Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus.
Gottesdienste bringen uns zur Besinnung: Ich denke über mich und Gott und die Welt nach. Deshalb feiern wir auch an diesem Heiligabend Gottesdienst: unter strengen Auflagen präsentisch oder digital. Ich erfahre von Menschen, dass sie Gott begegnen. Einen Gottesdienst verlässt man anders als man ihn begonnen hat.
Zu den Hauptpersonen der Weihnachtsgeschichte gehören die Hirten. Wir wissen ganz wenig über sie. Sie bleiben sogar namenlos. Letztlich wissen wir über die Hirten nur das: Sie sind Menschen wie wir. Und deshalb dürfte ihnen nichts Menschliches fremd sein. Ihr Alltag ist geregelt. Überraschungen und Veränderungen sind nicht vorgesehen. Die Hirten werden vermutlich auch manchmal das Gefühl haben: Ich brauche immer wieder einen Anstoß, der mich berührt und bewegt. Vielleicht werden die Hirten auch die Gedanken kennen, die mir manchmal durch den Kopf gehen, wenn ich über mein Leben nachdenke: „Verzeihen kann ich mir nicht selbst. Mein Leben bleibt immer unverfügbar und gefährdet. Absichern kann ich es nicht. Erlösen kann ich mich nicht selbst.[1]“ Die Hirten sind Menschen wie ich, und nichts Menschliches ist ihnen fremd. Auch ich brauche immer wieder einen Anstoß.
Weihnachten berühren sich Himmel und Erde. Gott kommt den Menschen nah. Weihnachten erzählt von einem Anstoß, der viel in Bewegung setzt. Den Hirten wird gesagt: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“ (Lk 2,10f). Die Hirten hören: Gott wird Mensch. Er ist einer von uns. Er will mit mir zusammen sein und bleiben. Von ihm trennt mich nichts. Die Zukunft ist offen. Ich rechne damit, dass Gott mir helfen und eingreifen wird.
Die Hirten lassen sich überraschen – sie kommen ins Staunen. Sie begreifen: „Es gibt mehr als in mein Weltbild hineinpasst. Und die Gewissheiten von „oben und unten“, von „möglich und unmöglich“, die mein Leben bisher bestimmt haben, werden über den Haufen geworfen.[2]
„Fürchtet euch nicht“ ist nicht die Beruhigungspille, die Widerstand gegen Verhältnisse erstickt, die Menschen ums Leben bringen. „Fürchtet euch nicht!“ heißt auch nicht: „Lass gut sein ...“ Nein, damit wird uns gesagt: Gebt euch nicht zu früh zufrieden. Ich – euer Gott – bin noch nicht fertig mit dieser Welt. Liebe Festgemeinde, wir haben noch etwas zu erwarten. Gott will uns Menschen zu Werkzeugen seines Friedens machen. Er will, dass wir dankbar und zuversichtlich leben und getröstet sterben.
Einen Anstoß bekommen ist das eine. Sich anstoßen und bewegen lassen, ist das andere. Die Hirten lassen sich in ihrem Alltagsleben unterbrechen. Das himmlische Ausrufungszeichen – der Engelchor – mag der letzte Anstoß gewesen sein. Sie machen sich auf den Weg zum Stall nach Bethlehem, wo nichts Spektakuläres zu finden ist. Kein Befreiungsschlag, aber eine Befreiungsgeschichte kommt in Gang. „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“ (Lk 2,14). Das ist eine Ansage: Gott bringt der Welt Frieden und wendet sich den Menschen in Liebe zu. Diese Welt wird nicht sich selbst überlassen. Und diese Welt wird nicht dem Tod und seinen Helfershelfern überlassen. Wir Menschen werden nicht uns selbst überlassen. Und der Tod hat auch über unser Leben nicht das letzte Wort. Der Retter der Welt – zu finden in einem Stall. Offenkundig ist das Außergewöhnliche im Alltäglichen zu finden. „Fürchtet euch nicht!“ Die Hirten hören und glauben: die Zukunft ist offen.
Gott wirkt auch heute so, wie er in der Weihnacht gewirkt hat. Gott wirkt aber auch, indem er immer wieder Menschen zu Boten seiner Liebe und seines Friedens macht. Hier, liebe Gemeinde, kommen wir ins Spiel. Gefragt ist unser Ohr, unser Herz, unsere helfende Hand für die, die zu kurz kommen oder ums Leben gebracht werden.
Folgt auf weihnachtliche Hochstimmung der Alltagskater? Die Hirten gehen zurück in ihren Alltag: in Lebens- und Arbeitsbedingungen, die wenig menschenfreundlich sind. Sie hatten eine harte Arbeit und keine geregelten Arbeitszeiten. Und obwohl sie damals im ländlichen Palästina durchaus systemrelevant waren, wurden sie schlecht bezahlt.
Ihr Besuch an der Krippe, ihre Begegnung mit dem menschgewordenen Gott – das alles wirkt wie eine kurze weihnachtliche Unterbrechung. Ein bisschen wie der Besuch eines Weihnachtsgottesdienstes. Mehr nicht. Doch was die Hirten in dieser Weihnachtsnacht erlebt haben, verändert sie gründlich. Sie glauben: „Von Gott trennt mich nichts. Kein Wort, das ich sage; keine Tat, die ich tue, und keine Situation, die ich erlebe. Gott gibt mich niemals auf.“ Gott hält die Hoffnung wach – im Leben der Hirten und in meinem, in unserem Leben.
Auch ich glaube daran: In allem, was für uns Menschen bedrohlich, beängstigend und schwer ist: Gott, der Vater Jesu Christi, stärkt uns und ist tröstend an unserer Seite. Er hat das letzte Wort. Nicht der Tod – und auch kein Virus.
Von den Hirten heißt es: Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.(LK 2,20). Das Umkehren ist eine Alternative zum „weiter so“. Kehrt immer wieder um – sucht, was dem Leben dient[3]. So beginnt eine Befreiungsgeschichte, so beginnt mitten im Alltag immer wieder ein Fest des Lebens – nicht nur zur Weihnachtszeit. Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, wird unsere Herzen und Sinne durch Jesus Christus bewahren.
Amen.
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Gehalten in der Johanneskirche Düsseldorf, Heiligabend, 24. Dezember 2020, 16.30 Uhr
[1] Vgl. das äthiopische Sprichwort: „Den Dschungel in deinem Herzen kannst du nicht selber roden. Den Acker deines Lebens kannst du nicht selber bestellen. Das Wort, das dir hilft, kannst du dir nicht selber sagen.“
[2] Vgl. Matthias Drobinski, „Der Himmel ist offen“ in „Der andere Advent 2020“.
[3] Vgl. Hesekiel 18,32: „Kehrt um, damit ihr am Leben bleibt.“