Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1528–1572)
Jeanne d´Albret (1528–1572) war die bedeutendste Frau in der Geschichte der Hugenotten im 16. Jahrhundert. Besonders in ihrem Witwenstand, in den letzten zehn Jahren ihres Lebens, baute sie eine reformierte Kirche in Béarn auf und war das politische Oberhaupt der Hugenotten im dritten Religionskrieg (1568–1570). Nach 1570 versuchte sie, die Reformierten zu schützen und ihnen einen gesicherten Platz in der Gesellschaft zu verschaffen. Sie handelte für die Hugenotten den Friedensschluss von St. Germain 1570 aus, und durch die Heirat ihres Sohnes Heinrich (später Heinrich IV. von Frankreich) mit Margarete von Valois, Schwester des Königs Karl IX. von Frankreich, strebte sie eine enge Verbindung von Hugenotten und Katholiken an.
Keine andere Frau hatte eine solche Machtposition unter den Hugenotten in Frankreich inne. Sie war respektiert und gefürchtet in Rom und Madrid, alliiert mit Elizabeth von England und befreundet mit Katharina von Medici – keine unkomplizierte Freundschaft zwischen zwei starke Frauen.
Sie sorgte dafür, dass ihre Kinder – Heinrich und Katharina – im reformierten Glauben erzogen wurden. Jahrelang kämpfte Heinrich als Anführer der Hugenotten und von einer Machtbasis in Südfrankreich aus um die französische Krone, bis er 1589 König von Frankreich wurde und schließlich 1593 zum katholischen Glauben übertrat, um das Land zu befrieden.
Jeanne d´Albret war nicht nur Mutter ihres berühmten Sohnes, sie war auch selbst eine machtvolle Frau in Frankreich, da ihre Position als Anführerin der Hugenotten ihr einen Einfluss weit über die Grenzen ihres kleinen Königreiches zusicherte.
Jugend und Ehe (1528-1555)
Jeanne d´Albret wurde am 7. November 1528 auf dem Schloss Blois von Margarete und Heinrich II. von Navarra geboren. Ihre Mutter wusste angeblich, dass sie eine Tochter gebären würde, ihr sehnlichster Wunsch war freilich nach einem Sohn. Jeanne blieb das einzige Kind aus dieser Ehe, Margarete von Navarra gebar zwar kurz danach einen Sohn, der als Kleinkind starb, und alle übrigen Hoffnungen auf Schwangerschaften zerschlugen sich.
Die kleine Prinzessin konnte von ihrem Vater das Königreich Navarra erben, weil dort das salische Gesetz, das in Frankreich weibliche Thronerben verbot, nicht gültig war. Außerdem war das vicomté Béarn selbständig. Deswegen waren die zwei Großmächte Spanien und Frankreich zutiefst an diesen Grenzregionen interessiert. Frankreich wollte seine Südgrenze verteidigen, und Spanien beide Seiten der Pyrenäen besitzen, um in Frankreich einfallen zu können. Zudem war die väterliche Familie von Albret Großgrundbesitzer in Südwestfrankreich und damit Vasall des französischen Königs. Das frühere Aquitanien hatte mehrere hundert Jahre der englischen Krone gehört und war spät von England aufgegeben worden. Im 16. Jahrhundert wurde das Gebiet meistens als Guyenne bezeichnet.
In ihren jungen Jahren wuchs Jeanne in der Normandie auf. Ihre Mutter, Margarete von Navarra, hatte die Aufgabe, die königlichen Kinder ihres Bruders, Franz I., zu erziehen. Sie gab Jeanne in die Obhut ihrer Freundin Aymée de Lafayette, Vogtin von Caen. Man behauptet, sie sei die Vorlage für die Figur Longarine in Heptameron (vgl. Nielsen). Nach meiner Auffassung sind die Erzähler/innen im Heptameron, die sogenannten devisants, eher Typen als historische Persönlichkeiten, die Figur der Longarine ist allerdings eine sehr sympathische Frau mit Humor und Pfiff. Wenn Aymée de Lafayette die Vorlage zu Longarine abgegeben haben soll, deutet alles darauf hin, dass Margarete sie sehr schätzte und meinte, ihre Tochter sei bei ihr gut aufgehoben.
Jeanne wuchs in einem landadligen Milieu auf, umgeben von Wald, Wiesen und Tieren, mit den Mitgliedern der Familie von Aymée de Lafayette als Bezugspersonen, bis sie zehn Jahre alt war. Ihre Mutter sah sie selten, aber jedes Mal, wenn sie krank war, war Margarete sofort zur Stelle. 1538 ließ Franz I. sie nach Plessis-lez-Tours bei der Loire übersiedeln, da sie jetzt ein Alter erreicht hatte, wo sie auf dem Heiratsmarkt von Interesse war. Der König konnte über seine Verwandte entscheiden und Ehen arrangieren, wie es ihm passte.
1540 war es für Jeanne so weit. Herzog Wilhelm der Reiche von Kleve-Jülich-Berg hatte 1538 das Herzogtum Geldern geerbt. Sein Erbanspruch wurde von Kaiser Karl V. angefochten und auf dem Reichstag zu Regensburg wurde dem Kaiser Geldern zugeteilt. 1539 folgte Wilhelm seinem Vater auf dem Thron nach, und um sich vor den Ansprüchen des Kaisers zu schützen, arrangierte er eine Ehe mit Heinrich VIII. von England für seine Schwester Anna, und selbst verbündete er sich mit Franz I. Als Unterpfand für dieses Bündnis sollte er Jeanne d´Albret heiraten.
Was jetzt passierte, ist absolut ungewöhnlich: Jeanne weigerte sich. Die Zwölfjährige ließ ihrem Onkel wissen, dass sie den Herzog nicht heiraten möchte, und sie ließ zwei Schreiben aufsetzen, in welchen sie erklärte, dass sie gegen ihren Willen zu dieser Ehe gezwungen worden sei. Natürlich konnte sie sich nicht auf Dauer gegen den Willen des Königs auflehnen, aber bei der Hochzeitszeremonie am 14. Juni 1541 weigerte sie sich, zum Altar zu schreiten, stattdessen musste sie getragen werden. Ihr Jawort war nicht hörbar und wegen ihres Alters wurde die Ehe nicht vollzogen, der Herzog setzte nur symbolisch ein Bein in ihr Bett. Nach der Hochzeit kehrte er zurück nach Düsseldorf, während Jeanne vorläufig in Frankreich blieb.
1543 griff Kaiser Karl Kleve-Jülich-Berg an, der Herzog wurde geschlagen und musste Geldern Karl V. überlassen. Am Frieden von Venlo im September 1543 hob er das Bündnis mit Franz I. auf und verbündete sich stattdessen mit dem Kaiser. Damit war auch die französische Ehe hinfällig geworden, 1545 wurde sie vom Papst wegen Nichtvollzug annulliert, und der Herzog vermählte sich mit einer Nichte des Kaisers.
Nach kanonischem Recht durfte bei einer Eheschließung keine Zwang im Spiel sei. Die Eheleute mussten ihr Gelübde frei abgeben. Damals konnten junge Frauen aus adligen oder königlichen Familien sich ihre Ehepartner nicht selbst aussuchen, sondern wurden als politische Garanten vermählt, und die meisten fanden sich damit ab, weil das ihr Standesbild entsprach. Jeannes Ablehnung, so wie ihre Kenntnis des kanonischen Rechts, ist erklärungsbedürftig.
Eine mögliche Erklärung ist, dass ihre Eltern für sie eine Ehe mit dem Kronprinzen Philipp von Spanien anstrebten. Königin von Spanien war natürlich prestigeträchtiger als Herzogin von Kleve zu sein, aber vor allem erhoffte sich ihr Vater damit den spanischen Teil von Navarra zurückzugewinnen. 1512 hatten die Spanier Navarra, das Baskenland, bis zu den Pyrenäen erobert und den Albrets nur das winzige Gebiet auf der französischen Seite gelassen. Seitdem überlegten sich die Könige von Navarra, wie sie zu ihrem ganzen Erbe kommen konnten, und eine Ehe zwischen dem Infanten von Spanien und der zukünftigen Königin von Navarra würde genau dies herbeiführen.
Jeanne war möglicherweise auch beeinflusst von einer Erklärung der Ständeversammlung von Béarn, die eine auswärtige Ehe für ihre Kronprinzessin ablehnte.
Sah Jeanne d´Albret ihre Zukunft gefährdet durch eine Ehe mit dem Herzog von Kleve? Oder tat sie, was ihre Eltern wünschten, statt des Königs Willen zu erfüllen? Stammten ihre Kenntnisse des kanonischen Rechts von denen? Margareta von Navarra schrieb ihrem Bruder, sie habe keine Ahnung, was in das Mädchen gefahren sei, aber stimmt das? Hat sie Jeanne mit ihrer Ablehnung der Ehe geholfen aus Liebe (Cholakian & Cholakian), oder aus Ehrgeiz? Es besteht kein Zweifel, dass königliche Kinder damals frühreif waren und in jungen Jahren schon an ihre späteren Aufgaben geführt wurden, trotzdem ist die Zähigkeit und Sturheit des Mädchens erstaunlich.
1547 starb Franz I. und als Jeanne zwanzig Jahre alt war, bot der Nachfolger, Heinrich II. von Frankreich, ihr gleich zwei Heiratskandidaten an: den Herzog Franz von Aumale (der spätere erzkatholische Herzog Franz von Guise) und Anton von Bourbon, Herzog von Vendôme. Der letztere war Erbprinz und vielleicht deshalb für Jeanne die bessere Partie, obwohl er relativ arm war. Er war hochgewachsen – was für einen Bourbon eher selten war – und charmant, wie alle Männer in seiner Familie scheint er ein unverbesserlicher Schürzenjäger gewesen zu sein. Heinrich IV. von Frankreich, der vert galant, hatte seine ausgelebte Sexualität nicht von Fremden, ebenso wenig wie sein militärisches Können und seinen Mut.
Jeanne und Anton von Bourbon heirateten 1548 und sie war überglücklich. Heinrich II. schrieb in einem Brief, dass er selten eine Braut erlebt habe, die immer nur lachte. Diese Ehe war aus Liebe geschlossen, und Anton von Bourbon nahm seine Frau mit, als er in den Krieg zog. Der Kriegsschauplatz war Flandern, und da der Herzog Güter in Nordfrankreich besaß, zog Jeanne in den ersten Jahren ihrer Ehe von Schloss zu Schloss, immer in der Hoffnung, dass sie und Anton von Bourbon sich treffen könnten.
1551 gebar sie ihren ersten Sohn und gab ihn an Aymée de Lafayette, die sie selbst erzogen hatte. Ob nun Frau de Lafayette alt oder übervorsichtig geworden war, der kleine Herzog von Beaumont starb als Kleinkind, angeblich weil er von Wärme erstickt worden sei.
Bald wurde Jeanne wieder schwanger, und während ihr ältester Sohn in Nordfrankreich geboren war, sollte das zweite Kind in Béarn zu Welt kommen. Sie unternahm die lange Reise nach Süden und kam gerade rechtzeitig in Pau an, 14 Tage bevor sie von ihrem zweiten Sohn, Heinrich, auf dem Schloss in Pau entbunden wurde. Es wurde entschieden, dass dieser Junge in Pau bleiben sollte. Der Großvater, Heinrich d´Albret, wollte wahrscheinlich mit diesem kleinen Prinzen die Erbfolge in Béarn und Navarra sichern. Die Legenden von der rauen Erziehung Heinrichs seitens des Großvaters können jedoch nicht wahr sein, allein weil das Kind die ersten Jahre von Ammen betreut wurde, und der Großvater starb, als es zwei Jahre alt war. Es scheint in Béarn Sitte gewesen zu sein, die Lippen des Täuflings mit Rotwein und Knoblauch einzureiben, eine Taufe à la Gascogne, aber die Mär, dass Heinrich barfuß unter den Hirten in den Bergen aufgewachsen sein soll, ist reine Legende. Der spätere Hauslehrer Heinrichs, Palma Cayet, schrieb, als Heinrich schon König von Frankreich war, seine Biographie, und daher stammt der Bericht vom Opa und von seiner rauen Erziehung. Dieser Kindheitsbericht ist eher Propaganda des Königs, wie er gerne gesehen werden möchte.
Tatsächlich kam Heinrich in die Obhut der Familie de Miossens, die auf dem Schloss Coarraze wohnte. Die Frau, Suzanne de Bourbon-Miossens, war eine Cousine von Jeanne. Heinrich wurde demnach genau wie seine Mutter als Landadliger erzogen, und er wuchs in einer Familie mit anderen Söhnen auf, die als Erwachsene seine Gefolgsleute werden sollten. Als seine Mutter den Thron erbte, wurde er schon als Kleinkind als Kronprinz behandelt.
Die zwei Jahre zwischen Heinrichs Geburt 1553 und ihre Thronbesteigung 1555 verbrachte Jeanne wiederum in Nordfrankreich in der Nähe ihres Gatten. In dieser Zeit gebar sie einen dritten Jungen, der jedoch nicht lange lebte. Es muss hinzugefügt werden, dass Anton von Bourbon 1554 einen außerehelichen Sohn, Karl von Bourbon, mit einer Hofdame bekam. Jeanne hatte bereits mehrere Onkel, die illegitim waren, und sie scheint den kleinen Karl in ihrer Familie aufgenommen zu haben. Er wurde später Erzbischof von Rouen.
Erst als der Vater gestorben war, zog sie als Königin nach Pau und obwohl sie die Erbin war, ließ sich ihr Mann als König huldigen, was die Ständeversammlung eigentlich gar nicht wollte, dennoch ordneten sie sich dem Willen Jeannes unter.
Königin an der Seite von Anton von Bourbon (1555–1560)
Ihr Vater hatte Jeanne ein blühendes Land hinterlassen. Er hatte Industrien nach Béarn geholt, das Steuersystem effektiv gestaltet und für den religiösen Frieden gesorgt. Große Einkünfte entstanden auch durch seine Posten als Gouverneur und Admiral der französischen Krone in Guyenne. Anton von Bourbon bekam diese Posten nach seinem verstorbenen Schwiegervater, und später hat sein Sohn, Heinrich von Navarra, sie übernommen. Jeanne und Antoine standen als die größten Grundbesitzer Südwestfrankreichs finanziell sehr gut da.
1555 find Calvin seine missionarische Tätigkeit in Frankreich an. Reformierte gab es in Südwestfrankreich zu diesem Zeitpunkt längst, weil Margareta von Navarra sie mit Predigern unterstützt hatte und Gérard Roussel, einen Reformkatholiken, als Bischof in Orthez, eingesetzt hatte. Dieser Roussel war einmal Weggefährte Calvins gewesen, und dieser warf ihm vor, nicht konsequent genug zu sein, als er die Stelle als katholischer Bischof trotz seiner reformatorischen Sympathien annahm (CStA I,1).
Als Königin hatte Jeanne bei ihrer Krönung versprechen müssen, die katholische Religion zu verteidigen. Am selben Tag, nachdem sie diesen feierlichen Eid abgelegt hatte, schrieb sie an einen Vasallen, dem vicomte von Gourdon, und erzählte ihm, sie wolle über die Förderung des reformierten Glaubens im kleinem Kreis heimlich beraten. Dieser Brief ist Teil eines Briefwechsels mit zwei vicomtes de Gourdon, Vater und Sohn, die die gesamte Regierungszeit Jeannes überdauerte. Die Briefsammlung wurde im vorigen Jahrhundert entdeckt und gibt viele neue Einsichten in die Vorhaben und die Beweggründe Jeannes. Da die entdeckten Briefe uns nur als teilweise fehlerhafte Kopien vorliegen, haben viele Forscher die Briefe als Fälschungen abgetan (Text und Diskussion bei Bryson).
Der erste Brief vom August 1555 teilt uns mit, dass Jeanne schon zu diesem Zeitpunkt reformierte Sympathien deutlich aussprach. Sie schrieb dem vicomte, dass ihre Mutter sich zwischen den zwei Religionen nicht habe entscheiden können, und dass sie selbst aus Furcht vor ihrem Vater bislang nicht gewagt habe, sich offen zum Protestantismus zu bekennen. Das Edikt von Chateaubriant von 1551 verbot eindeutig jede „Ketzerei“ und deshalb schlug sie vor, die Reformierten sollten sich heimlich auf dem Schloss Odos treffen.
Es gibt sonst keine Quellen, die belegen könnten, dass Jeanne mit dem reformierten Glauben in Berührung kam. Es gab in ganz Frankreich zu der Zeit kleine zerstreute Gemeinden, sowie Prediger und Kolporteure, die reformatorische Bücher schmuggelten. Die wiederholten Verbote des Königs konnten das nicht unterbinden, sie führten nur dazu, dass Protestanten, wie Jeanne, sich heimlich treffen mussten.
In den Jahren nach 1555 verbreitete sich der reformierte Glaube mehr und mehr im Hochadel. Auch Anton von Bourbon wurde davon ergriffen, brachte reformierte Prediger nach Béarn und als er und Jeanne 1558 mit Heinrich nach Paris zogen, nahm er an großen psalmensingenden Demonstrationen außerhalb der Stadtmauern von Paris teil. Calvin war darüber hoch erfreut, denn er setzte in seiner Missionsarbeit gerne auf hochrangige Persönlichkeiten. Jeanne dagegen verhielt sich während dieser Zeit bedeckt.
In Paris kam sie mit ihrem vierten Kind, einer Tochter namens Katharina, nieder. Das kleine Mädchen war das einzige Kind, das bei Jeanne aufwachsen durfte, obwohl sie (natürlich) Erzieherinnen und Gouvernanten hatte.
Anton von Bourbon fiel nicht nur mit protestantischen Sympathien auf, sondern wie sein Schwiegervater versuchte er, den spanischen Teil von Navarra zurückzugewinnen. Heinrich d´Albret hatte seinen Besitz gut und gewinnbringend regiert, während Anton von Bourbon seiner Frau die Regierungsgeschäfte überließ, und selbst nur versuchte, ein größeres Königsreich für sich zu gewinnen. So konnte der spanische König Philipp ihm einen Tausch, erst mit dem Herzogtum Milano und später mit Sardinien, anbieten. Damit hätte Spanien den Sprung über die Pyrenäen geschafft und Südfrankreich bedrohen können. Wir würden solches Taktieren mit dem Feind Hochverrat nennen, damals räumte man freilich Adligen große Freiheiten ein, sich einen Herren auszusuchen, aber Anton von Bourbon wurde auch von den Zeitgenossen als unzuverlässig und unverantwortlich angesehen, und nicht zuletzt war er so politisch ungeschickt, dass es an Dummheit grenzte (Sutherland 1984).
Im Sommer 1559 starb Heinrich II. von Frankreich unerwartet. Sein Sohn Franz II. folgte ihm als nur fünfzehnjähriger Knabe auf dem Thron. In dieser Situation war die traditionelle Lösung, dass der erste erwachsene Erbprinz, Anton von Bourbon, ihn unterstützen sollte, und Calvin ermahnte ihn eindringlich, dieses Amt zu übernehmen und dabei den Hugenotten zu helfen. Anton von Bourbon verspielte diese Chance und überließ die Regierungsgeschäfte der Familie von Guise, besonders dem Herzog von Guise und dem Kardinal von Lorraine, die beide die antiketzerische Politik des verstorbenen Königs weiterführen wollten. Nach dem Tod Heinrichs II. bekannten sich mehrere hochrangige Adlige offen zum Protestantismus und es gab im März 1560 sogar einen hugenottischen Komplott, den König zu entführen und von seinen „schlechten Ratgebern“ zu trennen. Anton von Bourbon und sein jüngerer Bruder, der Prinz von Condé, beide notorische Reformierte, wurden wegen diesem Angriff auf den König angeklagt. Anton von Bourbon versprach Besserung, während sein Bruder, der Prinz Ludwig von Condé zum Tode verurteilt wurde. Nur der plötzliche Tod des jungen Königs rettete ihn vor der Hinrichtung. Da der neue König, Karl IX., ein zehnjähriges Kind war, brauchte Frankreich einen Regenten, nämlich den ranghöchsten Erbprinz Anton von Bourbon. Wiederum ergriff dieser nicht die Chance. Katharina von Medici ließ sich stattdessen als Regentin einsetzen und Anton von Bourbon wurde zum Generalstatthalter ernannt. Die Hugenotten mit Calvin an der Spitze waren zutiefst enttäuscht. In diesen Jahren hatte der reformierte Glaube großen Zulauf, es wurde von mehreren Tausend Gottesdienstbesuchern überall in Frankreich berichtet, von Abendmahlgottesdiensten, die zwei Tage dauerten und von Bekehrungen am Hof und im Hochadel.
1560 verließ Jeanne Paris, um zurück nach Pau zu fahren. Theodorus Beza, der engste Mitarbeiter Calvins, besuchte sie dort, und es entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit, die bis Jeannes Tod dauerte. Beza versorgte sie mit Predigern und Beratern für ihr Land. Im Dezember 1560 unternahm Jeanne den entscheidenden Schritt und bekehrte sich öffentlich zum reformierten Glauben. Während ihr Gatte nicht in der Lage war, sich an die Spitze der Hugenotten zu setzen, wurde sie jetzt die leitende Hugenottin in Frankreich.
Reformierte Königin (1560–1568)
Jeanne d´Albret war zweifelsohne eine tief religiöse Frau. Lange Zeit hatte sie äußerste Diskretion walten lassen, zwar mit ihrem Gatten reformierte Prediger gehört, aber sich niemals offen zum reformierten Glauben bekannt. Erst nachdem Anton von Bourbon sich mit dem Posten als lieutenant générale abgefunden hatte, kam sie aus der Deckung.
Es war eine Zeit, wo alle große Hoffnungen bzw. Ängste für den Protestantismus in Frankreich hegten. Drei wichtige Katholiken – der Herzog von Guise, der Konstabel von Montmorency und der Marschall St. André – schlossen sich zusammen, um Frankreich gegen die Reformierten zu schützen. Sie planten den Sturz von Anton von Bourbon und einen Angriff auf Genf mit der Hilfe des Herzogs von Savoyen, zu dessen Besitz Genf bis 1534 gehört hatte. Dieses Triumvirat war der erste Vorbote der katholischen Liga, die später Heinrich IV. hartnäckig bekämpfte (Sutherland 1973).
1560 war noch zu erwarten, dass der Protestantismus nach Frankreich gekommen war, um zu bleiben. Jeanne war sich sehr bewusst, welche Gefahren ihr von Spanien, vom Papst und von der mächtigen Familie von Guise drohten. Sie hatte noch die Hoffnung, dass der junge König Karl IX., Katharina von Medici und ihr Kanzler, der tolerante Michel de l´Hôpital, die Reformierten unterstützen würden, zumal die Königinmutter sich selbst von denen von Guise bedrängt fühlte.
Diese letzte Hoffnung erwies sich als trügerisch, aber niemals wich Jeanne später vom einmal eingeschlagenen Kurs ab. Sie konnte weder geldwerte Vorteile noch politisches Kapital aus ihren Glauben schlagen, dafür hielt sie konsequent an ihrer Überzeugung fest.
In Béarn machte sie erste vorsichtige Schritte, um das Land zu reformieren. Es gab schon Reformierte dort, und Prediger hatten angefangen, den neuen Glauben zu verbreiten, Jeanne aber träumte von einem reformierten Land, und fing langsam und vorsichtig an, diesen Traum zu verwirklichen.
Der erste Schritt war, den reformierten Glauben dem Katholizismus rechtlich gleich zu stellen. Die Kirchen wurden für beide Religionen geöffnet (das sogenannte simultaneum) und aus den Kirchen in Lescar und Pau wurden Bilder und Statuen entfernt, allerdings nicht in Form eines Bildersturms, sondern von den Behörden. Jeanne beschlagnahmte das kirchliche Vermögen nicht für sich selbst, sondern investierte es in Sozialfürsorge und Bildung.
Es ist klar, dass sie den reformierten Glauben einführen wollte, aber zu keinem Zeitpunkt vefolgte sie Andersgläubige, geschweige denn verbrannte sie. Immer setzte sie auf Überredung.
Im August 1561 begab sie sich wieder zum Hof. Überall wurde sie stürmisch von Hugenotten begrüßt, als ob sie „der Messias sei“, bemerkte verärgert der spanische Gesandte. Katharina von Medici hatte zu einem Religionsgespräch eingeladen. Dieses Gespräch fand in Poissy außerhalb Paris statt. Seitens der Krone war gewiss an eine Versöhnung oder gar einen Ausgleich zwischen den Religionen gedacht, die reformierten Teilnehmer mit Beza an der Spitze mochten jedoch keine Kompromisse eingehen. Beza wurde unterstützt von Calvin in Genf, der selbst zu krank war, um mitzukommen. Calvin war mit den Auftritten und Reden Bezas zufrieden, während z.B. der Admiral Coligny Beza als reichlich provokant wahrnahm.
Im Herbst 1562 blieb Jeanne mit ihren Kindern beim Hofe. Katharina von Medici suchte auch nach den Religionsgesprächen eine Übereinkunft mit den Protestanten, was in dem Edikt vom 17. Januar 1562 – auch Edikt von St. Germain genannt – gipfelte. Dieses Edikt, an dem der Kanzler Michel de l´Hôpital und Beza beteiligt waren, erlaubte es den Hugenotten, außerhalb der Städte Gottesdienste zu halten. Es war das günstigste Edikt, das sie jemals erlangen sollten, das Edikt von Nantes 1598 war ihm sehr ähnlich, aber nicht ganz so großzügig. Der Unterschied war, dass Heinrich IV. dafür sorgte, dass das Edikt von Nantes durchgeführt wurde, während alle frühere Edikte, so wohlgemeint sie auf dem Papier auch waren, von katholischen Behörden unterlaufen wurden, und der König zu schwach war, um für ihre Durchführung zu sorgen.
Im März 1562 massakrierte der Herzog von Guise eine reformierte Gemeinde, die innerhalb des Städtchens Wassy Gottesdienst feierte. Damit war die Versöhnungspolitik Katharinas von Medici gescheitert. Die Hugenotten unter dem Prinzen von Condé griffen zu den Waffen und Anton von Bourbon bat Jeanne den Hof zu verlassen. Er behielt seinen Sohn Heinrich bei sich, entließ aber dessen hugenottischen Hauslehrer. Jeanne beschwor ihren Sohn, nicht zur Messe zu gehen, und der junge Prinz hielt sich wohl auch ein paar Wochen daran, musste sich aber schließlich fügen. Nach ihrem Fortgang vom Hofe trat Jeanne eine monatelange abenteuerliche Reise durch Frankreich an, so gefährlich, dass die ersten Briefen von der Hand Heinrichs seine Ängste um seine Mutter bezeugen. Ihre kleine Tochter Katharina durfte sie behalten.
Im ersten Religionskrieg führte Anton von Bourbon die königlichen katholischen Truppen gegen die Hugenotten. Bei der Belagerung von Rouen wurde er verwundet und starb am 17. November. Der junge Heinrich blieb am Hofe in der Obhut Katharinas von Medici, die allerdings Jeanne gestattete, ihm wieder reformierte Hauslehrer zu geben. Sie sollte ihn erst 1564 wiedersehen.
Die Kirche in Béarn und Navarra
Ihre große Aufgabe sah Jeanne darin, die Reformation in Béarn durchzuführen.
Calvin stellte ihr Jean Raymond Merlin zur Seite, den früheren Professor für Hebräisch in Lausanne, wo er Kollege von Beza, dem Professor für Griechisch, und von Pierre Viret, dem Rektor der Akademie, gewesen war. Pierre Viret arbeitete nach seiner Zeit in Lausanne und Genf vor allem in Frankreich, besonders in den Kirchen von Lyons und Nîmes. Später sollte er für Jeanne d´Albret ihre Akademie in Orthez aufbauen. Merlin war übrigens mit einer Tochter von Marie Dentière verheiratet, derjenigen, die vor Jahren Jeanne eine selbstgeschriebene hebräische Grammatik zugesandt hatte (vgl. Graesslé13f.; Nielsen).
Merlin ging voll Eifer an die Aufgabe, eine reformierte Kirche in Béarn aufzubauen. Es gab viele Reformierte in Südfrankreich, aber meistens unter städtischen Eliten und Handwerkern. Die Reformierten waren meistens des Lesens fähig, vor allem des Lesen französischer Texte. In Südwestfrankreich sprach die Bevölkerung die langue d´oc, die alte oczitanische Sprache, in irgendeiner Form. Die Gascogne hatte ihre Sprache, in der ein Neues Testament und fünfzig Psalmen übersetzt wurden, und Béarn hatte béarnais sogar als Amtssprache. Hinzu kam, dass die Bevölkerung in Navarra Baskisch sprach. Wenn Merlin das ganze Land reformieren sollte, musste er diese Sprachbarrieren überwinden, denn die Landbevölkerung musste erreicht und für die Reformation gewonnen werden.
Jeanne d´Albret beauftragte eine Übersetzung des Neuen Testaments ins Baskische, und eine Übertragung der Psalmen, der Zehn Gebote, der Liturgie und des Katechismus Calvins in die Sprache Béarns. Der Anwalt, später Pastor, Arnaud de la Salette, stellte 1571 diese Übersetzung fertig, und obwohl sie erst 1583 gedruckt wurde, darf man annehmen, dass in der Zwischenzeit Manuskriptkopien verwendet wurden. Pastoren, die die béarnesische oder die baskische Sprache beherrschten, wurde händeringend gesucht, und von den Anderen wurde ausdrücklich verlangt, dass sie es lernen sollten. Katecheten, die vermutlich Landeskinder waren, wurden in die Gemeinden geschickt.
Allmählich verbot Jeanne katholische Riten und Gebräuche, zuerst die Fronleichnamsprozessionen, danach Maibäume und Jahrmärkte. Dann wurde die Messe abgeschafft. Der Dom von Lescar und die Kirche St. Martin in Pau wurden leergeräumt, und die dort befindlichen Schätze verkauft.
Für Merlin konnte dies nicht schnell genug gehen. In seinen Briefen an Calvin klagte er seine Not: die Bevölkerung sei stur – diese Holzköpfe! - und die Königin zu langsam und vorsichtig (CO 20, Nr. 3988 & Nr. 4061). Merlin hatte übrigens auch früher in Montargis Probleme mit Renée de France gehabt, Herzogin von Ferrara, die in ihrem Gebiet so vorsichtig war wie Jeanne in Béarn (vgl. Lambin, 2). Jeanne bekam Klagen auf der jährlichen Ständeversammlung, wo die Katholiken über den Verlust alter Freiheiten und Rechte klagten. In den sechziger Jahren musste sie mehrmals Aufstände niederschlagen.
Der Nachfolger für Merlin war Pierre Viret, der enge Freund Calvins. Er war Pastor und Rektor für die Akademie in Lausanne – mit Beza und Merlin als Kollegen – gewesen. Wegen eines Streits mit dem Stadtrat in Bern, übersiedelten 1559 alle Professoren nach Genf, um dort in der neu errichteten Akademie zu unterrichten. Von Genf begab Viret sich nach Frankreich, wo er in Lyon als Pastor arbeitete, danach leitete er die Nationalsynode in Nîmes und schließlich folgte er dem Ruf nach Béarn. Seine wesentlichste Aufgabe war es, die Akademie in Orthez aufzubauen. Die Fächer Theologie, Hebräisch, Griechisch, Philosophie und Mathematik wurden dort unterrichtet, während es keine Anzeigen für Professuren in Jura und Medizin gibt.
Vor ihrer akademischen Laufbahn absolvierten die Jungen eine fünfjährigen Ausbildung in einer Lateinschule (collège), während die Grundschule sowohl Jungen wie Mädchen unterrichtete, die Mädchen allerdings getrennt mit weiblichen Lehrkräften. Damit wurde das kleine Béarn das erste Land Europas, welches kostenlosen Unterricht für Mädchen zusicherte, und zwar mit der interessanten Begründung, dass sie so im Stande waren, ihr Brot zu verdienen und sich der Gesellschaft nützlich zu machen („Pareil rolle sera aussy faict des filles qui sont en bas aage et qui n´ont nul moyen de vivre et de s´entretenir, par toutes les églises, afin que de mesmes deniers et en écolle séparée elles soient enseignées, nourries et tenues par des femmes sages et pudiques, par leur industrie pouvoir aprés se nourrir et entretenir et servir au public“. Art. 32 der Verfassung der Akademie von 1566, zitiert nach Desplat 2004). Desplat unterstreicht die säkulare Ausrichtung der Ausbildung. Allgemein wird behauptet, der Zweck des Unterrichts in protestantischen Ländern sei, die Bevölkerung des Lesens der Bibel und des Katechismus zu befähigen. Hier werden nur die Vorteile eines Schulunterrichts für die Gesellschaft betont.
Die Akademie wurde 1566 geöffnet. Die ersten protestantischen Akademiegründungen in Frankreich fanden in Nîmes (1562) und Montpellier statt. Vorrangiges Ziel war es, die Kirchen mit Pastoren zu versorgen, da die Akademie in Genf die steigende Nachfrage der Gemeinden kaum nachkommen konnte. Da Papst Pius V. die katholischen Universitäten angewiesen hatte, Protestanten die Abschlüsse zu verweigern (Maag 2002, 140), brauchten junge Hugenotten ihre eigenen Universitäten, die dann auch gegründet wurden, vor allem in Leiden und Heidelberg, aber auch in Frankreich und benachbarten Gebieten wie Béarn, Orange und Sedan, die alle zu diesem Zeitpunkt unabhängig waren.
Jeanne hatte sehr gute Gründe, langsam und überlegt vorzugehen. Der Kardinal von Armagnac ließ sie wissen, dass sie die Bevölkerung Béarns in Ruhe lassen sollte, ihre Untertanen wollten ihren Katholizismus nicht aufgeben. Jeanne antwortete, dass sie in Béarn nur Gott über sich habe, dort könne sie ihrem Gewissen folgen, und in ihrem Land werde niemand wegen seines Glaubens verfolgt. Das letzte war ihr ein Anliegen, denn 1571 schrieb sie an ihren Statthalter, den Baron d´Arros, dass in ihrem Land niemand zum Glauben je gezwungen worden war und es auch nicht werden sollte („...intention n´a point esté et n´est encores qu´ilz soyent contraints par force et violence de se reanger à ladite Religion“, d´Aas 2002, 452).
Als sie sich bei der Einführung der Reformation in ihren Ländern unnachgiebig zeigte, zitierte der Papst sie nach Rom zwecks eines Ketzerprozesses. Da sie dieser Einladung nicht folgte, exkommunizierte er sie. Der Bann war eine ernste Bedrohung, da jeder katholische Herrscher jetzt das Recht hatte, ihre Länder an sich zu reißen und sie abzusetzen, eine Chance, die Philipp II. von Spanien sich nicht entgehen lassen würde. Katharina von Medici verteidigte deshalb Jeanne, weil sie keine spanische Präsenz auf der französischen Seite der Pyrenäen dulden wollte. Außerdem war sie eine Verfechterin der gallikanischen Freiheit der französischen Kirche und meinte deshalb, der Papst solle sich nicht in die Angelegenheiten der Kirche einmischen.
Königin der Hugenotten
Nach dem ersten Religionskrieg (1562-63) ließ Katharina von Medici den jungen Karl IX. mündig erklären und führte ihn mit dem Hof auf eine große Frankreichreise, die mehrere Jahre dauerte. Der Zweck dieser Reise war es, den König dem Volk zu zeigen, und damit die Loyalität der Bevölkerung zu erhalten. Jeanne wurde als Vasallin einberufen und stieß Ende Mai 1564 zum Zug in Macon.
Ihr Sohn Heinrich nahm auch Teil an diese Reise und seinetwegen stritten die zwei Königinnen sich, weil Jeanne ihn bei ihren protestantischen Gottesdiensten dabei haben wollte, und Katharina wünschte, dass er mit der königlichen Familie zur Messe gehe. Schließlich sandte Karl IX. Jeanne zu ihrem Besitz in Vendôme, während Heinrich als Gouverneur von Guyenne den Zug begleitete und in den Städten für den feierlichen Empfang des Königs sorgte.
Jeanne durfte nicht mit nach Bayonne, wo Katharina ihrer Tochter Elizabeth, Königin von Spanien, begegnen wollte. Philipp II. sandte als seinen Gesandten den Herzog von Alba, der auf dem Weg in die Niederlande war. Die Hugenotten waren später überzeugt, dass Alba und die Königinmutter in Bayonne ihre Ausrottung geplant hatten. Sicher ist, dass Alba in den Niederlanden mit aller Härte gegen die Protestanten vorging, und es ist durchaus möglich, dass er versuchte, Katharina auf seinen mörderischen Kurs einzustimmen. Schon 1568 – also vor der Bartholomäusnacht! – schrieb Jeanne, dass die Waffen, die gegen die Hugenotten verwendet werden sollten, in Bayonne geschmiedet worden seien (Ample déclaration).
Jeanne und Heinrich trafen sich später in Paris. 1566 ersuchte sie erneut um Erlaubnis, mit ihren beiden Kindern nach Béarn zu fahren, was ausgeschlagen wurde. Sie erhielt aber Erlaubnis, ihren Sohn in seinen französischen Ländereien herumzuführen, und Anfang 1567 reiste sie dann mit ihm nach Vendôme, und von dort setzte sie sich unerlaubt ab nach Béarn. Damit machte sie laut des Biographen Heinrichs, Pierre Babelon, aus einem französischen Prinzen einen Ausländer, und vor allem einen Hugenotten.
Von 1567 an arbeitete Jeanne für die Zukunft ihres Sohnes. Ihre Lebensaufgabe, schrieb sie selbst, sei: Gott, Königtum und ihr Blut. Mit Gott war die reformierte Religion, die wahre Kirche Gottes, gemeint. Mit dem König ihr Status als Vasallin und – trotz Béarn – als Französin, und mit dem „Blut“, die Familie, zuallererst ihr Sohn Heinrich. Er sollte von jetzt an kein Höfling mehr sein, sondern die Aufgaben eines Regenten lernen. Als ein Aufstand in Navarra niedergeschlagen worden war, wurde er dorthin geschickt, um die Basken zu befrieden. Als 14jähriger hielt er für seine Untertanen eine Rede, in welcher er ihr Fehlverhalten geißelte, ihnen die Gunst der Königin zusicherte, falls sie sich verbessern würden, und seinen berühmten Charme mit seinem Autoritätsanspruch verband.
Im Herbst 1567 versuchten die Hugenotten, die sich von der Aufrüstung des Königs bedroht fühlten, Karl IX. in ihre Gewalt zu bringen. Die Entführung missglückte, und die königliche Familie suchte, beschützt von den schweizerischen Söldnern, die die Ängste der Hugenotten verursacht hatten, Zuflucht in Paris. Die Hugenotten belagerten die Stadt. Im November wurden sie vor den Toren von St. Denis geschlagen und mussten sich in die Provinz zurückziehen, wo sie den Kampf bis zum Friedenschluss von Longjumeau im März 1568 fortsetzen.
Der Friedensvertrag war an sich nicht ungünstig für die Hugenotten, nur haperte es wie immer mit der Umsetzung. Katholische Behörden waren über die für die Hugenotten günstigen Bedingungen empört und setzten sie nicht um. Der Protestant La Noue schrieb in seinen Erinnerungen, dass der Krieg zwar viel Unheil bringe, aber dieser elende kleine Friedensvertrag sei viel schlimmer für die Reformierten, die in ihren Häuser umgebracht wurden, ohne dass sie sich zu wehren wagten („ …une guerre est misérable et qu´elle apporte avec soy beaucoup des maux…cette méchante petite paix est beaucoup pire pour ceux de la Réligion, qu´on assassinoit en leur maisons, et ne s´osoyent encores défendre“, d´Aas 2002, 382) Im Laufe des Sommers 1568 versuchten die Gruppierungen noch einmal miteinander zu reden, Karl IX. sandte einen Botschafter nach Béarn, und Jeanne verfasste ein Sendschreiben an den König mit dem Antrag, den Frieden in Guyenne wiederherzustellen.
In der Zwischenzeit fühlten sich der Prinz von Condé und der Admiral Coligny auf ihre Schlösser in Bourgogne zunehmend bedroht. Der Herzog von Alba wollte in den Niederlanden mit Feuer und Schwert den Protestantismus auszurotten, und Flüchtlinge berichteten ihnen von seinem Terror. Am 23. August 1568 flüchteten sie mit ihren Familien und Angehörigen über die Loire nach La Rochelle. Die Überquerung der Loire erinnerte fast an den biblischen Durchzug durchs Schilfmeer: so viele Hugenotten hatten sich angeschlossen, dass der Zug fast wie eine Völkerwanderung aussah, und die Loire hatte in der Augusthitze einen so niedrigen Wasserstand, dass Sandbanken in der Mitte auftauchten. Dementsprechend sangen alle Psalm 114 vom Auszug der Israeliten aus Ägypten, als sie hinüber waren. Die Parallele wurde noch einmal deutlich, als die königlichen Truppen, die sie verfolgten, wegen plötzlich einsetzenden Hochwassers den Fluss nicht überqueren konnten.
In dieser Situation war Jeanne zutiefst gespalten. Bislang hatte sie die Kriege moralisch unterstützt, aber nicht selbst teilgenommen. Falls es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen sollte, konnte sie immer mit ihren Kindern in der uneinnehmbaren Festung Navarrenx Zuflucht suchen. Sie hatte jedoch ihren Sohn, der als zukünftiger Führer der Hugenotten das Kriegshandwerk lernen sollte, und so musste sie wählen, ob sie in Béarn unter ihrem Volk bleiben oder sich den Hugenotten anschließen sollte: „ich hatte den Krieg im Bauch“ schrieb sie danach („J´eu la guerre en mes entrailles“, Ample declaration). Sie setzte den Baron d´Arros als Statthalter ein, und Anfang September begab sie sich in Eilmarsch nach La Rochelle (Cocula 2004). Dort konnte sie ihren Sohn dem Prinzen von Condé überantworten. Sie schrieb unterwegs eine Reihe Briefe an Karl IX., an Katharina von Medici, an ihren Schwager, den Kardinal von Bourbon und an die Königin Elizabeth von England, um ihren Entschluss zu begründen. Angekommen in La Rochelle schrieb sie eine Erklärung („Ample declaration“) um der Öffentlichkeit zu erklären, warum sie sich der hugenottischen Armee zugesellte.
Die Hugenotten unter ihren Anführer aus der königlichen Familie wollten nicht als Aufrührer dastehen. Sie behaupteten, die erzkatholische Partei sei schuld daran, dass königliche Befehle nicht vollzogen wurden. Die Katholiken mit ihren Verbindungen nach Spanien und Rom seien Landesverräter. Die Politik des Kardinals von Lorraine verdient laut Sutherland (1974) keinen anderer Namen. Wenn Jeanne vom Frieden sprach, meinte sie eine Duldung der Hugenotten in Frankreich. Die Forderungen der Hugenotten waren immer dieselbe: Erlaubnis, Gottesdienste zu feiern, Gerichte mit zur Hälfte hugenottischen Richtern, sichere Zufluchtsstädte – deren Anzahl schwankte in den Verhandlungen – und Zugang zu Ausbildung und Beamtenstellen gleichrangig mit den Katholiken. Die Provinz Languedoc unter dem moderat katholischen Gouverneur Montmorency-Damville war ein friedlicher Ort in den Religionskriegen, weil Damville den Hugenotten solche Rechte einräumte, und die katholische Bevölkerung sich damit abfand.
Im März 1569 fand eine Schlacht bei Jarnac statt. Der Prinz von Condé kämpfte mit, wurde verwundet und nach der Schlacht ermordet. Es gelang Admiral Coligny, die hugenottischen Truppen zusammenzuhalten, aber der Verlust des Prinzen war ein herber Schlag. Heinrich von Navarra war jetzt der ranghöchste Prinz, und zusammen mit seinem Vetter, dem gleichaltrigen Heinrich von Condé, wurde er jetzt Oberbefehlshaber über die Armee der Prinzen. In Wirklichkeit lag die Verantwortung für die Kriegsführung bei dem erfahrenen Admiral, und die beiden Prinzen wurden seine Pagen genannt.
Jeanne blieb in La Rochelle, während Coligny mit den Prinzen im Krieg war, und sie konnte, unterstützt von einem Rat adliger Hugenotten, die „Regierungsgeschäfte“ regeln. Sie schrieb an England und nach Deutschland. Sie unterzeichnete Erlässe, versuchte Geld für das Heer aufzutreiben, pfändete ihren schönsten Schmuck für einen Kriegsdarlehen an Elizabeth von England und ließ ein Kriegsschiff namens „Die Hugenottin“ bauen.
So wie sie immer behauptete, nicht gegen den König, sondern gegen seine schlechten Ratgeber zu kämpfen, so behauptete Karl IX., dass sie in La Rochelle von den Hugenotten gefangen gehalten wurde, und er ließ den Baron Terride mit einer „Befreiungsarmee“ in Béarn einfallen. In kürzester Zeit waren ganz Béarn und Navarra erobert und zum Katholizismus zurückgeführt. Nur der Baron d`Arros hielt im Navarrenx stand. Um ihre Länder zurückzuerobern, sandte Jeanne den Graf von Montgommery mit einer „Hilfsarmee“ nach Navarrenx. In noch kürzerer Zeit als Terride gebraucht hatte, verjagte er ihn aus Béarn. Die Befreiung von Terride wurde in Pau mit einem Festgottesdienst gefeiert, wobei Pierre Viret über Psalm 124, 7: „Unsere Seele ist aus dem Netz des Vogelfängers entkommen“ predigte.
Vom Winter 1569 bis zum Frühjahr 1570 führte Coligny sein Heer mit den Prinzen Heinrich von Navarra und Heinrich von Condé durch ganz Südfrankreich und von Provence nach Norden, bis er Paris bedrohte. Der König hatte kein Geld mehr, um Krieg zu führen, und musste notgedrungen Friedensverhandlungen einleiten. Im August 1570 wurde dann der Frieden von St. Germain geschlossen. Wiederum war Jeanne d´Albret diejenige, die auf Augenhöhe mit dem König verhandeln konnte. Der Vertragstext erklärt immer wieder, dass der König die Bedingungen seiner Tante erfüllen wollte (Sutherland 1980, Potter 1997).
Jeanne blieb vorläufig in La Rochelle. Im April 1571 fand dort die Nationalsynode der reformierten Kirchen Frankreichs statt. Theodor Beza kam aus Genf angereist, um die Synode zu leiten. Pierre Viret wollte teilnehmen, starb aber vorher, vermutlich hatte seine Gesundheit in der Gefangenschaft unter Baron Terride gelitten. Auf der Synode wurde das französische Glaubensbekenntnis von 1559 neu verhandelt und die endgültige Fassung als „Bekenntnis von La Rochelle“ beschlossen. Darüber hinaus wurde eine Kirchenordnung für Béarn beschlossen, und die Synode diskutierte Fragen, die Jeanne d´Albret gestellt hatte. Als Ersatz für Pierre Viret bekam sie Nicolas des Gallars zur Seite gestellt. Er war Calvins Sekretär gewesen, danach hatte er die „Strangers´ Church“, die Kirche für Ausländer in London, als Nachfolger für Johannes à Lasco geleitet und dann an Bezas Seite im Colloquium von Poissy 1561 gestanden. Er war Pastor in Orléans gewesen und wurde jetzt Seelsorger für Jeanne d´Albret und ihr theologischer Ratgeber für die Kirche in ihrem Land.
Er war eine gute Wahl, denn während Beza sehr an dem Konzept von Genf hing und ein presbyteriales Kirchenverständnis (Kingdon 1967) hatte, war des Gallars in England gewesen, als Königin Elizabeth nach dem Tod ihrer katholischen Schwester die anglikanische Kirche einführte. Außerdem behauptet Bernard Roussel (2004), dass er das Buch Martin Bucers „De regno Christi“ von 1550 mitbrachte. Dieses Buch ist dem englischen König Edward VI. gewidmet und beschreibt, wie ein König eine reformierte Kirche leiten kann. Damit hatte des Gallars ein Konzept für eine von einer Fürstin geleitete Kirche, die dann in den Jahren als Heinrich und Katharina von Navarra das Erbe der Mutter verwalteten, Bestand hatte.
Während Jeanne in La Rochelle noch weilte, ereilte sie ein Angebot von Katharina von Medici, ob ihren Sohn Heinrich die Tochter Katharinas heiraten mochte. Hugenotten und Katholiken würden sich versöhnen und die Häuser Valois und Bourbon sich nahekommen. Dieses Angebot war zu verlockend, um es auszuschlagen, aber Jeanne traute Katharina nicht so recht, jedenfalls wollte sie nicht gleich nach Paris ziehen, um über die Ehe zu verhandeln.
Stattdessen fuhr sie nach Pau zurück, führte die neu beschlossene Kirchenordnung ein und kümmerte sich um ihre Länder. Die Tuberkulose machte sich bemerkbar und sie wollte zur Kur in die Bergen fahren. Währenddessen zogen sich die Eheverhandlungen hin, bis Jeanne endlich im Frühjahr 1572 nach Paris zog. In den Briefen an ihren Sohn hört man von den Verhandlungen, von ihrer Missbilligung des höfischen Lebens und von ihrem Ärger mit Katharina. Jeanne wollte so viele Rechte wie möglich für ihren Sohn und die Hugenotten aushandeln. Am Ende musste sie es aufgeben, Margareta von Valois, Margot genannt, zum reformierten Glauben zu bekehren. Dafür hoffte sie aber, dass das Brautpaar nach Béarn ziehen würde. Eine königliche Mischehe war etwas ganz Neues und musste in Detail besprochen und geplant werden. Jeanne handelte das Meistmögliche für ihren Sohn aus und im April 1572 wurde eine Einigung erzielt. Heinrich sollte allerdings noch eine Weile in Béarn bleiben und Jeanne bereitete in Paris die Hochzeit vor.
Die zähen Verhandlungen im Frühjahr hatten viel Kraft gekostet, Jeanne hielt sich aber tapfer. Im Juni brach sie zusammen und starb am 9. Juni an der Tuberkulose, die sie seit Jahren geplagt hatte. Später entstanden Gerüchte, sie sei von Katharina von Medici vergiftet worden. Diese sollte ihr ein Paar Handschuhe, die von ihrem privaten Giftmischer präpariert worden seien, geschenkt haben. Da Katharina nach den Massakern von St. Bartholomäus, die in der Periode von August bis November 1572 stattfanden, von den Hugenotten als der Inbegriff des Bösen dargestellt wurde, gehört der Giftmord an Jeanne d´Albret zu den Verleumdungen.
Heinrich traf erst etwas später in Paris ein. Im Testament Jeannes hatte sie sich gewünscht, in Béarn bei ihrem Vater beerdigt zu werden. Ihr Sohn setzte sich über ihren letzten Willen hinweg: sie wurde nach Vendôme geführt und neben ihrem Mann, Anton von Bourbon, bestattet.
Trotz ihre Fähigkeiten wurde sie eine Fußnote in der Geschichte Frankreichs: ihr Sohn wurde zwar als Heinrich IV. König von Frankreich, aber er wurde katholisch und aus den Hugenotten wurde, dank des Ediktes von Nantes 1598, eine geduldete Minderheit. Die Kirche, die Jeanne in Béarn aufgebaut hatte, wurde unter ihrem Enkelsohn, Ludwig XIII., verboten. 1685 wurde dann das Edikt von Nantes aufgehoben, und die Reformierten wurden grausam verfolgt. Viele flüchteten, viele konvertierten und viele wurden umgebracht. Die großen Hoffnungen, die die Hugenotten um Jahr 1560, als Jeanne konvertierte, hegten, erwiesen sich als trügerisch.
Wenn auch letztlich nicht erfolgreich, war sie dennoch bewundernswert. Mit dem Admiral Coligny zusammen hatte sie den Frieden von St. Germain errungen, dann eine Landeskirche aufgebaut und ihre Kinder gefördert. Sie war die reformierte Präsenz in der königlichen Familie und in ihren letzten Jahren wurde sie die Königin der Hugenotten.
Stammtafeln der Familie von Valois und der Familie von Bourbon (PDF)
Literatur
Quellen:
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Nielsen, Merete: Marie Dentière,
…und häßlich stinken, weil es dem lieben Gott gefällt
Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion
I. Annäherungen
Alles verändert sich – auch die Sprache. Alles verändert sich, auch die Gedanken, die in der Sprache ihren Ausdruck finden. Manchmal sind die gedanklichen und die sprachlichen Veränderungen so groß, dass spätere Mühe haben, Sprache und Gedanken der Vorhergehenden nachvollziehen zu können.
Es gibt Sprach- und Gedankengrenzen, die das Bisherige derart in Frage stellen, dass man von epochalen Grenzen und Veränderungen ausgehen kann. Den Zeitgenossen erschließen sich diese Grenzen meist nicht in der Heftigkeit und in den weitreichenden Folgen, die sie zeitigen, aber den Nachgeborenen erscheint solch eine epochale Grenze oft unüberwindbar.
Am 27. April 1827 schreibt der Leiter der Berliner Singakademie, Karl Friedrich Zelter, an seinen Freund, Johann Wolfgang Goethe in Weimar:
„Das größte Hindernis in unserer Zeit, liegt freilich in den ganz verruchten deutschen Kirchentexten, welche dem polemischen Ernste der Reformation unterliegen, indem sie durch einen dicken Glaubensqualm den Unglauben aufstören, den niemand verlangt. Daß ein Genie, dem der Geschmack angeboren ist, aus solchem Boden einen Geist aufgehen lassen, der eine tiefe Wurzel haben muß, ist nun das Außerordentliche an ihm...“1
Im Zusammenhang unserer abendländischen Geschichte war die europäische Aufklärung solch eine Grenze. „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit!“2 – definierte Immanuel Kant – „Wage es, dich deines Verstandes ohne die Leitung eines anderen zu bedienen!“3. Die Autoritäten wurden angefragt: die Monarchien und der Adel, die pädagogischen Institutionen und die überkommenen Lehren der Medizin, der Physik und der Astronomie, natürlich waren die Kirchen angefragt und mit ihnen die biblische Botschaft – Dogma und das Adjektiv dogmatisch wurden zum Schimpfwort. Vernunft und Natur waren die Zauberworte der neuen Zeit, Gefühl und Wissenschaft, nicht mehr Glaube und Vertrauen.
Von uns aus gesehen liegen die Passionen, Oratorien und Kantaten Bachs vor dieser Grenze, die mit der Aufklärung gezogen worden ist. Manches ragt schon hinüber in die neue Zeit, anderes bleibt der alten verhaftet. Sprache und Gedankenwelt Bachs sind durchweg biblisch geprägt. Bachs Sprache ist weitgehend noch die Sprache Martin Luthers und der Theologen, die ihn treulich interpretierten.
Bachs Sprache ist noch die Sprache Paul Gerhardts, aber nicht die des Leipziger Professors Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769), der noch zu Bachs Zeit an der dortigen Universität Poesie lehrte.
Wenn ich, o Schöpfer, deine Macht,
die Weisheit deiner Wege,
die Liebe, die für alle wacht,
anbetend überlege:
so weiß ich, von Bewundrung voll,
nicht, wie ich dich erheben soll,
mein Gott, mein Herr und Vater!4
Für Bach noch wäre es undenkbar, sich auf einen theoretischen Standpunkt gleichsam Gott gegenüber zu stellen, um dann über seine Schöpfung zu sinnieren. Bach weiß sich selbst noch unmittelbar in die biblischen Texte verwickelt. Er ist nicht Zuschauer, er ist Beteiligter. Die Passion Jesu Christi hat unmittelbar mit ihm und mit seiner Gemeinde zu tun. Sein Textdichter Christian Friedrich Henrici (1700-1764), der sich als Poet „Picander“5 nannte, sieht es nicht anders. Uns dagegen liegt die nüchterne Sprache Gellerts weit näher als die Sprache Picanders, die Zelter als „Glaubensqualm“ bezeichnet.
Vergangene Sprache muss man entschlüsseln – gegenwärtige Sprache übrigens nicht selten auch - , man muss die vergangene Sprache lernen wie man eine Fremdsprache lernt, wenn man denn mehr als nur oberflächlich verstehen will, wenn man auch die offenen und die verborgenen Beziehungen zwischen Wort und Ton, zwischen Sprache und Musik an den Tag bringen will.
II. Die Bibel bestimmt die Sprache Johann Sebastian Bachs
Luthers Bibelübersetzung ist für die Entwicklung der deutschen Dialekte zu einer Kultur- und Schriftsprache von epochaler Bedeutung gewesen. Die Theologie und auch die Kirchenmusik folgen seiner „sächsischen Kanzlei-Sprache“. Aber es geht dabei nicht um lexikalisches und grammatikalisches Verständnis allein. Es geht auch um Anklänge und Verknüpfungen, verborgene Zusammenhänge, deren Zuordnung eines vertieften Bibelverständnisses bedarf.
Gerade die nicht-biblischen Texte der Matthäuspassion – aber auch der anderen Kantaten, Oratorien und Passionen ist voller biblischer Anspielungen. Die voraufgeklärten Menschen wussten anders mit der biblischen Überlieferung umzugehen, sie auf ihr eigenes Leben zu beziehen, und sie verfügten überdies über einen reichen Schatz an auswendig gelernten Bibelworten. Ein Beispiel aus der Bachschen Matthäuspassion:
Der Evangelist schildert die Gethsemane-Szene. Jesus bittet seine Jünger, mit ihm zu wachen und zu beten. Die Jünger sind müde und schlafen wiederholt ein. Jesus ringt mit Gott, ob es nicht einen anderen Ausweg gibt als den Weg in das Leiden.
„Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch von mir; doch nicht wie ich will, sondern wie du willt.“ (Matthäus 26, 39b.)
Der Schlüsselbegriff in diesem Gebet Jesu ist das Wort vom Kelch. Gemeint ist das Jesus bevorstehende Leiden, die Vorstellung, dass alles Künftige in einen Kelch gegossen ist, den Jesus austrinken muss, wenn er den Willen seines Vaters erfüllen will.6 Der in der hebräischen Bibel bewanderte Leser wird sich an ein Wort aus dem 2. Teil des Jesajabuches erinnern, in dem das Kelchwort ähnlich gebraucht wird:
„Werde wach, werde wach, steh auf, Jerusalem, die du getrunken hast von der Hand des Herrn den Kelch seines Grimmes! Den Taumelkelch hast du ausgetrunken, den Becher geleert.“ (Jes.51,17).
Wer (Alkohol) trinkt, der taumelt (irgendwann). Und wer taumelt, der hat jegliche Orientierung verloren. Der Taumel steht für das Verkehrte, der Taumelkelch für das Verkehrte der Welt, für die Sünde. Und wenn dann dieser Kelch ausgetrunken wird, werden muss bis zur Neige, mitsamt der ungenießbaren Weinhefe, dann ist das Maß des Schreckens, der mich überfallen kann, erreicht. Beim 2. Jesaja bleibt es Jerusalem erspart, den Kelch bis zur Neige mitsamt der nicht abgegossenen Weinhefe zu trinken. An Jesus geht dieser Kelch nicht vorüber.
Es ist das Verdienst der Theologin Elke Axmacher7, darauf hingewiesen zu haben, dass die Predigten des Rostocker Superintendenten Heinrich Müller (1631-1675) eine wichtige Quelle für das Verständnis der Matthäuspassion und ihres Librettos darstellen. Bei Heinrich Müller heißt es in seiner Passionspredigt:
Unsere Sünden drücken ihn nieder/ als eine Last / daß er zur Erden sincket. Er krümmet und windet sich vor Gott/ als ein Wurm/ ist willig und bereit/ sich gern zertreten zu lassen. Er thut vor Gott/ seinem himmlischen Vater/ den tieffsten Fußfall/ als der Mittler zwischen Gott und Menschen/ daß er uns mit Gott möchte aussöhnen. Hätte der Heiland diesen Niederfall nicht gethan/ so hätte uns nimmer die Gnaden-Hand Gottes auff- und angenommen.8
Es nennet der Heyland sein Leyden einen Kelch. In diesen Kelch hat ihm Gott eingeschencket den Grimm seines Zorns/ die Bitterkeit des Todes/ die Gall und Angst der Höllen. Mein Hertz/ das Creutz ist auch ein Kelch. Aber nicht hat dir Gott darein geschenckt Gifft/ sondern lauter Heyl und Artzeney; nicht den Todt/ sondern das Leben. David erkennts/ wann er sagt: Ich will den heilsamen Kelch nehmen/ Ps.116/ 13 ... Dein Jesus hat den ersten Trunck aus dem Creutz-Kelch gethan/ damit Er von seinen Lippen liesse hinein trieffen die Honig-Tröpflein seiner süssen Liebe/ daß die Bitterkeit des Creutz-Kelches versüsset werde. Ein Kelch ist dein Creutz. Ein Kelch hat ja einen Grund und Boden...9
Bachs Textdichter Picander formuliert, und die Beziehungen zu der Passionspredigt Heinrich Müllers sind unverkennbar:
Rezitativ (Baß)
Der Heiland fällt vor seinem Vater nieder;
Dadurch erhebt er mich und alle
Von unserm Falle
Hinauf zu Gottes Gnade wieder.
Er ist bereit,
Den Kelch, des Todes Bitterkeit
Zu trinken,
In welchen Sünden dieser Welt
Gegossen sind und hässlich stinken,
Weil es dem lieben Gott gefällt.10
Aria (Baß)
Gerne will ich mich bequemen,
Kreuz und Becher anzunehmen,
Trink ich doch dem Heiland nach.
Denn sein Mund,
Der mit Milch und Honig fließet,
Hat den Grund
Und des Leidens herbe Schmach
Durch den ersten Trunk versüßet.11
Günter Jena hat auf eine textliche und musikalische Besonderheit in der Arienkomposition hingewiesen12:
Bach verteilt den Text der Arie folgendermaßen:
Gerne will ich mich bequemen
Kreuz und Becher anzunehmen
Trink ich doch dem Heiland nach
Trink ich doch dem Heiland nach
Kreuz und Becher anzunehmen
Will ich gerne mich bequemen
Aus der Anordnung der Textzeilen im Verlauf des ersten Teils der Arie ergibt sich somit ein griechisches Chi, in der Bachschen Noten- und Tonsprache das Zeichen des Kreuzes: Nachfolge ist für Bach Kreuzes-Nachfolge. Grundsätzliches zur Auslegung des Bibeltextes wird hier deutlich:
- Der Evangelist Matthäus deutet das Kelchwort Jesu von seinem biblischtheologischen Hintergrund her, besonders in der Rede vom „Taumelbecher“ und dem „Zornesbecher“ Gottes.13 (Vgl. Jes.51,17)
- Heinrich Müller greift diese Deutung des Evangelisten Matthäus auf und führt sie weiter. Dem Kelch des Zorns entspricht den „Fußfall“ Christi. Diesen deutet er soteriologisch: Der Fußfall Christi ist die unabdingbare Voraussetzung für unsere Versöhnung. Im Bild des Kelchs gesprochen: Von Christi Lippen träufeln Honig-Tröpflein in den bittren Kelch. Müller erinnert an Psalm 116,13, wo vom „Kelch des Heils“ die Rede ist – eine unüberhörbare Anspielung auf das Abendmahl Jesu und das Abendmahl der Gemeinde.
- Picander folgt auf der ganzen Linie der Auslegung Heinrich Müllers. Er präzisiert das Verhältnis von Christi Fall und unserer Erhebung. Er verschärft die Aussage, indem er von dem Kelch spricht als dem Kelch, in den die Sünden der Welt gegossen sind „und häßlich stinken“ – eine Steigerung gegenüber Müllers Predigt und wohl ein Hinweis auf die Weinhefe, die zurückbleibt, wenn der Wein nicht richtig abgegossen wird.
- Entscheidend ist bei Picander, dass die vergangene Geschichte Jesu in Gethsemane unmittelbar mit dem gegenwärtigen Lebensvollzug der Christen in Verbindung gebracht wird. Das Trinken des Kelchs – symbolische Sprache im Wort Jesu selbst und in der Deutung wird offen für das Leben der Nachfolge, zumal kein Christ den Kelch so trinken muss, wie Jesus ihn getrunken hat.
- Indem Bach den Teil A der Arie in eine chiastische Form bringt, unterstreicht er, dass die Nachfolge Christi Kreuzesnachfolge ist. Die Auslegung führt unmittelbar zur Anwendung. Die bildreiche Sprache der Bibel und der barocken Auslegung erleichtert diesen Schritt auf der Textebene und auf der Ebene der Musik.
Wie sehr dieses Bild im Kelchwort Jesu in Gethsemane über die Matthäuspassion hinaus nachgewirkt hat, ist in der dritten Strophe des Sylvestergedichtes (1944/1945) von Dietrich Bonhoeffer nachzuspüren:
Und reichst du (Gott) uns den schweren Kelch, den bittern
des Leids gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus deiner guten und geliebten Hand.14
III. Die Tochter Zion – Passion und Brautlied
Eine Passionsmusik ist eine Vertonung des Bibeltextes vom Leiden und Sterben unter besonderer Berücksichtigung der in diesem Geschehen beteiligten Personen: Jesus und seine Jünger, die Frau mit dem Salbgefäß, der Hohepriester, Pilatus, seine Frau, das Hinrichtungskommando, der Verbrecher am Kreuz und der römische Hauptmann, der sich im Text des Matthäusevangeliums zum Gekreuzigten als dem Messias bekennt. Die Rollen und ihre unterschiedliche musikalische Darstellung als Soliloquenten oder Chor machen die Passionsmusik farbig.
Je mehr sich die italienische Oper mit ihren Formen von Rezitativ und Aria auch in Nordeuropa durchsetzt, finden solche betrachtenden Text- und Musikpassagen auch Eingang in die gottesdienstlichen und konzertanten Passionsmusiken für die Karwoche und besonders den Karfreitag. Text und Auslegung, Bericht und Kommentar verstärken die emotionale Wirkung der Passion, zumal die Gefühle, die im Secco-Rezitativ des Evangelienberichtes noch gezähmt bleiben, sich im Recitativo accompagnato und in der Aria und allen möglichen Mischformen ausleben können. Bei Händel, Mattheson, Stölzel, Graun und Telemann – um nur einige zu nennen – ist das nur zu deutlich hörbar.15
Nun reichen vielen Passionskomponisten und Passionslibrettisten des 18. Jahrhunderts die biblischen Rollen und ihre anonymen Kommentare allein nicht aus. Bereits im 17. Jahrhundert findet die „Tochter Zion“ ihren Platz in den dramatischen Passionsmusiken der norddeutschen evangelisch-lutherischen Kirchen. Die „Tochter Zion“ ist aus dem Buch des Propheten Sacharja Kap.9, 9-11 bekannt. Bei Sacharja heißt es:
„Du, Tochter Zion, freue dich sehr! und du, Tochter Jerusalem, jauchze!: Siehe dein König kommt zu dir: ein Gerechter und ein Helfer. Arm ist er und er reitet auf einem Esel, dem Füllen der lastbaren Eselin.“16
Es ist deutlich, dass Sacharja mit der „Tochter Zion“ das Volk Israel meint, das auf seinen Messias wartet. Bachs Textdichter Picander bringt diese Figur der Tochter Zion, die so beim Propheten Sacharja erscheint, mit den Texten des Hoheliedes Salomo in Verbindung. Schon im Alten Israel wurde die Sammlung der Liebeslieder, die unter dem Titel „Hoheslied Salomo“ – hebräisch „Lied der Lieder“17 herausgegeben und in die Sammlung der biblischen Schriften aufgenommen worden ist, auf das Liebesverhältnis Gottes zu seinem Volk gedeutet worden.
Vor allem die christliche Mystik des Mittelalters18 hat das Hohelied auf die Beziehung Christi zu seiner Gemeinde gedeutet: Christus, der Bräutigam, die Gemeinde die Braut. Christus der Liebende, die Gemeinde die Geliebte. In der mystischen Vereinigung, der Unio Mystica verschmelzen Christus und die Seele, werden eins, und damit kommt die Seele zu ihrem endgültigen Ziel auf ihrer Wanderschaft. In Martin Luthers Freiheitsschrift klingt diese Theologie der mystischen Erfahrung an, wenn Luther von der Vermählung der Seele mit Christus ihrem Bräutigam schreibt.19
In lutherischer Theologie hat die mystische Frömmigkeit durchaus ihren Ort. Sie durchzieht das Werk der Theologen Johann Arndt und Johann Gerhardt. Besonders geprägt sind die Lieder „Wachet auf, ruft uns die Stimme“20 und „Wie schön leuchtet der Morgenstern“21 von Philipp Nicolai, die ihrerseits lutherische Frömmigkeit nachhaltig bestimmt haben.
Schon im Mittelalter, etwa bei Bernhard von Clairvaux22 verbindet sich diese mystische Theologie mit einer ausgeprägten Passionsfrömmigkeit, die sich sehr am Leiden und konkret an den Wunden Jesu orientiert. Angelehnt an Passionspredigten des Bernhard von Clairvaux ist die lateinisches Vorlage des Liedes „O Haupt voll Blut und Wunden“23 formuliert. Dieser Choral ist in Bachs Matthäuspassion besonders hervorgehoben und strukturiert die Deutung des Passionsgeschehens aus der Sicht der glaubenden Gemeinde. Allein siebenmal in jeweils anderer harmonischer Verkleidung an den unterschiedlichen Stationen des Passionsberichtes erscheint dieser Choral auf die Melodie „Herzlich tut mich verlangen“24 von Hans Leo Hassler.
Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen
Sehet: Wen?
Den Bräutigam!
Seht ihn: Wie?
Als wie en Lamm!
O Lamm Gottes unschuldig
Am Stamm des Kreuzes geschlachtet
Sehet: Was?
Seht die Geduld!
Allzeit erfunden geduldig
Wiewohl du warest verachtet
Seht: Wohin?
Auf unsere Schuld!
All Sünd hast du getragen
Sonst müßten wir verzagen
Sehet ihn aus Lieb und Huld
Holz zum Kreuze selber tragen
Erbarm dich unser, o Jesu.
So ist die Doppelchörigkeit also bereits im Entwurf des Passionslibrettos angelegt. Im Eingangschor wird das deutlich: Frage und Antwort, stark verwurzelt in der mystisch gefärbten Anlehnung an das Hohelied Salomonis, dazu die zugleich deutende und bekennende Choralstrophe „O Lamm Gottes unschuldig“. So spielt das Geschehen mindestens auf zwei, wenn nicht drei Ebenen zugleich. Die eine ist die Ebene der Zuschauer, die Bach in zwei Gruppen teilt. Jeder Chor hat sein eigenes, vollständiges Orchester. Das Wechselspiel steigert die Dramatik und eröffnet grandiose Möglichkeiten der musikalischen Gestaltung und Wirkung. Die andere Ebene – wie schon gesagt, die Ebene der Teilnehme und der Deutung, die hier im Eingangsteil im Choralzitat erkennbar wird.
Die Matthäuspassion Bachs ist keine Rezitation, kein Bericht – sie ist es auch, aber schon in der musikalischen Gestaltung des Berichtes in den Secco-Rezitativen und den Turbae tritt die Deutung des Geschehens zutage. Man kann nicht berichten, ohne zu deuten und die musikalischen und poetischen Formen, die der Deutung vorbehalten sind25: Recitativo accompagnato, Arioso, Arie und Choral, erweitern die Deutungsmöglichkeiten, indem sie den musikalischen Ausdruck intensivieren.
Die Doppelchörigkeit durchzieht die gesamte Passion. Chor und Orchester sind aufgeteilt und vereinen sich zu den Choralstrophen wieder. Renate und Lothar Steiger haben auf die Theologische Bedeutung der Doppelchörigkeit in Bachs Matthäuspassion hingewiesen.26 Die Auslegung der biblischen Geschichte geschieht im Dialog von Text und Gemeinde, von Text und einzelnen Christen. Eine inhaltliche Zuordnung von Personen oder Themen zu einem der beiden Chören ist durchgängig nicht erkennbar. Sowohl Picander als auch Bach scheinen vornehmlich an den erweiterten formalen musikalischen Möglichkeiten interessiert, die sich mit der Doppel- oder sogar Drei-Chörigkeit im Eingangschor ergeben.27
IV. Die Tochter Zion und ihr mißratener Sohn
Die Tochter Zion ist in dieses Wechselspiel eingefügt. In einer ergreifenden Arie beklagt die Mutter, in diesem Fall: die Tochter Zion, den Verrat des Judas beklagt. Sie tut dies wieder mit dem Rückgriff auf alte biblische Bilder: Das Kind wird zur Schlange. Etwas anderes als Seufzen bleibt der zutiefst verzweifelten Mutter nicht, bis sie am Schluss der Arie zu einer wütenden Conclusio kommt: „denn es ist zur Schlange worden!“
Arie - Sopran
Blute nur du liebes Herz
Ach ein Kind, das du erzogen
Das an deiner Brust gesogen
Droht den Pfleger zu ermorden
Denn es ist zur Schlange worden.
Judas ist ein Kind der Tochter Zion. Er ist eine wirklich spannende Passion der Passionsgeschichte. Für viele ist er „der Jude“, und das Bild des christlichen Antijudaismus ist von der Person des Judas unheilvoll geprägt. Andere fragen: Was wird aus Judas nach seinem Selbstmord. Ist er verloren, im innersten Höllenkreis, wie Dante28 ihn sieht, oder gibt es eine Chance für Judas Ischarioth?
Bach und Picander geben ihre Antwort. Natürlich: Judas ist zur Schlange geworden – kein Zweifel. Wer seinen Gott verrät, der hat sich offen gegen ihn gestellt. Wütend bricht der Chor am Ende des 1.Teils in die Verfluchung des Judas aus:
Chor
Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden?
Eröffne den feurigen Abgrund, o Hölle,
verderbe, verschlinge,
zerreiße, zerschelle
mit plötzlicher Wut
den falschen Verräter, das mördrische Blut!
Im 2. Teil nimmt die Beurteilung des Judas eine entscheidende Wendung: Der Fluch gegen Judas ist vergessen. Jetzt ist Judas der verlorene Sohn. Eine biblische Anspielung, die alles andere als zufällig ist. Der verlorene Sohn findet zurück zum Vater, und der nimmt ihn wieder bei sich auf – trotz allem, was gewesen ist. Das ist „gute Nachricht für Judas Ischarioth“.29
Arie - Bass
Gebt mir meinen Jesum wieder
Seht, das Geld, den Mörderlohn
Wirft euch der verlorne Sohn
Zu den Füßen nieder
Noch einmal kommt die Tochter Zion zu Wort. Das Geschehen nimmt erbarmungslos seinen Lauf. Der Verrat des Judas war der äußere Grund der Passion – der innere Grund der Leidensgeschichte Jesu liegt viel tiefer – letztlich im Herzen Gottes selbst. Aber auch, als der äußere Grund wegfällt, indem Judas seinen Verräterlohn zurückgibt, nimmt die Leidensgeschichte unerbittlich ihren Lauf. Die Tochter Zion versucht, diesem Geschehen noch in den Arm zu fallen. Gebt mir meinen Jesum wieder! Die virtuose Violinstimme unterstreicht das dringende und drängende der Tochter Zion, beginnend mit dem großen Oktavsprung abwärts hat diese Violinstimme etwas atemloses. Es ist wie ein mächtiges, aber letztlich dennoch vergebliches Anrennen gegen die Hartherzigkeit der Welt, die ihren Gott opfert, indem sie Jesus ans Kreuz schlägt.
V. Die Passion Christi und das Leiden der Welt
Die Bilder der Katastrophe von Nordwest-Japan sind uns vor Augen [März 2011]. Wir haben zugeschaut, wie die gewaltige Welle den Tod hinter sich herzog und alles überrollte, was sich ihm entgegenstellte. Und noch mehr: Erst das Beben, dann die Flut, und dann, als sei das alles noch nicht genug: die unsichtbare Strahlung, hinterhältig und heimtückisch aber umso nichts weniger tödlich und vernichtend als die ersten beiden Katastrophen, nur viel, viel gefährlicher und lang anhaltender.
Kann man angesichts dieser Katastrophen überhaupt singen? Kann man angesichts dieser Massenkatastrophen noch das Leiden und den Tod des einen Menschen vor 2000 Jahren musikalisch zu reflektieren und Jahr für Jahr dieses musikalische Schauspiel wieder aufzuführen? Ist die Wiederholung der barocken Leidensmusik nicht eine Flucht aus der Wirklichkeit, eine Untreue dem Diesseits gegenüber. Ob man nach Auschwitz noch Gedichte schreiben könne, hat der Philosoph Theodor W. Adorno gefragt – und diese Frage betrifft die Aufführung der Matthäuspassion umso mehr.
Der Theologe Karl Barth schreibt in seiner Kirchlichen Dogmatik (IV/2)
Was hierzu zu sagen ist, mag beiläufig auch als Widerspruch gegen die Auffassung der Leidensgeschichte verstanden werden, die in J.S.Bachs „Matthäuspassion“ ihren klassischen Ausdruck gefunden hat. Über ihre rein musikalische Größe ist kein Wort zu verlieren. Sie will aber eine Auslegung der Kap. 26 – 27 des Matthäusevangeliums sein. Als solche kann sie ihren Hörer nur irreführen. Sie ist ein einziges, in fast ununterbrochenem Moll gewiß wunderbar wogendes Wolkenmeer von Seufzern, Klagen und Anklagen, von Ausrufen des Entsetzens, des Bedauerns, des Mitleidens: eine Trauerode, die in einem regelrechten Grabgesang („Ruhe sanft!“) ihren Ausklang findet, die durch die Osterbotschaft weder bestimmt, doch auch nur begrenzt ist, in der Jesus, der Sieger völlig stumm bleibt. Wann wird die Kirche sich darüber klar werden, und dann auch die Tausende und Tausende, die die evangelische Leidensgeschichte ausgerechnet nur in dieser Version kennen mögen, darauf aufmerksam machen, dass es sich in ihr um eine Abstraktion handelt, dass das bestimmt nicht die Passion Jesu Christi ist?30
Es gibt nicht nur eine moralische Kritik an der musikalischen Aufführung der Leidensgeschichte Christi. Es gibt auch eine theologische Kritik, die immerhin gehört sein will.
Damit wir es nicht vergessen: In Bachs Matthäuspassion und ihren Texten geht es um die letzten Tage im Leben des Jesus von Nazareth. Es geht um Verrat und Verlassenheit, es geht um Verhaftung und Verhör, um Folter, Hinrichtung und Begräbnis. Es ist eine unappetitliche Geschichte. Keine Geschichte, die man Kindern erzählen möchte. Vom Kreuz spricht man nicht – sagen die vornehmen Römer. Und wenn die Soldaten jemanden zum Teufel wünschen, dann sagen sie „i ad crucem!“ – geh zum Kreuz. Kreuz ist Pornographie in der antiken Literatur. Vom Kreuz schreibt man auch nicht. Die neutestamentlichen Passionsberichte sind die ausführlichsten Kreuzesschilderungen, die es in der antiken Literatur überhaupt gibt.31
Natürlich kann man diese Geschichte nicht in Musik setzen, genau so wenig, wie man sie in Worte fassen kann. Es käme ein Schrei dabei heraus, ein Wimmern vielleicht, ein wortloses Schweigen. Die Matthäuspassion ist nicht das Leiden Christi. Die Matthäuspassion ist eine ästhetisch geformte Weise, nach dem Leiden Christi und seiner Bedeutung für die glaubende Gemeinde und die gläubige Seele zu fragen. Sie ist Auslegung und Verkündigung, wie eine gute Predigt auch Auslegung und Verkündigung ist. Sie richtet sich dabei nicht nur an das vernünftige Fassungsvermögen der Menschen, sie richtet sich auch an ihr Herz, an ihre Emotionen. Die Verkündigung, die sie leistet, ist weder besser noch schlechter als andere Verkündigung – sie ist anders. Und darin hat sie ihre Würde und ihre Bedeutung.
Es stimmt, dass in Bachs Matthäuspassion – ganz anders als in seiner älteren Johannespassion der Blick auf Ostern eher verhangen ist. Vorherrschend ist die teilnehmende Trauer, die „Compassio“ – das begleitende Mit-Leiden. Vorherrschend ist der düstere Ton des Leidens. Auch die Choräle vermitteln nur wenig Lichtblicke. Lediglich das Jesus-Wort „Wenn ich aber auferstehe, will ich vor euch hingehen nach Galiläa“ (Matthäus 26, 32) weist über Tod und Grab hinaus auf die gemeinsame Zukunft Jesu und seiner Jünger nach Ostern.
Nicht zu vergessen ist auch das Bekenntnis des Hauptmanns des Hinrichtungskommandos. Anders als bei den anderen Äußerungen der unterschiedlichen Personen in der Johannespassion, lässt Bach seinen Part vom ganzen Chor singen. In der musikalischen Sprache Bachs mag das wie die Ostersonne sein, die das schreckliche Geschehen am Kreuz in ein neues, unerkanntes Licht taucht. Aber der Hauptmann aber und die bei ihm waren und bewahreten Jesum, da sie sahen das Erdbeben und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen.
Karl Barths theologische Sachkritik ist dennoch nicht ganz von der Hand zu weisen. Für Bach selbst war klar, dass die Matthäuspassion im Rahmen eines Karfreitags-Nachmittagsgottesdienstes aufgeführt wurde. Und der Gottesdienst wendet sich in seinen Gebeten und Texten an den Auferstandenen Herrn, auch wenn das ausdrückliche Thema dieses Gottesdienstes die Leidensgeschichte Jesu ist. Diesen Kontext haben wir für die Matthäuspassion nicht, und es ist aus den verschiedensten Gründen nur schwer vorstellbar, das dieses Werk wieder seinen Platz im Gottesdienst finden könnte.
Wir können nur darauf achten, dass wir Karfreitag und Ostern zusammensehen. Der Gekreuzigte ist von den Toten auferweckt und der Auferweckte kein anderer als der vorher Gekreuzigte. Die Johannespassion ist in dieser Beziehung deutlicher. Ob und wie man im Zuge einer Aufführung der Matthäuspassion darauf hinweisen kann, dass der Karfreitag überhaupt nur von Ostern her in den Blick zu nehmen ist.
VI. An Gott zweifeln – an Bach glauben?
„Es mag sein, dass nicht alle Musiker an Gott glauben; an Bach jedoch alle“33, sagt der ver- storbene deutsch-argentinische Komponist Mauricio Kagel (1931-2008). Dahinter verbirgt sich die einfache Frage: Ist nicht die Musik Bachs von ihren Texten ablösbar? Wäre es nicht denkbar, dass ein genialer Librettist den geistlichen Text der Matthäuspassion durch einen „weltlichen“ Text ersetzt? Solche Versuche hat es gegeben. In der Nazi-Zeit gab es die Versuche, die jüdischen Inhalte der Oratorien Georg Friedrich Händels in „arische“ umzuwandeln, um sie so in Nazi-Deutschland aufführbar zu machen.34 Zu DDR-Zeiten gab es Versuche, Bachsche Kirchenmusik entsprechend weltlich zu deuten, um sie dem dialektischen Materialismus einverleiben zu können und seine Aufführungen auch für das atheistische neue Deutschland zu retten.35
Kagels eigene Antwort war eine „Sankt Bach Passion“ zum 300. Geburtstag Johann Sebastian Bachs. Der Komponist Bach wird zum Gegenstand und Inhalt einer neuen Musik, die sich ganz von ihrem geistlichen Hintergrund getrennt hat. In einer Arie zu Beginn heißt es:
Dir, dir Sebastian will ich singen,
denn wo ist solch ein Bach wie du
dir will ich meine Lieder singen
ach gib mir deines Geistes Kraft dazu
Verleih mir, Höchster, solche Güte,
So wird gewiß mein Singen recht getan;
Und so hebt dein Geist mein Herz zu dir empor,
Daß ich dir Psalmen sing´ im höh´ren Chor. 36
Ist also die Musik die Konstante und der Text die Variable? Ist die Musik auch ohne den Text? Da die Bachsche Musik sehr von der Textentsprechung und der Textausdeutung lebt, wäre eine vollständige Ersetzung des Textes durch weltliche Inhalte nicht unmöglich, aber sehr schwer vorstellbar. Das sogenannte „Parodieverfahren“ indem Bach ursprünglich weltliche Musik in geistliche Werke übernommen und mit entsprechendem Text versehen hat, ist besonders dort gelungen, wo der geistliche und der weltliche Textdichter – in diesem Fall Picander ein und derselbe waren.
Wir können die Matthäuspassion nur als die Einheit von Text und Musik begreifen. Auch wenn der Text uns manchmal fremd erscheint und abständig, wenn wir Textpassagen als barock überladen und manchmal hart an der Grenze des Guten Geschmacks gelegen empfinden. Aber: Texte kann man zu verstehen suchen, man kann sich auf ihre Spur begeben, ihre Welt erschließen, ihre Umgebung plausibel machen. Und das werden wir auch immer wider tun, so gut es geht, zumal die Bach-Zeit in immer entfernteren Vergangenheiten versinkt und der Zugang zu dieser Zeit von Generation zu Generation mühsamer wird.
Natürlich haben wir dieses Musikwerk nicht für uns und die Kirche gepachtet. Bachs Musik gehört der Kirche genau so wenig, wie die Bibel der Kirche gehört. Bachs Matthäuspassion ist jedermann zugänglich, und jeder kann sie aufführen, der sie aufführen kann. Und andere führen sie auf in ganz unterschiedlichen Formen und Zusammenhängen. John Neumeier hat uns vor Jahren die Matthäuspassion als großartiges Ballett gezeigt.37 Andere versuchen szenische Darstellungen, Multi-Media Geschichten und anderes.
Wir sind vor allem für das verantwortlich, was wir tun. Wir sind für unsere Kirche und ihre Musik verantwortlich. Und wir haben zu entscheiden, wie wir mit der Musik und ihrer Botschaft umgehen, wie wir unsere Kirchenräume mit der Musik füllen – mich hat immer sehr beeindruckt, wenn Peter Schreyer die Evangelistenpartie von der Kanzel aus sang - wie wir unsere Aufführungen theologisch begleiten, wie wir Deutungshilfen anbieten. Hier ist eine Zusammenarbeit von Kirchenmusikerinnen und Theologinnen unumgänglich, wenn die große Kirchenmusik in dem Event an sich aufgehen soll.
Musizieren ist Arbeit, Zuhören ist auch Arbeit, genau wie das Verstehen. Wir erleben es, wie diese alte Musik gegenwärtige Menschen rührt, Menschen, die der Kirche und ihrer Botschaft längst entwöhnt sind. Ich weiß nicht, ob das die große misionarische Gelegenheit ist, Bachs Passionen aufzuführen. Es ist jedenfalls eine Gelegenheit zu sorgfältiger Arbeit an der Musik, am Text, und am Verstehen, damit die Passion dann auch das Ihre singen und sagen kann. Das tut sie offensichtlich hier und da, selbst dort, wo man es am allerwenigsten erwartet. Friedrich Nietzsche schreibt an Erwin Rohde am 30. April 1870:
"In dieser Woche habe ich dreimal die Matthäuspassion gehört, jedesmal mit demselben Gefühl der unermesslichen Verwunderung. Wer das Christentum völlig verlernt hat, der hört es hier wirklich wie ein Evangelium."38
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1. Carl Friedrich Zelter – Johann Wolfgang Goethe, Briefwechsel, eine Auswahl, hg. von Hans Günther Ottenberg, Leipzig 1987, S.322.
2. Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) In: Immanuel Kant, Was ist Aufklärung? Aufsätze zur Geschichte und Philosophie, hg. von Jürgen Zehbe, Göttingen 1967. S.55-61.
3. Ebd.
4. Christian Fürchtegott Gellert, EG 506,1.
5. Paul Flossmann, Picander: Christian Friedrich Henrici, Leipzig 1899.
6. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus II, S. geht davon aus, dass Matthäus selbst hier nicht an den Zornesbecher Gottes denkt, sondern an den Kelch des Heils aus Psalm 116.
7. Elke Axmacher, “Aus Liebe will mein Heyland sterben”, Untersuchungen zum Wandel des Passionsverständnisses im fühen 18. Jahrhundert, Beiträge zur theologischen Bachforschung, hg. Von Walter Blankenburg und Renate Steiger, Band 2, Neuhausen-Stuttgart 1984.
8. Heinrich Müller, Evangelisches Praeservativ wider den Schaden Josephs, in allen dreyen Ständen, Franckfurt 1681. S.240. Zit. Bei Axmacher aaO. S.173.
9. Ebd. S.243. Zit. Bei Axmacher aaO. S.174.
10. BWV 244, 22.
11. BWV 244, 23.
12. Günter Jena, Das gehet meiner Seele nah, Bachs Matthäuspassion, Erfahrungen und Gedanken eines Dirigenten, München, Zürich 1993, S. 179f.
13. Ulrich Luz, EKK Matthäus (II) S. geht allerdings davon aus, dass Matthäus sich mit seinem Kelchwort auf Psalm 116 und nicht auf den Taumelbecher bezieht.
14. Dietrich Bonhoeffer, Von guten Mächten wunderbar geborgen” in: Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft hg. Von Eberhard Bethge, Neuausgabe, München 1977, S.435f.
15. Das Libretto des Hamburger Ratsherren Johann Hinrich Brockes “Der für das Heil der Welt leidende und sterbende Jesus” (1712) ist in den 1. Hälfte des 18.Jahrhunderts mehrfach auf hohem Niveau vertont worden. Die bekanntesten “Brockes Passionen” sind die von Reinhard Keiser (1712) Georg Friedrich Händel (1716), Johann Heinrich Stölzel (1725), Georg Philipp Telemann (1719), Johann Mattheson (1718), Johann Friedrich Fasch (1717-1719). Vgl. Mags Marx-Weber Art. Barthold Hinrich Brockes in: MGG2, Personenteil, Band 3, Sp.958-961. Kassel, Basel, London, New York, Prag, Stuttgart, Weimar, 2000.
16. Sacharja 9,9-11
17. Schir ha Schirim.
18. Vgl. etwa die Schriften Meister Eckhardts, Mechthild von Magdeburgs, Gertrud von Helftas etc.
19. Martin Luther Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520) in: Martin Luther, gesammelte Werke hg. Von Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling, Band 2, S.258. “So wird die |Seele von allen ihren Sünden nur durch ihre Verlobungsgabe,6 das ist des Glaubens halber, ledig und frei und mit der ewigen Gerechtigkeit ihres Bräutgams Christi begabt. Ist nun das nicht ein fröhlicher Hausstand, da der reiche, edle, fromme Bräutigam Christus das arme, verachtete, böse Hürlein zur Ehe nimmt und sie von allem Übel frei macht sie mit allen Gütern zieret? So ists nicht möglich, daß die Sünden sie verdammen, denn sie liegen nun auf Christus und sind in ihm veschlungen. So hat sie so eine reiche Gerechtigkeit in ihrem Bräutigam, daß sie abermals wider alle Sünden bestehen kann, ob sie schon auf ihr lägen. Davon sagt Paulus 1. Kor. 15, 55 ff.: »Gott sei Dank, der uns eine solche Überwindung in Christus Jesus gegeben hat, in welcher der Tod mit der Sünde verschlungen ist.«
20. EG 147, Philipp Nicolai 1599, „Freudenspiegel des ewigen Lebens“
21. EG 70, Philipp Nicolai 1599, „Freudenspiegel des ewigen Lebens“
22. 1090-1153. Zisterziensermönch, Kreuzzugsprediger und Mystiker in Frankreich.
23. EG 85 (1656) – Salve caput cruentatumdesArnulf von Löwen vor 1250.
24. EG 85.
25. “Aus dem allen lernen wir, daß es nicht genug gepredigt sei, wenn man Christi Leben und Werk obenhinund nur als eine Historie und Chronikengeschichte predigt, geschweige denn, so man seiner ganz schweigt und das geistliche Recht oder andere Menschengesetze und - lehren predigt. Ihrer sind auch viele, die Christus so predigen und lesen, daß sie ein Mitleid über ihn zum Ausdruck bringen, mit den Juden zürnen oder sonst mehr kindische Weise darinnen üben. Aber er soll und muß so gepredigt sein, daß mir und dir der Glaube draus erwachse und erhalten werde. Dieser Glaube erwächst dadurch und wird erhalten, wenn mir gesagt wird, warum Christus gekommen sei, wie man seiner ge-brauchen und genießen soll, was er mir gebracht und gegeben hat. Das geschieht, wo man die christliche Freiheit recht auslegt, die wir von ihm haben, und wie wir Könige und Priester sind, aller Dinge mächtig, und daß alles, was wir tun, vor Gottes Augen ange-nehm und erhöret sei, wie ich bisher gesagt habe." Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen“ aaO. S. 262f.
26. Die Bedeutung der Doppelchörigkeit in Bachs Matthäuspassion, in: Festschrift Alfred Dürr aaO. S. 275-286. “Wir gehen für unsere Interpretation von der Arbeitshypothese aus, daß die doppelchörige Anlage der Matthäus-Passion mit der dialogischen Struktur einiger Sätze ihres Librettos zusammenhängt. Das sind diejenigen Sätze, die Picander der Tochter Zion und ihren Gläubigen in den Mund legt.” S.277.
27. Günter Jena, aaO. S.40f. “Eine gedankliche Zuordnung der Passionsgestalten zu den beiden musikalischen Ensembles ist also nicht zu erkennen und sicher nicht beabsichtigt.” S.41.
28. Groß, angemessen solchem Vogel, standen
Zwei Flügel unter jedem weit heraus,
Die wir den Segeln gleich, nur größer fanden,
Und federlos, wie die der Fledermaus.
Sie flatterten ohn’ Unterlaß und gossen
Drei Winde nach verschiedner Richtung aus.
Dadurch ward der Cocyt mit Eis verschlossen.
Sechs Augen waren nie von Thränen frei,
Die auf drei Kinn’ in blut’gem Geifer flossen.
Und einen armen Sünder malmt’ entzwei
Und kaute jeder Mund, daher zerbissen,
Flachsbrechen gleich, die scharfen Zähne ihrer drei.
Der vordre Mund schien sanft in seinen Bissen,
Verglichen mit den scharfen Klau’n, zu fein,
Die oft die Haut vom Fleisch des Sünders rissen.
Da sprach Virgil: „Sieh hier die größte Pein!
Ischarioths Kopf steckt zwischen scharfen Fängen,
Und außen zappelt er mit Arm und Bein.
Zwei Andre sieh den Kopf nach unten hängen; ...
Dante Alligheri, Die Göttliche Komödie, 195, 46-64.
29. Helmut Gollwitzer, Krummes Holz, aufrechter Gang, zur Frage nach dem Sinn des Lebens, München 1970, Kap. VIII.
30. Karl Barth, die kirchliche Dogmatik, Band IV/2, Zürich 1955, aaO. S.280.
31. Martin Hengel, Mors turpissima crucis, Die Kreuzigung in der antiken Welt und die “Torheit” des “Wortes vom Kreuz”, in: Rechtfertigung und Recht, Festschrift für Ernst Käsemann zum 70. Geburtstag, Hg. Von Johannes Friedrich, Wolfgang Pöhlmann, Peter Stuhlmacher, Tübingen /Göttingen 1976, S. 125-184. Der Film “Drei Tage im April” (Oliver Storz, Deutschland, 1994) erzählt von einem Transport von Zwangsarbeitern, der bei Kriegsende in einem schwäbischen Dorf abgestellt udn bewacht wird. Niemand ist zuständig für die Versorgung dieser Menschen. Letztlich unternimmt es die BDM-Führerin des Dorfes, sich um diese Menschen im Güterwagen zu kümmern. Ein vergebliches Unternehmen. Während dieser Zug gezeigt wird, erklingt die Arie “Erbarme dich, mein Gott” aus der Matthäuspassion. Besser kann man diese Situation gar nicht deuten als mit dieser Musik, die auf die Passion Christi verweist.
33. Mauricio Kagel , Worte über Musik, Gespräche, Reden, Aufsätze, Hörspiele, München 1991. S.195.
34. Christopher Hogwood, Georg Friedrich Händel, mit einer Zeittafel von Anthony Hicks, aus dem Englischen von Bettina Obrecht, Stuttgart, Weimar 1992. S.337-344.
35. So etwa der Umgang der offiziellen „Bach-Forschung“ in der DDR. Charakteristisch ist, was Werner Felix in seinem Bildband über Johann Sebastian Bach über die Matthäuspassion schreibt: „Der geistliche Stoff ist, wie wohl immer bei großen Werken religiöser Prägung, als ein menschliches oder gesellschaftliches Gleichnis zu verstehen: die Leiden des Jesus stehen für die Leiden der Menschheit und jeder Einzelne findet wenigstens einen Teil eigener Erfahrungen im Leiden und seiner notwendigen Überwindung in der Aussage des Werkes aufgehoben.“ Werner Felix, Johann Sebastian Bach, Leipzig 1984, S.140. Ähnlich auch Walter Siegmund-Schulze aaO. S.126. „Bach hat es in diesem Werke (der Matthäuspassion M.F.) vermocht, die Leiden, Leidenschaften, Sehnsüchte und Hoffnungen seiner Zeit auf ein menschenwürdiges Leben, ein Bild eines heroischen, für die Verbesserung des Zusammenlebens kämpfenden Menschen, einer für Gerechtigkeit und das Gute einstehenden Gesinnung in unerschöpflicher Größe und Mannigfaltigkeit zu zeichnen und zu kolorieren. Er hat damit ein Werk geschaffen, das zur Menschheitsgeschichte gehört wie Dantes „Göttliche Komödie“, wie Michelangelos Sixtinische Kapelle oder Goethes „Faust“.“ Und weiter heißt es S.128: „Das enge Verhältnis der Arbeiterklasse zu Bachs Kirchenmusik wurde erstmalig durch Karl Liebknechts Bekenntnis formuliert in einen Brief an seinen Sohn vom Jahre 1917 aus dem Zuchthaus Luckau: „Nichts Süßeres, Zarteres, Rührenderes und in den Volkszenen – nicht Großartigeres kennt die Musik.““ Vgl. Auch: Patrice Veith, Bach aaO. S.253ff. Ebenso: Wilfried Hoffmann, Johann Sebastian Bach, Chorsätze aus Kantaten, 2. Auflage, Leipzig 1986
36. Mauricio Kagel, Sankt Bach Passion (1985) in. Werner Klüppelholz, (Hg.) Kagel…/91, Köln 1991, S.388.
37. John Neumeier, Balett-Choreographie zur Matthäuspassion (Uraufführung am 25.6.1981, wiederaufgenommen zum deutschen Ev. Kirchentag 1995 in Hamburg.) Vgl. John Neumeier, Johann Sebastian Bach Matthäus-Passion, Photographien und Texte zum Ballett von John Neumeier, Hamburg 1983.
38. Brief an Erwin Rohde, 30. April 1870, KSB 3: 76
Domprediger Martin Filitz, Halle, März 2011
Vortrag von Martin Filitz zu Bachs Matthäus-Passion (2011).pdf