Liebe Gemeinde,
der Predigttext steht bei Lukas im 18. Kapitel, Vers 9-14:
9 Er sagte aber zu einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis:
10 Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, […]
11 Der [eine] stand für sich und betete so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser [da].
12 Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme.
13 Der [andere] aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig!
14 Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.
Ich weiß, Sie sind alle recht bibelfest und haben sicher sofort bemerkt, dass ich da beim Vorlesen etwas verändert, etwas weggelassen habe: wer ‚der eine‘ ist und wer ‚der andere‘. Bitte vergessen Sie das doch einfach einmal für ein paar Minuten. Die Geschichte wird ja von Jesus als Gleichnis erzählt und ein Gleichnis handelt nicht von historischen Personen, sondern malt Typen vor Augen, die übertragbar sind auf andere Orte und Zeiten.
Ein Gleichnis zeigt uns überdeutlich, schwarz-weiß gewissermaßen, wo die Guten und wo die Bösen sind, wo die Gerechtfertigten und wo die Verworfenen. Und wie in unserer Geschichte die Rollen verteilt sind, haben wir vom ersten Religionsunterricht an gelernt.
Aber: Lassen Sie uns einmal ernsthaft überlegen, weshalb denn dieser erste Beter im Gleichnis gar so verwerflich sein soll? Was macht er eigentlich falsch, dass er für alle Zeiten zum Negativbeispiel geworden ist. Er hinterzieht keine Steuern, sondern gibt von dem, was er erwirtschaftet, bereitwillig Spenden an Brot für die Welt. Er raubt andere Menschen nicht aus, haut niemand übers Ohr, lädt sich keine Kinderpornos auf den Computer und macht keine krummen Geldgeschäfte mit Wucherzinsen. Und bei alledem hält er sich auch noch an die Sitten seiner Religionsgemeinschaft, will am Karfreitag nicht in die Disco und mäht am Sonntagmorgen nicht seinen Rasen. Also: ein durch und durch anständiger und sympathischer Mitbürger.
Was in aller Welt macht er denn falsch? Sogar seine Beziehung zu Gott ist vorbildlich. Sehr ordentlich protestantisch, sogar ausgesprochen reformiert. Er ist nicht stolz auf seine moralischen Leistungen. Von Hochmut keine Spur. Vielmehr weiß er sich Gott gegenüber zu Dank verpflichtet, dass er ihn vor Versuchung bewahrt und auf rechtem Wege geführt hat. „Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute …“ Wie viele Situationen im Leben gibt es nicht, in denen wir eigentlich so beten müssten: ‚Ich danke dir, Gott, dass du mich davor bewahrt hast, falsche Entscheidungen zu treffen, große Schuld auf mich zu laden, deine Weisungen ganz und gar zu verlassen.‘
So viel zum ersten Beter im Gleichnis.
Er ist ein Urbild protestantischer Tugend! Auch das haben wir spätestens im Konfirmandenunterricht gelernt: Gerettet wird, wer sich selbst seiner Sündhaftigkeit demütig bewusst ist. Unser halbes Gesangbuch ist voll von solchen Gesängen: O Mensch, bewein dein Sünde groß; Keiner Gnade sind wir wert; Mein Sünd‘ sind schwer und übergroß; Ich bin‘s, ich sollte büßen an Händen und an Füßen gebunden in der Höll und so weiter …Viele Menschen, die sich von der Kirche abgewendet haben, wollten sich von der Last einer solchen Erziehung befreien, die ihr Selbstbewusstsein und ihre Lebensfreude zutiefst geschädigt hatte, die es ihnen nicht erlaubte, auf gelungene Leistungen stolz zu sein. Und übersehen wir nicht: diese Arme-Sünder-Haltung konnte in eine ganz eigene Art von Hochmut einmünden. Je sündiger man sich gab, umso erhabener konnte man sich fühlen gegenüber allen anderen, die eben nicht die richtige bußfertige Gesinnung hatten!
Der reformierte Schriftsteller und Theologe Klaas Huizing hat solches Sünden-Gesinnungs-Christentum auf recht amüsante Weise in seinem Calvin-Buch beschrieben.
„An keinem anderen Ort der Stadt traf man auf eine vergleichbare Ansammlung protziger Autos wie vor der calvinistischen Kirche. Ja. Es waren protzige Autos, aber alle fuhren die Autos mit schlechtem Gewissen. […] Kaufte mein Vater sich einen neuen Wagen, ging er wochenlang zu Fuß zur Kirche, erst dann lenkte er nahezu demütig seinen neuen Wagen auf den Parkplatz. […] Ich habe meinen Vater nie gefragt, warum er sich Autos kaufte, für die er sich ein wenig schämte. Er lenkte den Wagen mit eingezogenem Kopf. Wie alle Calvinisten bildete er mit dieser Kopfhaltung ein Sicherheitsrisiko im Straßenverkehr.“[1]
Nun will ich beileibe unserem zweiten Beter im Gleichnis nicht unterstellen, es sei Äußerlichkeit oder Schauspielerei, wenn er „die Augen nicht aufheben [will] zum Himmel“, wenn er sich reumütig an die Brust schlägt, wenn er „ferne“ steht. Ich denke, wir alle kennen solche Momente aufrichtiger Scham und Reue. Nur kann das christliche Sündenbewusstsein auch zur Pose werden.
Und deshalb weiß ich nicht so genau, welchem Typus im Gleichnis wir eigentlich uns selber zurechnen müssen.
Denken wir denn nicht auch manchmal:
Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie die anderen Leute …
wie die Katholiken mit ihrem Heiligenglauben und ihrem Rosenkranz
wie die Muslime mit ihrem Ramadan und ihrem Gesetzesgehorsam
wie die jungen Leute mit ihren oberflächlichen Vergnügungen
wie die reichen Schickimickis mit ihrem gedankenlosen Luxus
wie …
Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie die anderen Leute, sondern ein reuiger Sünder. Gott ich danke dir, dass ich recht gläubig und rechtgläubig bin.
So – jetzt habe ich Ihnen dieses vertraute, lieb gewordene Gleichnis womöglich madig gemacht. Das kann ja wohl nicht der Sinn einer Predigt sein. Wie finde ich da noch zu einem guten Ende?
Nun – das mit den Zöllnern ist ja nicht so schwer nachzuzeichnen. Es gab gute Gründe, warum sie bei den Menschen in Galiläa und Judäa so verhasst und verachtet waren – Sünder schlechthin. Sie waren ja nicht einfach Zollbeamte. Nein, es handelte sich um so genannte publicani, also reiche Leute. Sie streckten den Römern die geschuldete Steuer vor, um sie dann beim Volk wieder einzutreiben. Und da gab es keine Kontrolle darüber, wie viel sie aus den armen Leuten herauspressten. Damit setzten sie sich nicht nur moralisch ins Unrecht, sondern aus der Sicht frommer Juden auch politisch: sie galten als Kollaborateure mit den Unterdrückern. Wenn Jesus sich mit ihnen an einen Tisch setzt, wie es in den Evangelien immer wieder berichtet wird, dann stößt er damit ganz unterschiedliche Menschen vor den Kopf: die Armen, die sich nicht zu Unrecht über ihre Ausbeuter aufregen, und die Leute aus der gebildeten Mittelschicht: Pharisäer und Schriftgelehrte eben, die den hemmungslosen Materialismus der Zöllner missbilligen und sie für Verräter am eigenen Volk halten. Wie hätte Jesus eindringlicher zeigen können, dass die Kranken einen Arzt brauchen und nicht die Gesunden,[2] dass er „das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken“ will.[3]
Aber wofür müssen die Pharisäer im Neuen Testament herhalten?
Jeder scheint zu wissen, warum sie die Bösen sind. Ich habe fast 20 Jahre lang Ethik unterrichtet. Und meine bekenntnislosen oder nicht mehr christlichen SchülerInnen hatten von vielem, was mit Religion zu tun hat, keine Ahnung. Aber wie ein Pharisäer ist, wussten immer alle: hochmütig, scheinheilig, gesetzestreu ohne Gnade. Typisch jüdisch eben. Dieses Bild vom Pharisäer hat sich in verhängnisvoller Weise über die Jahrhunderte ausgeprägt und auch in säkularisierten Zeiten gehalten. Ein Feind- und Schreckbild. Heute höchstens noch übertroffen vom Bild des strengen Muslims, der ganz in die Nähe eines islamistischen Terroristen gerückt wird. Feindbilder eben. Die Juden, die Freimaurer, die Mohammedaner, die Anarchisten, die Ossis ...
Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie die anderen.
Gegen das Feindbild des sprichwörtlich gewordenen Pharisäers scheint jede Aufklärung vergeblich. Da nützt selbst der religionsgeschichtlich gültige Hinweis nichts, dass Jesus selbst mit seiner Lehre den Pharisäern in vielen Überzeugungen ganz nahe stand, dass auch Pharisäer unter seinen Jüngern waren, z.B. Nikodemus.
Im neuen Testament findet eben nicht nur die Lebenszeit Jesu ihren Niederschlag, sondern auch die Zeit der ersten und zweiten Generation danach. Und da mussten nach der Zerstörung des Tempels die Jesus-Anhänger und die Synagogen-Juden miteinander ihre inneren und äußeren Kämpfe um den vermeintlich einzig wahren Glauben ausfechten. Feindbilder und Verfluchungen gab es da hüben wie drüben.
Hüten wir uns also, jedes Wort gegen die Pharisäer immer gleich als Jesuswort zu verstehen. Hüten wir uns, jede Kritik an Juden als Abgrenzung oder gar Ablehnung aus Jesu Mund zu nehmen. Wie hätte er als frommer Jude das tun können.
Wir sollten stattdessen auf den Erzählanlass achten, von dem Lukas berichtet: Jesus richtet sich an die, „die sich anmaßten, fromm zu sein, und verachteten die andern“. Fromme Anmaßung. Verachtung der anderen. Das ist es, was Jesus im Gleichnis missbilligt.
Ich höre den Pharisäer des Gleichnisses, wenn man „am Hindukusch unsere Freiheit verteidigen“ zu müssen glaubt, wenn man überall in der Welt als Schützer der „Menschenrechte“ auftreten will und wenn man am Stammtisch über verschleierte Muslimas herzieht.
Was lerne ich nun aus all dem? - Dass alles falsch ist, ganz gleich, was ich tue?
Wenn ich mich dankbar über das Gute freue, das mir gelungen ist, „erhöhe“ ich mich womöglich selbst. Und wenn ich mich selbst „erniedrige“ und meine Unvollkommenheit bekenne, bin ich womöglich eine unaufrichtige Frömmlerin.
Ich habe dich bei deinem Namen gerufen,
du bist wie du bist,
du bist du und ein Anderer ist anders,
du musst dich nicht erheben und du musst dich nicht erniedrigen –
ich habe dich erlöst, du gehörst für immer zu mir.
Und Jesus spricht:[5]
Kommt her zu mir alle,
mühselig vor Demut und beladen mit Hochmut,
ich will euch Mut machen.
Fürchtet euch nicht …
Amen
[1] Klaas Huizing: Calvin … und was vom Reformator übrig bleibt. edition chrismon 2008. S. 15
[2] Lukas 5,31
[3] Hes. 34,16
[4] Jesaja 43, 1
[5] Matthäus 11, 28