Fremde(s) aushalten – Migration und Aggression in Europa

Interview mit Sabine Dressler


© ErK

Migration ist eines der Hauptthemen der Bibel, so Dressler: "Die Bibel ist in der Tat sehr eindeutig, was den Schutz von ,Fremden“ angeht."

Warum ist es nötig, theologisch über Migration und Fremdsein nachzudenken? Ist die Bibel uneindeutig im Blick auf den Schutz von "Fremdlingen"?

Es ist natürlich immer notwendig, die Realität der Welt, in der wir leben, theologisch zu reflektieren. Kirche und Theologie lebt ja nicht abgehoben in einem Wolkenkuckucksheim oder Elfenbeinturm, sondern wir stehen als Christen mit beiden Beinen mitten in diesem komplexen und komplizierten Alltag stehen und wir fragen, was für uns, im Sinne der Bibel, „dran“ ist; ich könnte auch sagen: wozu wir berufen sind.

Die Themen Migration und Fremdsein gehören immer schon dazu, aber die Entwicklungen seit dem Sommer - auch wenn sie längst abzusehen waren - machen das Thema unserer Tagung “Fremde(s) aushalten - Migration und Aggression in Euopa“ in vieler Hinsicht noch dringender.

Die Bibel ist in der Tat sehr eindeutig, was den Schutz von „Fremden“ angeht. Migration insgesamt, aus ganz unterschiedlichen Gründen, ist eines der Hauptthemen der biblischen Schriften, also Auswanderung, Einwanderung, das Unterwegs-Sein, Leben im Exil und im Asyl mit allem, was dazu gehört, was daran schwierig, aber auch verheißungsvoll ist. Wer seine eigene Existenz vor den Erfahrungen des „wandernden Gottesvolkes“ versteht, ja auch, wer davon ausgeht, dass wir alle ein „Gast auf Erden“ sind, nicht mehr, aber auch nicht weniger, der schaut auf heutige Migration mit anderen Augen als mit denen der Angst vor „dem Fremden“. Und weil Migration in der Bibel so „normal“ ist, gibt es für den Umgang mit Fremden Rechtsordnungen, also klare Regeln.

Die Grundregel ist kurz und knapp: Erinnere Dich, Mensch, wer Du bist und woher Du selbst kommst, wenn Du einem Fremden begegnest. Dann weißt Du, wie sich das Fremdsein anfühlt und weißt auch, was der oder die andere braucht – von Dir.

Inwieweit hat Calvin eine "Migrantentheologie" hinterlassen?

Wenn wir davon ausgehen, dass jede Theologie kontextuell ist, also auch von den Erfahrungen dessen, der sie entwickelt, geprägt ist und genauso durch das Umfeld, dann ist Calvins Theologie generell die eines Migranten, eines Flüchtlings. Mehr noch, oder eigentlich in logischer Konsequenz, predigt Calvin zu Flüchtlingsgemeinden, ist Seelsorger derer, die vergleichbare Erfahrungen wie er selbst machen. Es heißt, für Calvin sei das Schlimmste, was einem Menschen widerfahren kann, ein Leben im Exil. In seinen vielen Briefen gehören die Erfahrungen von Flucht und Asyl zu Schlüsselthemen, aber genauso lässt sich in dieser Perspektive etwa sein Kommentar zu den Psalmen verstehen.

Schließlich: Seine hart kritisierte Erwählungslehre lässt sich anders und neu begreifen, wenn wir uns den Horizont von der eigenen Erwählung durch Gott in der Perspektive eines Flüchtlings vorstellen: Wem alles genommen wird, wer entwurzelt und ausgesetzt, verfolgt und an Leib und Leben gefährdet ist, der erfährt besonderen Vorrang bei Gott, der ist erwählt. Weil außer Gott niemand für den Verfolgten eintritt. Anders gesagt: erwählt zu sein, kann heißen, ohne Pass unterwegs zu sein, aber einen Platz, eine Zuflucht bei dem zu finden, der die Welt regiert. Und solche Glaubensgewissheit kann helfen, von einem auf den anderen Tag zu leben.

Diese Aspekte – und nicht nur in historischer Hinsicht, sondern in ihrer ganz aktuellen und akuten Bedeutung - werden auch die verschiedenen Beiträge der Tagung angehen, unter anderem aus Südafrika, Italien, den Niederlanden und Deutschland.

In welchen Verhältnis zu praktischer Flüchtlingshilfe steht die Tagung?

Nothilfe und ganz schnelles, praktisches Handeln war in den vergangenen Monaten – und wird es vielerorten noch lange sein – das Gebot der Stunde. Die Tagung bietet die Möglichkeit, das eigene Handeln noch einmal zu reflektieren und dient quasi auch der Selbstvergewisserung. Wir werden ja von anderen durchaus angefragt: Warum setzt du dich für die Rechte von Flüchtlingen ein? Warum nimmst Du unbegleitete Minderjährige aus Syrien und Afghanistan auf? Es müssen gar keine Pegida-mäßigen Sprüche sein – das steht noch mal auf einem ganz anderen Blatt - aber die z.Zt. diskutierte Frage einer sog. Obergrenze der Flüchtlingsaufnahme kursiert ja überall. Vor welchem Hintergrund antworten wir dann?

Wenn ich weiß, dass zu Calvins Zeiten die Stadt Genf in der Lage war, einen überproportional hohen Anteil von Flüchtlingen aufzunehmen, und wenn ich weiß, dass ganz Ähnliches für die Stadt Emden gilt, und wenn ich mir schließlich bewusst mache, dass dies die Geschichte meiner Kirche ist, mithin ein Teil meiner eigenen Prägung, dann kann ich sicherer argumentieren. Vergleichbare Erfahrungen finden sich übrigens auch in den vielen reformierten Gemeinden, die auf Hugenottengründungen zurückgehen oder z.B. durch Zuwanderung von Pfälzern oder Waldensern entstanden sind.

An #ParisAttacks hatte man bei der Tagungsplanung ja noch gar nicht denken können. Kommen die Terrorschläge vom 13. November dennoch ins Spiel?

Wir werden auch darüber diskutieren und diskutieren müssen – das fängt an bei der öffentlichen Debatte, ob mit den Flüchtlingen auch Terroristen einreisen könnten und geht weiter mit der Frage nach Bedeutung und Stellenwert von Integration. Wir werden mit dem international besetzten Podium nach der Integrationsfähigkeit und –bereitschaft von Kirche und Kirchengemeinden fragen. Damit geht es auch darum, wie wir leben wollen im Europa des 21. Jahrhunderts, das ein Teil einer globalisierten Welt ist und sich nicht – das haben wir gesehen – abschotten kann gegen die, die zum Opfer von Krieg und Elend und Katastrophenwerden und einer Welt- und Wirtschaftspolitik, an der wir beteiligt sind.
Dass Europa und solche schon symbolhaften Orte wie Paris zu Zielen von Terroranschlägen werden, ist furchtbar und birgt natürlich eine neue Angst, die zu manchen anderen noch dazukommt. Umso dringlicher ist zu fragen, wie Europa sich zukünftig ausrichtet und sich versteht. Dazu können wir als europäische Kirchen gemeinsam und in den jeweiligen Ländern eine Menge tun und, auch wenn das manchmal mühsam sein mag, dafür müssen wir miteinander lernen, was es bedeutet, heute Kirche zu sein.

Der Abschlussvortrag von Prof. Klaas Huizing aus Würzburg trägt den Titel: „Selfie Europa – Über Fremdheit und Heimat“. Ich schätze, diese Themen werden uns langfristig und nachhaltig beschäftigen, ob wir wollen oder nicht.

Was versprichen Sie sich persönlich von der Tagung?

Einerseits tatsächlich noch mal einen anderen Aspekt, vielleicht für manche eine neue Seite von Reformierter Theologie zu entdecken bzw. stark zu machen. Wir fragen ja danach, ob wir – mit dem Erbe dieser Theologie Calvins – als Reformierte eine besondere Verpflichtung Migranten gegenüber haben.

Und wenn es uns gelingt, die Aktualität historischer Traditionen und Glaubenserfahrungen und einst geschehenem kirchlichem Handeln zu verdeutlichen, dann kann das für die Teilnehmer nicht einfach nur informativ und interessant werden – was ja auch schon was wäre – sondern vielleicht ja ein Bewusstwerden der eigenen Stärke. Wir sehen, wie vieles Kirche und Kirchengemeinden und ihre Mitglieder in der aktiven Hilfe für Flüchtlinge tun und zu tun bereit sind. Die Tagung will darüber hinaus dazu beitragen, sich in einem größeren, internationalen Kontext mit anderen, die an anderen Orten mit denselben Herausforderungen beschäftigt sind, auszutauschen, zu vernetzen; auch zu merken, was Kirche ausmacht und wofür sie steht. D.h. dass wir Menschen aus möglichst unterschiedlichen Arbeits- und Lebensbereichen in Emden zusammenbringen. Und natürlich freuen wir uns über Teilnehmer anderer Konfession oder Religion, die sich für das interessieren, was Reformierte gerade sehr beschäftigt.


EKiR