Jeanne d´Albret ihre Akademie in Orthez aufbauen. Merlin war übrigens mit einer Tochter von Marie Dentière verheiratet, derjenigen, die vor Jahren Jeanne eine selbstgeschriebene hebräische Grammatik zugesandt hatte (vgl. Graesslé13f.; Nielsen).
Merlin ging voll Eifer an die Aufgabe, eine reformierte Kirche in Béarn aufzubauen. Es gab viele Reformierte in Südfrankreich, aber meistens unter städtischen Eliten und Handwerkern. Die Reformierten waren meistens des Lesens fähig, vor allem des Lesen französischer Texte. In Südwestfrankreich sprach die Bevölkerung die langue d´oc, die alte oczitanische Sprache, in irgendeiner Form. Die Gascogne hatte ihre Sprache, in der ein Neues Testament und fünfzig Psalmen übersetzt wurden, und Béarn hatte béarnais sogar als Amtssprache. Hinzu kam, dass die Bevölkerung in Navarra Baskisch sprach. Wenn Merlin das ganze Land reformieren sollte, musste er diese Sprachbarrieren überwinden, denn die Landbevölkerung musste erreicht und für die Reformation gewonnen werden.
Jeanne d´Albret beauftragte eine Übersetzung des Neuen Testaments ins Baskische, und eine Übertragung der Psalmen, der Zehn Gebote, der Liturgie und des Katechismus Calvins in die Sprache Béarns. Der Anwalt, später Pastor, Arnaud de la Salette, stellte 1571 diese Übersetzung fertig, und obwohl sie erst 1583 gedruckt wurde, darf man annehmen, dass in der Zwischenzeit Manuskriptkopien verwendet wurden. Pastoren, die die béarnesische oder die baskische Sprache beherrschten, wurde händeringend gesucht, und von den Anderen wurde ausdrücklich verlangt, dass sie es lernen sollten. Katecheten, die vermutlich Landeskinder waren, wurden in die Gemeinden geschickt.
Allmählich verbot Jeanne katholische Riten und Gebräuche, zuerst die Fronleichnamsprozessionen, danach Maibäume und Jahrmärkte. Dann wurde die Messe abgeschafft. Der Dom von Lescar und die Kirche St. Martin in Pau wurden leergeräumt, und die dort befindlichen Schätze verkauft.
Für Merlin konnte dies nicht schnell genug gehen. In seinen Briefen an Calvin klagte er seine Not: die Bevölkerung sei stur – diese Holzköpfe! - und die Königin zu langsam und vorsichtig (CO 20, Nr. 3988 & Nr. 4061). Merlin hatte übrigens auch früher in Montargis Probleme mit Renée de France gehabt, Herzogin von Ferrara, die in ihrem Gebiet so vorsichtig war wie Jeanne in Béarn (vgl. Lambin, 2). Jeanne bekam Klagen auf der jährlichen Ständeversammlung, wo die Katholiken über den Verlust alter Freiheiten und Rechte klagten. In den sechziger Jahren musste sie mehrmals Aufstände niederschlagen.
Der Nachfolger für Merlin war Pierre Viret, der enge Freund Calvins. Er war Pastor und Rektor für die Akademie in Lausanne – mit Beza und Merlin als Kollegen – gewesen. Wegen eines Streits mit dem Stadtrat in Bern, übersiedelten 1559 alle Professoren nach Genf, um dort in der neu errichteten Akademie zu unterrichten. Von Genf begab Viret sich nach Frankreich, wo er in Lyon als Pastor arbeitete, danach leitete er die Nationalsynode in Nîmes und schließlich folgte er dem Ruf nach Béarn. Seine wesentlichste Aufgabe war es, die Akademie in Orthez aufzubauen. Die Fächer Theologie, Hebräisch, Griechisch, Philosophie und Mathematik wurden dort unterrichtet, während es keine Anzeigen für Professuren in Jura und Medizin gibt.
Vor ihrer akademischen Laufbahn absolvierten die Jungen eine fünfjährigen Ausbildung in einer Lateinschule (collège), während die Grundschule sowohl Jungen wie Mädchen unterrichtete, die Mädchen allerdings getrennt mit weiblichen Lehrkräften. Damit wurde das kleine Béarn das erste Land Europas, welches kostenlosen Unterricht für Mädchen zusicherte, und zwar mit der interessanten Begründung, dass sie so im Stande waren, ihr Brot zu verdienen und sich der Gesellschaft nützlich zu machen („Pareil rolle sera aussy faict des filles qui sont en bas aage et qui n´ont nul moyen de vivre et de s´entretenir, par toutes les églises, afin que de mesmes deniers et en écolle séparée elles soient enseignées, nourries et tenues par des femmes sages et pudiques, par leur industrie pouvoir aprés se nourrir et entretenir et servir au public“. Art. 32 der Verfassung der Akademie von 1566, zitiert nach Desplat 2004). Desplat unterstreicht die säkulare Ausrichtung der Ausbildung. Allgemein wird behauptet, der Zweck des Unterrichts in protestantischen Ländern sei, die Bevölkerung des Lesens der Bibel und des Katechismus zu befähigen. Hier werden nur die Vorteile eines Schulunterrichts für die Gesellschaft betont.
Die Akademie wurde 1566 geöffnet. Die ersten protestantischen Akademiegründungen in Frankreich fanden in Nîmes (1562) und Montpellier statt. Vorrangiges Ziel war es, die Kirchen mit Pastoren zu versorgen, da die Akademie in Genf die steigende Nachfrage der Gemeinden kaum nachkommen konnte. Da Papst Pius V. die katholischen Universitäten angewiesen hatte, Protestanten die Abschlüsse zu verweigern (Maag 2002, 140), brauchten junge Hugenotten ihre eigenen Universitäten, die dann auch gegründet wurden, vor allem in Leiden und Heidelberg, aber auch in Frankreich und benachbarten Gebieten wie Béarn, Orange und Sedan, die alle zu diesem Zeitpunkt unabhängig waren.
Jeanne hatte sehr gute Gründe, langsam und überlegt vorzugehen. Der Kardinal von Armagnac ließ sie wissen, dass sie die Bevölkerung Béarns in Ruhe lassen sollte, ihre Untertanen wollten ihren Katholizismus nicht aufgeben. Jeanne antwortete, dass sie in Béarn nur Gott über sich habe, dort könne sie ihrem Gewissen folgen, und in ihrem Land werde niemand wegen seines Glaubens verfolgt. Das letzte war ihr ein Anliegen, denn 1571 schrieb sie an ihren Statthalter, den Baron d´Arros, dass in ihrem Land niemand zum Glauben je gezwungen worden war und es auch nicht werden sollte („...intention n´a point esté et n´est encores qu´ilz soyent contraints par force et violence de se reanger à ladite Religion“, d´Aas 2002, 452).
Als sie sich bei der Einführung der Reformation in ihren Ländern unnachgiebig zeigte, zitierte der Papst sie nach Rom zwecks eines Ketzerprozesses. Da sie dieser Einladung nicht folgte, exkommunizierte er sie. Der Bann war eine ernste Bedrohung, da jeder katholische Herrscher jetzt das Recht hatte, ihre Länder an sich zu reißen und sie abzusetzen, eine Chance, die Philipp II. von Spanien sich nicht entgehen lassen würde. Katharina von Medici verteidigte deshalb Jeanne, weil sie keine spanische Präsenz auf der französischen Seite der Pyrenäen dulden wollte. Außerdem war sie eine Verfechterin der gallikanischen Freiheit der französischen Kirche und meinte deshalb, der Papst solle sich nicht in die Angelegenheiten der Kirche einmischen.
Königin der Hugenotten
Nach dem ersten Religionskrieg (1562-63) ließ Katharina von Medici den jungen Karl IX. mündig erklären und führte ihn mit dem Hof auf eine große Frankreichreise, die mehrere Jahre dauerte. Der Zweck dieser Reise war es, den König dem Volk zu zeigen, und damit die Loyalität der Bevölkerung zu erhalten. Jeanne wurde als Vasallin einberufen und stieß Ende Mai 1564 zum Zug in Macon.
Ihr Sohn Heinrich nahm auch Teil an diese Reise und seinetwegen stritten die zwei Königinnen sich, weil Jeanne ihn bei ihren protestantischen Gottesdiensten dabei haben wollte, und Katharina wünschte, dass er mit der königlichen Familie zur Messe gehe. Schließlich sandte Karl IX. Jeanne zu ihrem Besitz in Vendôme, während Heinrich als Gouverneur von Guyenne den Zug begleitete und in den Städten für den feierlichen Empfang des Königs sorgte.
Jeanne durfte nicht mit nach Bayonne, wo Katharina ihrer Tochter Elizabeth, Königin von Spanien, begegnen wollte. Philipp II. sandte als seinen Gesandten den Herzog von Alba, der auf dem Weg in die Niederlande war. Die Hugenotten waren später überzeugt, dass Alba und die Königinmutter in Bayonne ihre Ausrottung geplant hatten. Sicher ist, dass Alba in den Niederlanden mit aller Härte gegen die Protestanten vorging, und es ist durchaus möglich, dass er versuchte, Katharina auf seinen mörderischen Kurs einzustimmen. Schon 1568 – also vor der Bartholomäusnacht! – schrieb Jeanne, dass die Waffen, die gegen die Hugenotten verwendet werden sollten, in Bayonne geschmiedet worden seien (Ample déclaration).
Jeanne und Heinrich trafen sich später in Paris. 1566 ersuchte sie erneut um Erlaubnis, mit ihren beiden Kindern nach Béarn zu fahren, was ausgeschlagen wurde. Sie erhielt aber Erlaubnis, ihren Sohn in seinen französischen Ländereien herumzuführen, und Anfang 1567 reiste sie dann mit ihm nach Vendôme, und von dort setzte sie sich unerlaubt ab nach Béarn. Damit machte sie laut des Biographen Heinrichs, Pierre Babelon, aus einem französischen Prinzen einen Ausländer, und vor allem einen Hugenotten.
Von 1567 an arbeitete Jeanne für die Zukunft ihres Sohnes. Ihre Lebensaufgabe, schrieb sie selbst, sei: Gott, Königtum und ihr Blut. Mit Gott war die reformierte Religion, die wahre Kirche Gottes, gemeint. Mit dem König ihr Status als Vasallin und – trotz Béarn – als Französin, und mit dem „Blut“, die Familie, zuallererst ihr Sohn Heinrich. Er sollte von jetzt an kein Höfling mehr sein, sondern die Aufgaben eines Regenten lernen. Als ein Aufstand in Navarra niedergeschlagen worden war, wurde er dorthin geschickt, um die Basken zu befrieden. Als 14jähriger hielt er für seine Untertanen eine Rede, in welcher er ihr Fehlverhalten geißelte, ihnen die Gunst der Königin zusicherte, falls sie sich verbessern würden, und seinen berühmten Charme mit seinem Autoritätsanspruch verband.
Im Herbst 1567 versuchten die Hugenotten, die sich von der Aufrüstung des Königs bedroht fühlten, Karl IX. in ihre Gewalt zu bringen. Die Entführung missglückte, und die königliche Familie suchte, beschützt von den schweizerischen Söldnern, die die Ängste der Hugenotten verursacht hatten, Zuflucht in Paris. Die Hugenotten belagerten die Stadt. Im November wurden sie vor den Toren von St. Denis geschlagen und mussten sich in die Provinz zurückziehen, wo sie den Kampf bis zum Friedenschluss von Longjumeau im März 1568 fortsetzen.
Der Friedensvertrag war an sich nicht ungünstig für die Hugenotten, nur haperte es wie immer mit der Umsetzung. Katholische Behörden waren über die für die Hugenotten günstigen Bedingungen empört und setzten sie nicht um. Der Protestant La Noue schrieb in seinen Erinnerungen, dass der Krieg zwar viel Unheil bringe, aber dieser elende kleine Friedensvertrag sei viel schlimmer für die Reformierten, die in ihren Häuser umgebracht wurden, ohne dass sie sich zu wehren wagten („ …une guerre est misérable et qu´elle apporte avec soy beaucoup des maux…cette méchante petite paix est beaucoup pire pour ceux de la Réligion, qu´on assassinoit en leur maisons, et ne s´osoyent encores défendre“, d´Aas 2002, 382) Im Laufe des Sommers 1568 versuchten die Gruppierungen noch einmal miteinander zu reden, Karl IX. sandte einen Botschafter nach Béarn, und Jeanne verfasste ein Sendschreiben an den König mit dem Antrag, den Frieden in Guyenne wiederherzustellen.
In der Zwischenzeit fühlten sich der Prinz von Condé und der Admiral Coligny auf ihre Schlösser in Bourgogne zunehmend bedroht. Der Herzog von Alba wollte in den Niederlanden mit Feuer und Schwert den Protestantismus auszurotten, und Flüchtlinge berichteten ihnen von seinem Terror. Am 23. August 1568 flüchteten sie mit ihren Familien und Angehörigen über die Loire nach La Rochelle. Die Überquerung der Loire erinnerte fast an den biblischen Durchzug durchs Schilfmeer: so viele Hugenotten hatten sich angeschlossen, dass der Zug fast wie eine Völkerwanderung aussah, und die Loire hatte in der Augusthitze einen so niedrigen Wasserstand, dass Sandbanken in der Mitte auftauchten. Dementsprechend sangen alle Psalm 114 vom Auszug der Israeliten aus Ägypten, als sie hinüber waren. Die Parallele wurde noch einmal deutlich, als die königlichen Truppen, die sie verfolgten, wegen plötzlich einsetzenden Hochwassers den Fluss nicht überqueren konnten.
In dieser Situation war Jeanne zutiefst gespalten. Bislang hatte sie die Kriege moralisch unterstützt, aber nicht selbst teilgenommen. Falls es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen sollte, konnte sie immer mit ihren Kindern in der uneinnehmbaren Festung Navarrenx Zuflucht suchen. Sie hatte jedoch ihren Sohn, der als zukünftiger Führer der Hugenotten das Kriegshandwerk lernen sollte, und so musste sie wählen, ob sie in Béarn unter ihrem Volk bleiben oder sich den Hugenotten anschließen sollte: „ich hatte den Krieg im Bauch“ schrieb sie danach („J´eu la guerre en mes entrailles“, Ample declaration). Sie setzte den Baron d´Arros als Statthalter ein, und Anfang September begab sie sich in Eilmarsch nach La Rochelle (Cocula 2004). Dort konnte sie ihren Sohn dem Prinzen von Condé überantworten. Sie schrieb unterwegs eine Reihe Briefe an Karl IX., an Katharina von Medici, an ihren Schwager, den Kardinal von Bourbon und an die Königin Elizabeth von England, um ihren Entschluss zu begründen. Angekommen in La Rochelle schrieb sie eine Erklärung („Ample declaration“) um der Öffentlichkeit zu erklären, warum sie sich der hugenottischen Armee zugesellte.
Die Hugenotten unter ihren Anführer aus der königlichen Familie wollten nicht als Aufrührer dastehen. Sie behaupteten, die erzkatholische Partei sei schuld daran, dass königliche Befehle nicht vollzogen wurden. Die Katholiken mit ihren Verbindungen nach Spanien und Rom seien Landesverräter. Die Politik des Kardinals von Lorraine verdient laut Sutherland (1974) keinen anderer Namen. Wenn Jeanne vom Frieden sprach, meinte sie eine Duldung der Hugenotten in Frankreich. Die Forderungen der Hugenotten waren immer dieselbe: Erlaubnis, Gottesdienste zu feiern, Gerichte mit zur Hälfte hugenottischen Richtern, sichere Zufluchtsstädte – deren Anzahl schwankte in den Verhandlungen – und Zugang zu Ausbildung und Beamtenstellen gleichrangig mit den Katholiken. Die Provinz Languedoc unter dem moderat katholischen Gouverneur Montmorency-Damville war ein friedlicher Ort in den Religionskriegen, weil Damville den Hugenotten solche Rechte einräumte, und die katholische Bevölkerung sich damit abfand.
Im März 1569 fand eine Schlacht bei Jarnac statt. Der Prinz von Condé kämpfte mit, wurde verwundet und nach der Schlacht ermordet. Es gelang Admiral Coligny, die hugenottischen Truppen zusammenzuhalten, aber der Verlust des Prinzen war ein herber Schlag. Heinrich von Navarra war jetzt der ranghöchste Prinz, und zusammen mit seinem Vetter, dem gleichaltrigen Heinrich von Condé, wurde er jetzt Oberbefehlshaber über die Armee der Prinzen. In Wirklichkeit lag die Verantwortung für die Kriegsführung bei dem erfahrenen Admiral, und die beiden Prinzen wurden seine Pagen genannt.
Jeanne blieb in La Rochelle, während Coligny mit den Prinzen im Krieg war, und sie konnte, unterstützt von einem Rat adliger Hugenotten, die „Regierungsgeschäfte“ regeln. Sie schrieb an England und nach Deutschland. Sie unterzeichnete Erlässe, versuchte Geld für das Heer aufzutreiben, pfändete ihren schönsten Schmuck für einen Kriegsdarlehen an Elizabeth von England und ließ ein Kriegsschiff namens „Die Hugenottin“ bauen.
So wie sie immer behauptete, nicht gegen den König, sondern gegen seine schlechten Ratgeber zu kämpfen, so behauptete Karl IX., dass sie in La Rochelle von den Hugenotten gefangen gehalten wurde, und er ließ den Baron Terride mit einer „Befreiungsarmee“ in Béarn einfallen. In kürzester Zeit waren ganz Béarn und Navarra erobert und zum Katholizismus zurückgeführt. Nur der Baron d`Arros hielt im Navarrenx stand. Um ihre Länder zurückzuerobern, sandte Jeanne den Graf von Montgommery mit einer „Hilfsarmee“ nach Navarrenx. In noch kürzerer Zeit als Terride gebraucht hatte, verjagte er ihn aus Béarn. Die Befreiung von Terride wurde in Pau mit einem Festgottesdienst gefeiert, wobei Pierre Viret über Psalm 124, 7: „Unsere Seele ist aus dem Netz des Vogelfängers entkommen“ predigte.
Vom Winter 1569 bis zum Frühjahr 1570 führte Coligny sein Heer mit den Prinzen Heinrich von Navarra und Heinrich von Condé durch ganz Südfrankreich und von Provence nach Norden, bis er Paris bedrohte. Der König hatte kein Geld mehr, um Krieg zu führen, und musste notgedrungen Friedensverhandlungen einleiten. Im August 1570 wurde dann der Frieden von St. Germain geschlossen. Wiederum war Jeanne d´Albret diejenige, die auf Augenhöhe mit dem König verhandeln konnte. Der Vertragstext erklärt immer wieder, dass der König die Bedingungen seiner Tante erfüllen wollte (Sutherland 1980, Potter 1997).
Jeanne blieb vorläufig in La Rochelle. Im April 1571 fand dort die Nationalsynode der reformierten Kirchen Frankreichs statt. Theodor Beza kam aus Genf angereist, um die Synode zu leiten. Pierre Viret wollte teilnehmen, starb aber vorher, vermutlich hatte seine Gesundheit in der Gefangenschaft unter Baron Terride gelitten. Auf der Synode wurde das französische Glaubensbekenntnis von 1559 neu verhandelt und die endgültige Fassung als „Bekenntnis von La Rochelle“ beschlossen. Darüber hinaus wurde eine Kirchenordnung für Béarn beschlossen, und die Synode diskutierte Fragen, die Jeanne d´Albret gestellt hatte. Als Ersatz für Pierre Viret bekam sie Nicolas des Gallars zur Seite gestellt. Er war Calvins Sekretär gewesen, danach hatte er die „Strangers´ Church“, die Kirche für Ausländer in London, als Nachfolger für Johannes à Lasco geleitet und dann an Bezas Seite im Colloquium von Poissy 1561 gestanden. Er war Pastor in Orléans gewesen und wurde jetzt Seelsorger für Jeanne d´Albret und ihr theologischer Ratgeber für die Kirche in ihrem Land.
Er war eine gute Wahl, denn während Beza sehr an dem Konzept von Genf hing und ein presbyteriales Kirchenverständnis (Kingdon 1967) hatte, war des Gallars in England gewesen, als Königin Elizabeth nach dem Tod ihrer katholischen Schwester die anglikanische Kirche einführte. Außerdem behauptet Bernard Roussel (2004), dass er das Buch Martin Bucers „De regno Christi“ von 1550 mitbrachte. Dieses Buch ist dem englischen König Edward VI. gewidmet und beschreibt, wie ein König eine reformierte Kirche leiten kann. Damit hatte des Gallars ein Konzept für eine von einer Fürstin geleitete Kirche, die dann in den Jahren als Heinrich und Katharina von Navarra das Erbe der Mutter verwalteten, Bestand hatte.
Während Jeanne in La Rochelle noch weilte, ereilte sie ein Angebot von Katharina von Medici, ob ihren Sohn Heinrich die Tochter Katharinas heiraten mochte. Hugenotten und Katholiken würden sich versöhnen und die Häuser Valois und Bourbon sich nahekommen. Dieses Angebot war zu verlockend, um es auszuschlagen, aber Jeanne traute Katharina nicht so recht, jedenfalls wollte sie nicht gleich nach Paris ziehen, um über die Ehe zu verhandeln.
Stattdessen fuhr sie nach Pau zurück, führte die neu beschlossene Kirchenordnung ein und kümmerte sich um ihre Länder. Die Tuberkulose machte sich bemerkbar und sie wollte zur Kur in die Bergen fahren. Währenddessen zogen sich die Eheverhandlungen hin, bis Jeanne endlich im Frühjahr 1572 nach Paris zog. In den Briefen an ihren Sohn hört man von den Verhandlungen, von ihrer Missbilligung des höfischen Lebens und von ihrem Ärger mit Katharina. Jeanne wollte so viele Rechte wie möglich für ihren Sohn und die Hugenotten aushandeln. Am Ende musste sie es aufgeben, Margareta von Valois, Margot genannt, zum reformierten Glauben zu bekehren. Dafür hoffte sie aber, dass das Brautpaar nach Béarn ziehen würde. Eine königliche Mischehe war etwas ganz Neues und musste in Detail besprochen und geplant werden. Jeanne handelte das Meistmögliche für ihren Sohn aus und im April 1572 wurde eine Einigung erzielt. Heinrich sollte allerdings noch eine Weile in Béarn bleiben und Jeanne bereitete in Paris die Hochzeit vor.
Die zähen Verhandlungen im Frühjahr hatten viel Kraft gekostet, Jeanne hielt sich aber tapfer. Im Juni brach sie zusammen und starb am 9. Juni an der Tuberkulose, die sie seit Jahren geplagt hatte. Später entstanden Gerüchte, sie sei von Katharina von Medici vergiftet worden. Diese sollte ihr ein Paar Handschuhe, die von ihrem privaten Giftmischer präpariert worden seien, geschenkt haben. Da Katharina nach den Massakern von St. Bartholomäus, die in der Periode von August bis November 1572 stattfanden, von den Hugenotten als der Inbegriff des Bösen dargestellt wurde, gehört der Giftmord an Jeanne d´Albret zu den Verleumdungen.
Heinrich traf erst etwas später in Paris ein. Im Testament Jeannes hatte sie sich gewünscht, in Béarn bei ihrem Vater beerdigt zu werden. Ihr Sohn setzte sich über ihren letzten Willen hinweg: sie wurde nach Vendôme geführt und neben ihrem Mann, Anton von Bourbon, bestattet.
Trotz ihre Fähigkeiten wurde sie eine Fußnote in der Geschichte Frankreichs: ihr Sohn wurde zwar als Heinrich IV. König von Frankreich, aber er wurde katholisch und aus den Hugenotten wurde, dank des Ediktes von Nantes 1598, eine geduldete Minderheit. Die Kirche, die Jeanne in Béarn aufgebaut hatte, wurde unter ihrem Enkelsohn, Ludwig XIII., verboten. 1685 wurde dann das Edikt von Nantes aufgehoben, und die Reformierten wurden grausam verfolgt. Viele flüchteten, viele konvertierten und viele wurden umgebracht. Die großen Hoffnungen, die die Hugenotten um Jahr 1560, als Jeanne konvertierte, hegten, erwiesen sich als trügerisch.
Wenn auch letztlich nicht erfolgreich, war sie dennoch bewundernswert. Mit dem Admiral Coligny zusammen hatte sie den Frieden von St. Germain errungen, dann eine Landeskirche aufgebaut und ihre Kinder gefördert. Sie war die reformierte Präsenz in der königlichen Familie und in ihren letzten Jahren wurde sie die Königin der Hugenotten.
Stammtafeln der Familie von Valois und der Familie von Bourbon (PDF)
Literatur
Quellen:
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Sekundärliteratur:
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Nielsen, Merete: Marie Dentière,
Für uns gestorben?
Ein Gemeindevortrag von Georg Plasger, Siegen
Liebe Gemeinde,
„Sie hört sich so harmlos an, diese Frage. Aber sie hat es in sich. Und sie wird ganz verschieden beantwortet. … Warum wurde Jesus gekreuzigt? Hier meine Antwort: Weil die Mächtigen Jesus mitsamt seiner Botschaft beseitigen wollten..
Andere sehen das anders. Zum Beispiel so: Weil Gott ein Sühneopfer brauchte wegen der Sünden der Menschen. Stellvertretend für uns litt er die Strafe und stillte so Gottes Zorn. Ich halte diese Antwort für falsch, obwohl viele Christen in dieser Richtung ihre Antwort suchen.
Nein, was wäre das für ein grausamer Gott, der ein Menschenopfer braucht, um damit seinen Zorn zu stillen! Und die Sache wird noch unappetitlicher, wenn dieser Mensch sein einziger Sohn ist!“
Mit diesen Sätzen beginnt eine der umstrittenen Andachten, die der im Ruhestand befindliche Bonner Superintendent Burkhard Müller in diesem Frühjahr im WDR gehalten hat.[1] Diese Andachten haben viele Gemeindeglieder beunruhigt. Sie haben die Kirchenleitung der Rheinischen Kirche zu in meinen Augen nicht nur glücklichen Reaktionen veranlasst. Die Frage, um die Burkhard Müller kreist, ist so neu nicht – und doch immer wieder brisant. Das Kennzeichen der Christen ist das Kreuz, der entscheidende Bezugspunkt ist, jedenfalls wenn wir auf Paulus achten, der Gekreuzigte. Und nun hat Müller mit vielen Menschen sehr liebgewonnenen Ansichten aufgeräumt. Schauen wir uns in einem ersten Schritt Müllers Argumente einmal genauer an.
Argument 1:
Zum klassischen Grundsatz: „Jesus starb, um uns die Sünden zu vergeben.“ sagt Müller: „…ich glaube das nicht. Ich glaube an die Vergebung der Sünden, aber ich glaube nicht, dass Jesus für unsere Sünden gestorben ist. … Gott hatte seinem Volk Israel schon Hunderte von Jahren, bevor Jesus in diesem Volk geboren wurde, gesagt: Gott ist der, der dir alle deine Sünde vergibt. Das klingt fast wie eine Definition Gottes. Er hat damals nicht gesagt: Leider müsst ihr noch ein paar Jahrhunderte warten, bis Jesus zur Vergebung der Sünden am Kreuz gestorben ist.“
Dieses Argument besagt: Sünden vergeben – das geht ohne diese grausame Tat. Sünden vergeben, das ist Gottes Wesen. Und deshalb ist die Deutung, dass erst der Tod Jesu die Sünden vergibt, gar nicht nötig.
Argument 2:
„Jesus ist nicht gestorben, um uns von unseren Sünden zu befreien. Er ist gestorben, weil die Mächtigen ihn nicht leben lassen wollten. Wir sollten nicht an einen Gott glauben, der zürnt und Rache sucht. Wir sollten an den Gott der Liebe glauben. Eine Liebe, wie Jesus sie gepredigt hat. Und für deren Wahrheit er bis zum Tode eingestanden ist.“ „Ein Gott, der ein Menschenopfer möchte, ist grausam. Mein Gott ist so nicht. Er verabscheut Menschenopfer.“
Das Argument ist hier das Gottesbild. Gott ist Liebe. Und Müller kann sich nicht vorstellen, dass Gott durch das Kreuz versöhnt werden muss, dass Gott den Tod seines Sohnes braucht, um nicht mehr sauer auf die Menschen zu sein, denen er vergeben will.
Argument 3:
Warum haben denn die frühen Christen diese merkwürdige Vorstellung entwickelt? Das lässt sich nach Müller erklären mit der jüdischen Umwelt. „Natürlich hatten die ersten Christen besondere Probleme damit, dass ihr Herr gekreuzigt worden war. Dieser Tod war eigentlich sinnlos. Aber sie versuchten, mit Bildern und Formeln diesem Tod dann doch einen Sinn zu geben. Sie fanden solche Bilder im Jerusalemer Tempel. Dort wurden Opfertiere getötet und es floss Blut, wie bei der Kreuzigung. So deutete man den Tod Jesu als eine Art Opferung.“
Etwas scharf gefasst sagt Müller hier, dass der alttestamentliche Hintergrund der letztlich in Müllers Augen archaischen Opferrituale unnötigerweise von den frühen Christen als Interpretament übernommen wurde. Die Anbindung ans Alte Testament – verständlich, aber nicht nötig, so Müller. Andere Bilder sind plausibler, und passen mit dem Gottesbild Müllers besser überein.
Gott kann doch Sünden einfach so vergeben. Gott braucht doch so etwas nicht. Wir brauchen, um den Tod Jesu zu verstehen, keine Anknüpfung an alttestamentliche Sühnevorstellungen.
Nun sind Müllers Ansichten nicht etwa neu. Es ließen sich in den letzten Jahrhunderten immer wieder Positionen finden, die so oder ähnlich reden.
I. Zum ersten Argument Müllers: Gibt es die Sündenvergebung erst im Neuen Testament?
Ich möchte Ihnen einen ganz kleinen Abschnitt aus dem Werk vorstellen, auf das sich Müller in seinen Andachten immer wieder kritisch bezieht: Es ist das Werk Cur Deus homo von Anselm von Canterbury. Anselm versucht der Frage nachzugehen, weshalb denn Gott in Jesus Christus Mensch wurde, in den Schoß einer Frau herabstieg, an den Brüsten saugte und schließlich sogar am Kreuz starb – das passt doch gar nicht zu Gott. Anselm geht davon aus – und damit greift er klassische Aussagen des Neuen Testaments auf – dass der Tod Jesu Christi wegen der Sünde der Menschen geschah. Und das Ziel in dem ganzen Werk ist es, Gottes Weg etwas besser zu verstehen.
Mittendrin taucht eine Frage auf, die auch Herr Müller hätte stellen können – und hier stellt sie Anselm an seinen Gesprächspartner Boso. Aber die Frage kennen wir vermutlich auch. Es ist die Frage, die heute immer wieder hochkommt, wenn man das Kreuzesgeschehen bedenkt und sich nicht einfach davon verabschieden möchte. Es ist eine Frage, die wir kennen, und die in den meisten von Ihnen schon mal da war und vielleicht sogar da ist. Diese Frage lautet: „Ob es Gott geziemt, die Sünde durch bloßes Erbarmen, ohne alle Abzahlung der Schuld, nachzulassen“. Also: War es denn nötig, dass Christus gekommen ist und dann sterben müsste, hätte Gott nicht viel einfacher sagen können: Mensch, Du bist zwar ein Sünder, aber ich vergebe Dir Deine Sünde! Und fertig.
Das wäre doch wirklich ein vollkommener Ausdruck von Barmherzigkeit gewesen. Einfach vergeben – und weg ist die Sünde. Und dann wäre der ganze „Umweg“ über das Kreuz, das so vielen Menschen heute Verstehensmühe macht, nicht nötig.
Genau das sagt ja Müller. Gott vergibt aus lauter Barmherzigkeit. Vergeben, das ist nun einmal Gottes Metier, wie der alte Heinrich Heine am Sterbebett gesagt haben soll. Also: Warum hat Gott dem Menschen seine Sünde nicht einfach vergeben? Dann wäre doch alles okay. Dann wäre des Menschen Zukunft wieder da und Gott könnte seinen Plan zum Ziele führen.
Anselm fragt also Boso, ob das nicht der einfachere Weg sei: ohne alle Abzahlung der Gott genommenen Ehre die Sünde nachzulassen? Dann würde ja auch deutlich werden, dass Gott keine Wiedergutmachung seiner Ehre braucht.
Und jetzt kommt Anselms Einspruch gegen diese so viele Probleme gar nicht erst aufkommen lassende Lehre: Nein! Das geht nicht! „So die Sünde zu erlassen ist nichts anderes als nicht bestrafen.“ (I,12)
Sünde ist jedenfalls im Horizont des Neuen Testaments nicht zu verstehen mit irgendwelchen Verstößen, Sünde ist kein moralisches Fehlverhalten. Sondern Sünde ist nur zu verstehen in der Beziehung von Gott und Mensch – oder genauer: sie besteht in der Beziehungsstörung von Gott und Mensch. Der Mensch ist, wir sind Gott nicht recht. Wir sind allzumal Sünder. Das ist keine populäre Redweise. Aber es ist beispielsweise für Paulus, aber auch für die ganze Reformation eine entscheidende Erkenntnis, ja man könnte sogar sagen: Die Erkenntnis, dass die Sünde den ganzen Menschen betrifft, dass ich mit jeder Faser meines Lebens Gott nötig habe und ihn selber nicht erreiche, das ist die Zentralerkenntnis der Reformation. Wir haben es nötig, dass wir – und so hat es Martin Luther immer gesagt – gerechtfertigt werden.
Aber wie kommt es zu einer solchen Sicht? Ist sie zu verstehen im Zeitgeist des Mittelalters, wo jeder Mensch ein sehr starkes Sündenbewusstsein hatte? Manches an reformatorischen Aussagen ist gewiss dort zu verorten. Und manche Selbstverständlichkeit, mit der die Reformatoren von der allgemein einsehbaren Sündhaftigkeit des Menschen ausgegangen sind, wohl auch.
Wenn wir einmal ins Neue Testament hineinsehen, dann ist zu sehen, dass die Jünger Jesu auch nicht von einem allgemeinen Sündenbewusstsein ausgegangen sind. Für sie war auch nicht von Anfang an klar, wozu das Kreuz gut war. Sie haben es zuerst als Niederlage verstanden. In der Ihnen allen bekannten Emmausgeschichte ist es ja deutlich: Die auf dem Weg nach Emmaus gehenden sind traurig und sehen im Tod Jesu das Ende. Aber dann gesellt sich zu ihnen ein Begleiter – Jesus, der auferstanden ist. Und der Auferstandene öffnet ihnen die Augen, indem er ihnen die Bibel, das Alte Testament auslegt. Und dann erkennen sie den Auferstandenen.
Das heißt: Ohne die Auferstehung ist das Kreuz nicht verstehbar. Aber weil dieser Jesus von den Toten auferstanden ist, war der Weg ans Kreuz wohl nötig. Und warum war er nötig? Warum stirbt gerade der, der unschuldig ist? Und die Antwort des Paulus – ich muss hier ganz knapp und summarisch reden – er stirbt, weil er unschuldig ist. Weil er sich in den Tod hinein begibt. Er stirbt für die Seinen. Und dann kommt die Frage auf: Ja, wieso war das denn nötig? Und die Antwort: Es ist nötig, damit du lebst. Aber – so lautet dann wieder die Frage – ist denn mein Leben mit Gott gefährdet? Ist denn meine Zukunft nicht klar? Und die Antwort: Wenn Gott seinen Sohn für Dich hat in den Tod gegeben, seinen einzigen Sohn, dann ist Gott das nicht leicht gefallen. Er hat alles dahingegeben, weil er die Rettung des Menschen wollte – deine Rettung.
Die Erkenntnis der Sünde – oder anders gesagt: Die Erkenntnis der Dimensionen der Sünde werden so erst deutlich. Ich bin Gott viel ferner, als ich es gedacht hatte – oder genauer muss man sagen: Ich war Gott viel ferner, als ich es gedacht hatte, denn Gott ist in Jesus Christus an meiner Stelle in den Tod gegangen. Er ist den Weg gegangen, der eigentlich mein Weg war. In ihm sind wir gestorben, kann Paulus formulieren – und dann auch, dass wir in ihm leben.
Müller hatte formuliert: Gott kann doch Sünden einfach so vergeben. Wer das sagt, obwohl er das neue Testament liest, hat – jedenfalls aus der Sicht von Paulus - seine eigene Situation noch nicht verstanden. Wer so denkt, verstehet den Menschen nicht als erlösungsbedürftig. Aber hier ist mit dem Neuen Testament, insbesondere mit Paulus, zu sagen: In Jesus Christus hat Gott die Welt mit sich selber versöhnt. Und auch Bonhoeffer hat gesagt: Macht die Gnade nicht zur billigen Gnade – Gott hat sich die Versöhnung etwas kosten lassen.
Die Reichweite der menschlichen Sünde, die Tiefe der Todesverfallenheit, so könnte man sagen, steht uns erst im Gekreuzigten vor Augen. Müller hat ja Recht: Aus der Perspektive der Sünde verstehen wir die Notwendigkeit des Kreuzestodes Jesu nicht. Aber aus der Perspektive des Auferstandenen wird sein Weg ans Kreuz als Weg für uns verstanden. Gott ging in die Fremde, um uns heimzuholen. Um uns zu befreien von der Sünde, um uns zu erlösen, um uns zu krönen mit Gnade und Barmherzigkeit.
II. Das Kreuz und die Liebe Gottes. Oder: Gott muss nicht versöhnt werden.
Burkhart Müller hatte in seinen Andachten gesagt, dass das Kreuz mit seinem Gottesbild nicht übereinstimme: Gott muss nicht versöhnt werden. Gott braucht das Kreuz nicht, er braucht kein Menschenopfer, um besänftigt, um versöhnt zu werden. Und ich sage: Recht so, Herr Müller. Sie haben Recht, dass Gott das Kreuz nicht braucht, um versöhnt zu werden. Aber – das sagt auch keiner. Das sagt heute kein ernsthafter Theologe, und das hat auch Anselm von Canterbury, auf den sich Müller immer wieder kritisch bezieht, gar nicht gesagt.
Die erste These Müllers war gewesen: Gott kann doch dem Menschen einfach so vergeben. Und ich habe versucht, deutlich zu machen, dass man das nur sagen kann, wenn man ein optimistisches Menschenbild hat.
Die zweite These setzt weniger beim Menschen als bei Gott an. Wäre es nicht ein viel barmherziger Gott gewesen, wenn Christus gekommen wäre und Gott gesagt hätte: Mensch, Du bist zwar ein Sünder, aber ich vergebe Dir Deine Sünde! Und fertig. Das wäre doch wirklich ein vollkommener Ausdruck von Barmherzigkeit gewesen. Einfach vergeben – und weg ist die Sünde. Und dann wäre der ganze „Umweg“ über das Kreuz, das so vielen Menschen heute Verstehensmühe macht, nicht nötig.
Ich sage hier: Wer so argumentiert, hat noch nicht ausreichend verstanden, was Barmherzigkeit nach dem Zeugnis des Neuen Testaments heißt. Müller hat eine ganz bestimmte Gottesvorstellung: Gott ist Liebe. Und Liebe tötet nicht. Denn das Problem ist, dass dann unser Verständnis von Barmherzigkeit und Liebe zum Maßstab dessen wird, was möglich ist – und woran sich Gott zu halten hat.
Wenn wir in die Bibel schauen, dann stellen wir fest, dass etwa Paulus das ganze Erlösungs- und Versöhnungsgeschehen mit dem Begriff „Rechtfertigung“ ausdrückt. Oder mit dem Begriff der Gerechtigkeit.
Ein zentraler Text der Bibel, der auch schon viele inspiriert hat, steht im Römerbrief. Ich zitiere einmal einige Verse:
„21 Jetzt aber ist unabhängig vom Gesetz die Gerechtigkeit Gottes erschienen - bezeugt durch das Gesetz und die Propheten -, 22 die Gerechtigkeit Gottes, die durch den Glauben an Jesus Christus für alle da ist, die glauben. Denn da ist kein Unterschied: 23 Alle haben ja gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verspielt. 24 Gerecht gemacht werden sie ohne Verdienst aus seiner Gnade durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist. 25 Ihn hat Gott dazu bestellt, Sühne zu schaffen - die durch den Glauben wirksam wird - durch die Hingabe seines Lebens. Darin erweist er seine Gerechtigkeit, dass er auf diese Weise die früheren Verfehlungen vergibt, 26 die Gott ertragen hat in seiner Langmut, ja, er zeigt seine Gerechtigkeit jetzt, in dieser Zeit: Er ist gerecht und macht gerecht den, der aus dem Glauben an Jesus lebt.“ (Römer 3,21-26)
Alle haben gesündigt, sagt Paulus. Und dann hat Jesus Christus durch die Hingabe seines Leibes – also durch seinen Tod am Kreuz – Gerechtigkeit geschaffen. Gott zeigt seine Gerechtigkeit, indem er den Menschen gerecht macht. Und das ist Barmherzigkeit. Das ist Liebe. Es ist also nicht die Auffassung des Neuen Testaments, als wäre das Kreuz nicht mit der Liebe in Einklang zu bringen, sondern das Kreuz Jesu Christi, die Hingabe Jesu selber für die Menschen – das war ein Akt der schlechthinnigen, der totalen Barmherzigkeit. Und es war ein Akt der Gerechtigkeit, weil Gott damit Recht behält gegen das Unrecht dieser Welt, auch gegen den sündigen Menschen, der ihm ständig nicht ernst nimmt, der ihn missachtet. Gott ist barherzig, indem er den Menschen Recht schafft. Indem er ihn nicht so lässt, wie er ist. Der Mensch wird ein anderer.
Und wenn Sie im Neuen Testament lesen, dass es heißt: Wer glaubt, ist eine neue Kreatur geworden, eine neue Schöpfung – dann gilt das auch im Blick auf Sie und mich. Wir können nicht an uns selber ablesen, dass wir rein geworden sind. Dass wir Gott recht sind. Dass wir – um es mit Luther zu sagen – mit Christus getauscht haben: Er die Sünde, wir das Leben. Das aber wird gerade im Kreuz deutlich. Aber – und das weiß auch Paulus – das ist nicht offensichtlich. Das Wort vom Kreuz ist eine Dummheit, eine Torheit für die, die nicht glauben. Aber für die Glaubenden ist es eine Gotteskraft.
Gott ist Liebe und er zeigt seine Liebe gerade so. Warum gerade so? Warum nicht anders? Weiß ich nicht. Er hat eben diesen Weg gewählt. Und wenn Gott diesen Weg gewählt hat, dann ist es ein guter Weg.
Gott ist barmherzig, weil er dem Menschen Zukunft schenkt. Und er ist gerecht, weil er treu ist, seiner Zusage treu ist – Gerechtigkeit, zedakah ist mit Gemeinschaftstreue zu übersetzen. Und das waren ja auch die großen Entdeckungen im Neuen Testament, dass Gerechtigkeit Gottes nicht die fordernde, sondern die schenkende Gerechtigkeit meint. Gott schenkt dem Menschen Gerechtigkeit. Und das aus Gerechtigkeit, die barmherzig ist, nicht aus einer der Gerechtigkeit widerstreitenden Barmherzigkeit. Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit streiten nicht gegeneinander, sondern umarmen sich, klingen zusammen, stimmen zusammen, machen den Menschen gerecht, geben ihm neue Zukunft. Leben, Gemeinschaft mit Gott.
Es ist nicht entscheidend, ob Gottes Handeln zu dem Gottesbild passt, das wir haben. Sondern ob unser Gottesverständnis sich von den Taten Gottes her versteht. Erst dann ist die Barmherzigkeit richtig verstanden, wenn sie von Christus, vom Kreuz her gesehen wird. Gottes Barmherzigkeit ist keine geschichtslose allgemeine Wahrheit, sondern hat sich in Christus ereignet und ist letztlich dort erst genau zu erkennen. Das Entsprechende gilt auch für die Gerechtigkeit. Gottes Gerechtigkeit wird gerade im Kreuz gefunden. Wer Gott wirklich ist, macht Gottes Weg in Jesus Christus deutlich. Gerade in der Niedrigkeit Jesu, in seinem Tod am Kreuz - da wird Gottes Herrlichkeit erst erkannt. Gottes Liebe ist Weg in die Niedrigkeit, in den Tod, ins Leben. Darin gründet alles.
Das zweite Argument Müllers lautet, dass ein grausamer Gott nicht zu dem Bild passt, das sich Müller von einem liebenden Gott macht. Hier ist für mich deutlich, wie sehr Müller Gott in das Bild presst, was er sich von Gott macht. Es passt doch nicht zu Gott, sagt Müller. Und ich frage: Woher weiß er das? Woher kennt er, was Gott kann und tut. Vielleicht gefällt ihm das nicht. Aber ist das die entscheidende Frage? Wenn ich mir meinen Gott selber zusammenbaue, dann könnte ich so wie Müller argumentieren. Aber dann wäre er nur ein Popanz.
Müller hat Recht damit, dass Gott keine Opfer verlangt, dass Gott nicht versöhnt werden muss. Aber das sagt auch keiner. Oder doch: fast keiner. Es ist billig, so zu argumentieren, weil auch Anselm, dem es immer unterstellt wird, so keinesfalls denkt.
Wie Gott ist, das erkennen wir im Kreuz Jesu Christi: Gott gibt seinen Sohn, sein Teuerstes, um uns zu erlösen. Da ist Gott als gnädiger, als barmherziger und gerechter Gott zur erkennen.
III. Opfer zur Sühne?
Die ersten Jünger haben nach dem Tode Jesu zunächst gedacht, dass alles zu Ende ist. Sie kennen die Geschichten. Erst der auferweckte Jesus Christus, von dem übrigens bei Müller nicht mit einem Wort die Rede ist, öffnet den Jüngern die Augen. Jetzt beginnen sie zu verstehen, dass das Kreuz nicht die Niederlage ist, sondern im Zeichen des Sieges über den Tod zu verstehen, zu interpretieren ist. Dieser Aufgabe stellt sich das Neue Testament. In durchaus verschiedenen Anläufen – und nicht immer deckungsgleich.
Matthäus setzt andere Akzente als Markus, und Paulus andere als Lukas. Aber gemeinsam ist allen, dass sie Antworten auf die Frage, was das Kreuz Jesu Christi bedeutet, mit Hilfe der Tora, der Heiligen Schrift, entwerfen. Das wird deutlich etwa in der Geschichte der Emmausjünger. Der auferstandene Herr erklärt den verzweifelten, dass der Weg ans Kreuz von der Treuegeschichte Gottes zu seinem Volk zu deuten, zu verstehen ist.
Müllers drittes Argument war, dass die Jünger die positive Deutung des Kreuzes aufgrund der im Tempel üblichen Blutopfer entwickelt haben, Opfer, die zur Versöhnung Gottes gedacht waren – so Müller. Auf dieses dritte Argument will ich jetzt noch eingehen.
Dabei beziehe ich mich vor allem auf renommierte Forschungsergebnisse von Otfried Hofius und Bernd Janowski, die alle nicht ganz neu sind. Paulus verwendet in seiner Interpretation des Kreuzes Jesu die Begriffe „katalasso“ und „katallagä“ – das heißt versöhnen und Versöhnung und auch „hilasterion“, das heißt: Sühne – wir haben es eben in Römer 3 gehört. Das Kreuz Jesu Christi schafft Versöhnung. Um diese Vorstellung recht verstehen zu können, ist es - und darauf legt Hofius großen Wert – nötig, das Alte Testament als Bezugsrahmen zu haben.
„Das Verständnis des Christusgeschehens als eines Geschehens der Sühne und Versöhnung erschließt sich nur auf dem Hintergrund des Alten Testaments – nämlich auf dem Hintergrund der alttestamentlichen Traditionen über die kultische Sühne. Die kultische Sühne ist ‚ein Zu-Gott-Kommen durch das Todesgericht hindurch‘ (H. Gese).“[2] Nach Hofius ist also ein sachgemäßes Verständnis der Versöhnung und der Sühne – er sieht ja beides zusammen – nur zu gewinnen auf dem Hintergrund des alttestamentlichen kultischen Sühneverständnisses. Und man könnte auch sagen: Auf dem Hintergrund des durch die neueren Forschungen von Hartmut Gese und seiner Schüler herausgefundenen Verständnisses der Sühne.
Um das zu verstehen, hole ich hier jetzt ein bisschen aus und nehme aus Bernd Janowskis Studien einige Hinweise auf: „Sühne als Heilsgeschehen“[3] und „Stellvertretung. Alttestamentliche Studien zu einem theologischen Grundbegriff“.[4]
Zentraler Begriff für Sühne im Alten Testament, zumindest in der Priesterschrift, ist „kaphar“. Nun sagt dieser Begriff aber nicht, wie lange Zeit angenommen wurde, dass kaphar eine menschliche Handlung bedeutet, in der der Mensch den Zorn Gottes zu besänftigen versucht, den Gott aufgrund der menschlichen Schuld hat. Dann wäre kaphar ein menschlicher Versuch, Gott umzustimmen, dann wäre Gott Empfänger der Sühne. Dem ist aber nicht so. Kaphar bedeutet die Vergebungsbereitschaft oder das vergebende Handeln Gottes. Und demzufolge ist die kultische Handlung eine von Gott gestiftete Heilshandlung, die dem Menschen zugute kommt.
Man kann das an der so genannten „Sündenbockerzählung“ aus Levitikus 16 gut verdeutlichen. Dort wird berichtet, dass einem durch Los bestimmten Bock durch Aufstemmen der Hände und Bekenntnis aller Verfehlungen die Sünden aufgeladen werden und dieser anschließend in die Wüste gejagt wird.
Nun ist diese Geschichte oft so verstanden worden, dass der Mensch bzw. das Volk Israel einem andern die Schuld auferlegt, einen anderen sozusagen zum Schuldigen macht und sich selber befreit. Und Gott nimmt dann dieses Opfer, das die Menschen gebracht haben, stellvertretend an. Gott wird eine Sühneleistung stellvertretend gebracht. So ist diese Geschichte oft verstanden worden. Aber das ist – so Janowski und mittlerweile viele andere – falsch. Denn es geht nicht um Selbstentschuldung des Volkes Israel, sondern um einen Akt, in dem stellvertretend etwas geschieht. Aber anders. Denn Gott allein vergibt die Sünde, die Schuld Israels. Und der Ritus verdeutlicht lediglich, dass mit dem in die Wüste gejagten Bock die Sünden fortgetragen werden: „‘Der Bock trägt auf sich alle ihre Verschuldungen fort in eine abgelegene Gegend“ – und ent-lastet damit die Kultgemeinde Israel von ihrer Schuld.“[5]
Urheber des Sühnegeschehens ist Gott und nicht der Mensch. Und nicht Gott wird versöhnt, sondern der Mensch. Dieses Verständnis von Sühne, dass nämlich durch dieses Sühnegeschehen neue Gottesgemeinschaft ermöglicht wird: Der Sündenbock trägt ja mit sich alle Schuld, alle Trennung von Gott in die Ferne, da wo sie nicht mehr belasten können, dieses Verständnis von Sühne ist ein kultisches Geschehen, was letztlich mit der Vorstellung der Versöhnung korreliert, weil ein gestörtes Verhältnis in Ordnung gebracht wird durch ein stellvertretendes Geschehen. Der Kultus ist sozusagen ein Angebot, sich das göttliche Geschehen zu veranschaulichen, es mit-zuerleben. Religion als Lebensform schafft nicht Wirklichkeit, sondern reagiert auf sie.
Für Hofius ist es wichtig, dass dieser Rückgriff auf das Versöhnungsgeschehen des Alten Testaments eben diese doppelte Dimension, die er in 2. Kor. 5 wahrgenommen hat mit seiner doppelten Dimension von Versöhnungstat und Versöhnungswort, enthält. Urheber der Versöhnung, sozusagen die Versöhnungstat, geschieht alleine durch Gott. Und das ist auch bei kaphar deutlich: Urheber der Versöhnung ist Gott, Gott wird nicht versöhnt, sondern hat die Versöhnung gewirkt durch die Entsühnung. Und deutlich wird das im geschehen des Kultes: Dort wird erkennbar, verdeutlicht, symbolisiert, illustriert, für den Menschen fassbar, was Gott tut und getan hat. Der Kult bewirkt nicht die Versöhnung, sondern bekennt sie.
Neben dieser Sündenbockerzählung, die die Struktur von Sühne im AT gut zeigt, erinnert Hofius und erinnern neben ihm andere vor allem an Deuterojesaja und da besonders an Jes 52,13 – 53,12, das so genannte Gottesknechtslied; hier ist explizit die Rede vom Sühnetod des einen. Und dieser Abschnitt ist in der neutestamentlichen Deutung als Interpretationsmuster verwandt worden, um den stellvertretenden Kreuzestod des einen zu verstehen.
Die Bezugnahme auf das Alte Testament beim Kreuzesgeschehen geschieht nicht, wie Müller es behauptet, um mittels der Opferterminologie Gott als zu Versöhnenden dazustellen. Sondern ganz anders. Das übrigens im NT nur ganz selten vorkommende Wort „Opfer“ (v.a. im Hebräerbrief) meint das nicht. Und die im Tempel dargebrachten Opfer dienen nicht dazu, um Gott zu versöhnen, sondern stellen die Versöhnungstat Gottes dar.
Gott wird nicht versöhnt – er versöhnt. Das ist die zentrale Aussage des Neuen Testaments, wenn es den Kreuzestod Jesu Christi als „für uns geschehen“ interpretiert. Und das ist auch die zentrale Aussage des Alten Testament, dass er seinem erwählten Volk treu ist und treu bleibt – auch da, wo es von dem gewiesenen Weg abweicht. Gott ist treu.
Das übersteigt unser menschliches Denkvermögen. Und es ist auch jetzt nicht so, dass ich genau sagen könnte: Darum war das Kreuz nötig. Folgende Gründe sind es.
Nein, wenn wir vorm gekreuzigten Christus stehen, dann ist das Staunen über den Weg Gottes das Erste. Und darum sind die Karfreitagslieder zu großen Teilen so passend, weil sie nicht in einer Zuschauerhaltung einherkommen, sondern fragen: Herr, was habe ich verbrochen …
daß man ein solch scharf Urteil hat gesprochen?
Was ist die Schuld, in was für Missetaten
bist Du geraten?
2. Du wirst gegeißelt und mit Dorn gekrönet,
ins Angesicht geschlagen und verhöhnet;
Du wirst mit Essig und mit Gall getränket,
ans Kreuz gehenket.
3. Was ist doch wohl die Ursach solcher Plage?
Ach, meine Sünden haben Dich geschlagen!
Ich, mein Herr Jesu, habe dies verschuldet,
was Du erduldet.
4. Wie wunderbarlich ist doch diese Strafe:
Der gute Hirte leidet für die Schafe;
die Schuld bezahlt der Herre, der Gerechte,
für seine Knechte.
[1] Die Andachten von Burkhard Müller finden sich in: http://chrismon-rheinland.de/cpr/docs/mueller_andachten.pdf; weitere Texte zum Thema: http://www.chrismon-rheinland.de/cpr/suehneopfer_dossier.html .
[2] Otfried Hofius, Versöhnung, in: Theologische Beilage 1.89 (in: RKZ 130/189), 2-4, 2f.
[3] Neukirchen 1982.
[4] Stuttgart 1997.
[5] Bernd Janowski, Stellvertretung. Alttestamentliche Studien zu einem theologischen Grundbegriff, Stuttgart 1997, 36.
Prof. Dr. Georg Plasger / Siegen